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ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN EINE DELEGATION DER INTERNATIONALEN KOMMISSION
GEGEN DIE TODESSTRAFE

Montag, 17. Dezember 2018

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Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich begrüße Sie alle sehr herzlich und möchte Ihnen meinen persönlichen Dank zum Ausdruck bringen für die Arbeit der Internationalen Kommission gegen die Todesstrafe, die sich für die weltweite Abschaffung dieser grausamen Form der Strafe einsetzt. Ich danke auch für das Engagement, das Sie alle in Ihren jeweiligen Ländern für dieses Anliegen gezeigt haben. Am 20. März 2015 habe ich ein Schreiben an Ihren damaligen Präsidenten gerichtet, und ich habe in meiner Ansprache vor dem Kongress der Vereinigten Staaten am 24. September 2015 das Bemühen der Kirche in Bezug auf die Abschaffung der Todesstrafe deutlich gemacht.

Einige Gedanken zu diesem Thema habe ich in meinem Schreiben an die Internationale Strafrechtsgesellschaft und an den Lateinamerikanischen Verband für Strafrecht und Kriminologie vom 30. Mai 2014 geäußert. Ich habe sie vertieft in meiner Ansprache vom 23. Oktober 2014 an eine Delegation der fünf großen Weltverbände, die sich dem Studium des Strafrechts, der Kriminologie, der Viktimologie und der Strafvollzugsfragen widmen. Die feste Überzeugung, dass jedes Leben heilig ist und dass die Würde des Menschen ohne Ausnahme gewahrt werden muss, hat mich seit meinem Amtsantritt veranlasst, mich auf verschiedenen Ebenen für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe einzusetzen.

All das hat kürzlich einen Niederschlag gefunden in der Neuen Formulierung der Nr. 2267 des Katechismus der Katholischen Kirche, die jetzt den Fortschritt der Lehre unter den letzten Päpsten ebenso zum Ausdruck bringt wie das veränderte Bewusstsein des christlichen Volkes, das eine Strafe ablehnt, die die Würde des Menschen schwer verletzt (vgl. Ansprache zum 25. Jahrestag der Veröffentlichung des Katechismus der Katholischen Kirche, 11. Oktober 2017): eine Strafe, die im Gegensatz zum Evangelium steht, weil sie bedeutet, ein Leben auszulöschen, das in den Augen des Schöpfers stets heilig ist und dessen wahrer Richter und Garant Gott allein ist (vgl. Schreiben an den Präsidenten der Internationalen Kommission gegen die Todesstrafe, 20. März 2015).

In den vergangenen Jahrhunderten, als die Mittel zum Schutz der Gesellschaft, über die wir heute verfügen, noch fehlten und das gegenwärtige Niveau der Entwicklung der Menschenrechte noch nicht erreicht war, erschien der Rückgriff auf die Todesstrafe in einigen Fällen als logische und gerechte Konsequenz. Selbst im Kirchenstaat wurde auf diese unmenschliche Form der Strafe zurückgegriffen, unter Nichtbeachtung des Vorrangs der Barmherzigkeit vor der Gerechtigkeit. Daher verlangt die neue Formulierung des Katechismus, dass wir auch unsere Verantwortung für die Vergangenheit übernehmen und anerkennen, dass die Akzeptanz dieser Art von Strafe die Folge der damaligen mehr legalistischen als christlichen Denkweise war, die die Geltung von Gesetzen sakralisierte, denen es an Menschlichkeit und Barmherzigkeit mangelte. Angesichts der gegenwärtigen Notwendigkeit, die Würde der Person wieder zu bekräftigen, konnte die Kirche nicht in einer neutralen Position verharren.

Die Reform des Katechismustextes in dem Punkt, der der Todesstrafe gewidmet ist, enthält keinerlei Widerspruch zur Lehre der Vergangenheit, denn die Kirche hat die Würde des menschlichen Lebens stets verteidigt. Dennoch erfordert die harmonische Entwicklung der Lehre, im Katechismus die Tatsache widerzuspiegeln, dass die Kirche, unbeschadet der Schwere des begangenen Verbrechens, im Licht des Evangeliums lehrt, dass die Todesstrafe immer unzulässig ist, weil sie die Unantastbarkeit der Würde der Person verletzt. Ebenso sagt das Lehramt der Kirche, dass Verurteilungen zu lebenslanger Haft, die die Möglichkeit einer moralischen und existentiellen Besserung für den Verurteilten und für die Gemeinschaft negieren, eine verborgene Form der Todesstrafe sind (vgl. Ansprache an die Internationale Strafrechtsgesellschaft, 23. Oktober 2014). Gott ist ein Vater, der immer auf die Rückkehr seines Sohnes wartet, auf dass dieser, im Wissen, einen Fehler begangen zu haben, um Vergebung bittet und ein neues Leben beginnt. Niemandem darf man daher das Leben nehmen und auch nicht die Hoffnung auf seine Besserung und Versöhnung mit der Gemeinschaft. Wie es innerhalb der Kirche geschehen ist, so muss auch im Konzert der Nationen eine ähnliche Verpflichtung übernommen werden. Das souveräne Recht aller Länder, die eigene Rechtsordnung zu definieren, darf nicht im Widerspruch zu den Pflichten ausgeübt werden, die ihnen kraft des internationalen Rechts zukommen, und darf auch kein Hindernis bei der weltweiten Anerkennung der Würde des Menschen darstellen.

