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PAPST FRANZISKUS

GENERALAUDIENZ

Bibliothek im Apostolischen Palast
Mittwoch, 5. Mai 2021

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Liebe Brüder und Schwestern,
guten Tag!


Wir setzen die Katechesen über das Gebet fort, und in dieser Katechese möchte ich über das kontemplative oder beschauliche Gebet sprechen.

Die kontemplative Dimension des Menschen – die noch nicht das kontemplative Gebet ist – ist ein wenig wie das »Salz« des Lebens: Sie gibt unseren Tagen Würze, verleiht ihnen Geschmack. Man kann am Morgen den Sonnenaufgang kontemplativ betrachten oder die Bäume, die im Frühjahr wieder ihr grünes Kleid anlegen; man kann kontemplativ Musik oder den Gesang der Vögel hören, ein Buch lesen, ein Kunstwerk betrachten oder jenes Meisterwerk, das das menschliche Gesicht ist... Als Carlo Maria Martini als Erzbischof nach Mailand gesandt wurde, gab er seinem ersten Hirtenbrief den Titel: »Die kontemplative Dimension des Lebens«. In der Tat: Wer in einer großen Stadt lebt, wo alles – so kann man sagen – künstlich ist, wo alles funktional ist, läuft Gefahr, die Fähigkeit zum Schauen zu verlieren. Schauen ist nicht so sehr ein Tun, sondern ein Sein: kontemplativ sein.

Kontemplativ sein hängt nicht von den Augen, sondern vom Herzen ab. Und hier kommt das Gebet ins Spiel, als Akt des Glaubens und der Liebe, als »Atem« unserer Beziehung zu Gott. Das Gebet läutert das Herz und erhellt damit auch den Blick, indem es gestattet, die Wirklichkeit von einem anderen Gesichtspunkt her zu begreifen. Der Katechismus beschreibt diese Wandlung des Herzens durch das Gebet, indem er ein berühmtes Zeugnis des heiligen Pfarrers von Ars zitiert: »Die ›Beschauung‹ [Kontemplation] ist gläubiges Hinschauen auf Jesus. ›Ich schaue ihn an, und er schaut mich an‹, sagte ein Bauer von Ars, der vor dem Tabernakel betete, zu seinem heiligen Pfarrer. [...] Das Licht seines Antlitzes erleuchtet die Augen unseres Herzens und lässt uns alles im Licht seiner Wahrheit und seines Mitleids mit allen Menschen sehen« (Katechismus der Katholischen Kirche, 2715). Alles entsteht dort: aus einem Herzen, das sich liebevoll angeschaut fühlt. Dann wird die Wirklichkeit mit anderen Augen betrachtet.

»Ich schaue ihn an, und er schaut mich an!« Es ist so: Im liebevollen Schauen, das bezeichnend ist für das innigste Gebet, braucht man nicht viele Worte: Es genügt ein Blick, es genügt die Überzeugung, dass unser Leben umgeben ist von einer großen und treuen Liebe, von der uns nichts jemals trennen kann.

Jesus war ein Meister dieses Blicks. In seinem Leben hat es nie an Zeiten, Räumen, Augenblicken der Stille, liebevoller Gemeinschaft gefehlt, die es dem Dasein gestattet, nicht erschüttert zu sein von den unvermeidlichen Prüfungen, sondern die Schönheit intakt zu bewahren. Sein Geheimnis war die Beziehung zum himmlischen Vater. Denken wir an das Ereignis der Verklärung. Die Evangelien verorten diese Episode in dem kritischen Moment der Sendung Jesu, als um ihn herum Widerspruch und Ablehnung wachsen. Sogar unter seinen Jüngern verstehen ihn viele nicht und gehen weg; einer der Zwölf hegt Verratsgedanken. Jesus beginnt, offen vom Leiden und vom Tod zu sprechen, die ihn in Jerusalem erwarten. In diesem Zusammenhang steigt Jesus mit Petrus, Jakobus und Johannes auf einen hohen Berg. Im Evangelium nach Markus heißt es: »Er wurde vor ihnen verwandelt; seine Kleider wurden strahlend weiß, so weiß, wie sie auf Erden kein Bleicher machen kann« (9,2-3). Gerade in dem Augenblick, in dem Jesus unverstanden ist – sie gingen weg, sie ließen ihn allein, weil sie ihn nicht verstanden –, in diesem Augenblick, in dem er unverstanden ist, gerade als alles sich in einem Strudel von Unverständnis zu verdunkeln scheint, leuchtet dort wieder ein göttliches Licht. Es ist das Licht der Liebe des Vaters, das das Herz des Sohnes erfüllt und seine ganze Person verklärt.

Einige spirituelle Meister der Vergangenheit haben die Kontemplation als Gegensatz zur Aktion verstanden und jene Berufungen verherrlicht, die aus der Welt und vor ihren Problemen fliehen, um sich ganz und gar dem Gebet zu widmen. In Wirklichkeit gibt es in Jesus Christus, in seiner Person und im Evangelium keinen Gegensatz zwischen Kontemplation und Aktion, nein. Im Evangelium gibt es in Jesus keinen Widerspruch. Er ist vielleicht aus dem Einfluss irgendeines neuplatonischen Philosophen gekommen, aber mit Sicherheit handelt es sich um einen Dualismus, der nicht zur christlichen Botschaft gehört.

Im Evangelium gibt es einen einzigen großen Ruf: den Ruf, Jesus auf dem Weg der Liebe nachzufolgen. Das ist der Höhepunkt, es ist der Mittelpunkt des Ganzen. In diesem Sinne sind Liebe und Kontemplation Synonyme, sie bedeuten dasselbe. Der heilige Johannes vom Kreuz sagte, dass ein kleiner Akt reiner Liebe für die Kirche nützlicher sei als alle anderen Werke zusammen. Was aus dem Gebet und nicht aus der Anmaßung unseres Ichs entsteht, was durch die Demut geläutert wird, ist – auch wenn es ein verborgener und stiller Akt der Liebe ist – das größte Wunder, das ein Christ vollbringen kann. Und das ist der Weg des kontemplativen Gebets: Ich schaue ihn an, er schaut mich an! Dieser Akt der Liebe im stillen Dialog mit Jesus tut der Kirche sehr gut.

 

APPELL

 

Angeleitet aus den Heiligtümern überall in der Welt beten wir jetzt im Mai den Rosenkranz, um das Ende der Pandemie und die Wiederaufnahme der gesellschaftlichen Aktivitäten und der Arbeitstätigkeit zu erbitten. Heute leitet das Heiligtum Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz in Namyang, in Südkorea, dieses Mariengebet. Wir schließen uns jenen an, die in diesem Heiligtum versammelt sind, und beten insbesondere für die Kinder und Jugendlichen.

* * *

Von Herzen grüße ich die Brüder und Schwestern deutscher Sprache. Das Gebet ist keine Tätigkeit, die man nur in Mußestunden, sondern auch während unseres Alltags wie der Atem unserer lebendigen Beziehung zu Gott zu verrichten hat. Lassen wir uns im Monat Mai besonders von Maria im Rosenkranzgebet zu diesem Dialog mit Gott leiten.

 



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