Die Resolutionen der Organisation der Vereinten Nationen über ein Moratorium in Bezug auf die Anwendung der Todesstrafe, die zum Ziel haben, in den Mitgliedstaaten die Anwendung der Todesstrafe auszusetzen, sind ein Weg, der beschritten werden muss, ohne dass dies bedeuten würde, die Initiative zur weltweiten Abschaffung aufzugeben. Bei dieser Gelegenheit möchte ich alle Staaten, die die Todesstrafe nicht abgeschafft haben, sie jedoch nicht ausführen, einladen, dieser internationalen Verpflichtung auch weiterhin nachzukommen und dafür zu sorgen, dass das Moratorium nicht nur auf die Ausführung, sondern auch auf die Verhängung der Todesstrafe angewandt wird. Das Moratorium darf vom Verurteilten nicht als reine Verlängerung der Wartezeit auf seine Hinrichtung erlebt werden.

Ich bitte die Staaten, die die Todesstrafe auch weiterhin anwenden, ein Moratorium im Hinblick auf die Abschaffung dieser grausamen Form der Strafe einzuführen. Ich verstehe, dass, um zur Abschaffung zu gelangen, die Ziel dieses Prozesses ist, in bestimmten Zusammenhängen komplexe politische Prozesse notwendig sind. Die Aussetzung der Hinrichtungen und die Reduzierung der mit der Todesstrafe belegten Verbrechen sind – ebenso wie das Verbot dieser Form der Strafe für Minderjährige, schwangere Frauen oder Menschen mit geistiger Behinderung – Mindestziele, für die die Verantwortungsträger in aller Welt sich einsetzen müssen. Wie ich es bereits bei anderen Gelegenheiten getan habe, möchte ich erneut die Aufmerksamkeit auf die außergerichtlichen, ohne Prozess erfolgten oder willkürlichen Hinrichtungen lenken, die leider ein immer wiederkehrendes Phänomen in Ländern mit oder ohne legale Todesstrafe sind. Es handelt sich um vorsätzliche Morde, die von staatlichen Handlungsträgern begangen werden, die sie oft als Resultat von gewaltsamen Auseinandersetzungen mit angeblichen Verbrechern erscheinen lassen; oder sie werden als ungewollte Folge des vernünftigen, notwendigen und verhältnismäßigen Gebrauchs der Gewalt zum Schutz der Bürger präsentiert.

Die Liebe zu sich selbst ist ein Grundprinzip der Sittenlehre. Es ist daher rechtmäßig, das eigene Recht auf Leben geltend zu machen, auch dann, wenn man gezwungen ist, dem Angreifer einen tödlichen Schlag zu versetzen (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2264). Die Notwehr ist kein Recht, sondern eine Pflicht für den, der für das Leben anderer verantwortlich ist (vgl. ebd., 2265). Der Schutz des Gemeinwohls verlangt es, auf den Angreifer so einzuwirken, dass er keinen Schaden zufügen kann.

Aus diesem Grund müssen alle, die rechtmäßige Autorität haben, jeden Angriff zurückweisen, auch unter Einsatz von Waffen, wenn es zum Schutz des eigenen Lebens oder des Lebens der ihrer Obhut anvertrauten Menschen notwendig ist. Folglich muss jeder Gebrauch tödlicher Gewalt, der zu diesem Ziel nicht unbedingt notwendig ist, als illegale Hinrichtung, also als Staatsverbrechen, verstanden werden. Jede Verteidigung muss, um rechtmäßig zu sein, notwendig und maßvoll sein. Thomas von Aquin lehrte: »Dies trägt nicht den Charakter des Unerlaubten, da es jedem natürlich ist, sein eigenes Sein so lange als möglich zu erhalten. Nun kann allerdings dieser Akt der Selbstverteidigung unerlaubt werden, wenn das Maß überschritten wird und man mehr Gewalt gebraucht als zur Abwehr erforderlich ist. Steht aber, was man zur Abwehr tut, im richtigen Verhältnis zum Zweck, so ist es erlaubt, Gewalt mit Gewalt zurückzuweisen im Rahmen einer nicht schuldhaften Verteidigung « (Summa theologiae II-II, q. 64, Art. 7).

Abschließend möchte ich mit Ihnen eine Überlegung teilen, die mit Ihrer Arbeit verbunden ist, mit Ihrem Kampf für eine wirklich humane Justiz. Die Reflexionen im Bereich des Rechts und der Rechtsphilosophie haben sich traditionell mit jenen befasst, die die Rechte anderer verletzen oder in sie eingreifen. Weniger Aufmerksamkeit geweckt hat die Unterlassung, den anderen zu helfen, wenn wir es tun können. Es ist eine Reflexion, die nicht länger warten kann.

Die traditionellen Rechtsprinzipien, die von der Idee der Achtung der Rechte des Individuums und ihres Schutzes vor jeder Einmischung von Seiten anderer geprägt sind, müssen durch eine Ethik der Fürsorge ergänzt werden. Im Bereich des Strafrechts bedeutet dies ein besseres Verständnis der Ursachen von Verhaltensformen, des sozialen Umfelds, der Schwächen jener, die das Gesetz brechen, sowie des Leidens der Opfer. Diese Art zu argumentieren, die von der göttlichen Barmherzigkeit inspiriert ist, muss uns dahin führen, jeden konkreten Fall in seiner Besonderheit zu betrachten und uns nicht von abstrakten Zahlen von Opfern und Tätern leiten zu lassen. Auf diese Weise ist es möglich, sich den ethischen und moralischen Problemen zu stellen, die aus Konflikten und sozialer Ungerechtigkeit kommen, den Schmerz der konkreten betroffenen Menschen zu verstehen und zu einer anderen Form der Lösung zu gelangen, die dieses Leiden nicht noch vertieft.

Wir könnten es mit diesem Bild sagen: Wir brauchen eine Justiz, die nicht nur Vater, sondern auch Mutter ist. Die Gesten gegenseitiger Fürsorge, die der Liebe zu eigen sind, die auch bürgerlich und politisch ist, zeigen sich in all jenem Handeln, das darauf ausgerichtet ist, eine bessere Welt aufzubauen (vgl. Enzyklika Laudato si, 231). Die Liebe zur Gesellschaft und der Einsatz für das Gemeinwohl sind eine hervorragende Form der Nächstenliebe: nicht nur der Beziehungen zwischen den Individuen, sondern »auch der Makro-Beziehungen – in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen« (Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate, 2). Die soziale Liebe ist der Schlüssel für eine echte Entwicklung: »Um die Gesellschaft menschlicher, der menschlichen Person würdiger zu machen, muss die Liebe im sozialen Leben – auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene – neu bewertet und zur beständigen und obersten Norm des Handelns erhoben werden« (Kompendium der Soziallehre der Kirche, 582).

In diesem Zusammenhang drängt uns die soziale Liebe, an umfassende Strategien zu denken, die eine Kultur der Fürsorge in den verschiedenen Bereichen des Zusammenlebens ermutigen. Ihre Arbeit ist Teil dieser Bemühungen, zu denen wir aufgerufen sind. Liebe Freunde, ich danke Ihnen erneut für diese Begegnung, und ich versichere Ihnen, dass ich mich auch weiterhin zusammen mit Ihnen für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzen werde. Die Kirche hat sich dazu verpflichtet, und ich wünsche, dass der Heilige Stuhl mit der Internationalen Kommission gegen die Todesstrafe zusammenarbeitet zur Herstellung des notwendigen Konsenses für die Ausmerzung der Todesstrafe sowie jeder grausamen Form der Strafe. Es ist ein Anliegen, zu dem alle Männer und Frauen guten Willens aufgerufen sind, und eine Pflicht für uns, die wir die christliche Berufung miteinander teilen, die der Taufe entspringt. Alle brauchen wir, in jedem Fall, die Hilfe Gottes, der der Quell aller Vernunft und Gerechtigkeit ist. Ich rufe daher auf einen jeden von Ihnen, durch die Fürsprache der Jungfrau Maria, das Licht und die Kraft des Heiligen Geistes herab. Ich segne Sie von Herzen und bitte Sie, für mich zu beten.

 



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