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JOHANNES PAUL II.

GENERALAUDIENZ

Mittwoch, 10. Januar 200
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1. Die Stimme der Propheten – so etwa die des Jesaja, die wir soeben gehört haben – ist wiederholt erklungen, um uns daran zu erinnern, daß wir uns für die Befreiung der Unterdrückten und die Schaffung von Gerechtigkeit einsetzen müssen. Wenn ein solcher Einsatz fehlt, ist die Verehrung, die Gott dargebracht wird, ihm nicht wohlgefällig. Dieser kraftvolle Aufruf kommt zuweilen sogar in paradoxen Formulierungen zum Ausdruck, wie etwa bei Hosea, der von folgender –auch von Jesus zitierter –Weissagung (vgl. Mt 9,13; 12,7) berichtet: »Liebe will ich, nicht Schlachtopfer, Gotteserkenntnis statt Brandopfer« (6,6).  

Auch der Prophet Amos stellt mit pointierter Eindrücklichkeit Gott dar, der seinen Blick anderswohin wendet und weder Riten noch Feste, Fasttage, Musik oder Flehen annimmt, wenn außerhalb des Heiligtums der Unschuldige für Geld und der Arme für ein Paar Sandalen verkauft wird und die Kleinen in den Staub getreten werden (vgl. 2,6 –7). Daher folgt ohne Zögern die Aufforderung: »Das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach « (5,24). Die Propheten, die im Namen Gottes sprechen, richten sich also gegen einen vom Leben abgetrennten Kult, gegen eine von der Gerechtigkeit abgespaltene Liturgie, gegen ein vom alltäglichen Einsatz abgetrenntes Gebet, gegen einen Glauben ohne Werke.  

2. Der Ruf Jesajas: »Hört auf, vor meinen Augen Böses zu tun! Lernt, Gutes zu tun! Sorgt für das Recht! Helft den Unterdrückten! Verschafft den Waisen Recht, tretet ein für die Witwen!« (1,16 –17), hallt in den Lehren Christi wider, der uns ermahnt: »Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe« (Mt 5,23 –24). Am Ende des Lebens eines jeden Menschen und am Ende der Menschheitsgeschichte wird Gott uns nach unserer Liebe richten, nach der Ausübung der Gerechtigkeit und der Aufnahme der Armen (vgl. Mt 25,31 –46). Angesichts einer von Spaltungen und Ungerechtigkeit zerrissenen Gemeinschaft wie der Gemeinde von Korinth geht Paulus soweit,  eine Unterbrechung der Teilnahme an der Eucharistie zu fordern, und er lädt die Christen ein, zuerst ihr Gewissen zu prüfen, um sich nicht am Leib und am Blut des Herrn schuldig zu machen (vgl.1 Kor 11,27 –29). 

3. Der Dienst der Nächstenliebe, konsequent mit dem Glauben und der Liturgie verknüpft (vgl. Jak 2,14 –17), der Einsatz für die Gerechtigkeit, der Kampf gegen jede Art von Unterdrückung, der Schutz der Würde der Person sind für den Christen nicht bloßer Ausdruck einer in der Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie gründenden Philanthropie. Es handelt sich vielmehr um Entscheidungen und Handlungen mit einer tief religiösen Seele, es sind echte Opfer, an denen Gott – gemäß den Worten des Hebräerbriefes – Wohlgefallen hat (vgl.13,16). Die Ermahnung des hl. Johannes Chrysostomus ist besonders einprägsam: »Willst du also Christi Leib ehren? Geh nicht an ihm vorüber, wenn du ihn nackt siehst; ehre ihn nicht hier (in der Kirche) mit seidenen Gewändern, während du dich draußen auf der Straße nicht um ihn kümmerst, wo er vor Kälte und Blöße zugrunde geht!« (In Matthaeum hom. 50,3; aus: Bibliothek der Kirchenväter, Band 26, Kempten/München, 1916, S. 107).  

4. »In der heutigen Welt [ist] wieder ein Sinn für Gerechtigkeit erwacht [...]; er ist weit verbreitet« (Dives in misericordia,12). Gerade deshalb teilt die Kirche »mit den Menschen unserer Zeit diesen tiefen, brennenden Wunsch nach einem in jeder Hinsicht gerechten Leben und versäumt es nicht, die verschiedenen Aspekte der Gerechtigkeit, wie sie das Leben der Menschen und der Gesellschaftsgruppen fordert, zu durchdenken. Das bestätigt der Bereich der katholischen Soziallehre, die sich im Lauf der letzten hundert Jahre machtvoll entwickelt hat« (ebd.). Diese Bemühungen des Denkens und Tuns müssen gerade vom Jubiläumsjahr ausgehend einen kräftigen Impuls erhalten. In seiner biblischen Grundlegung war es eine Feier der Solidarität: Wenn das Horn des Jubeljahres ertönte, kehrte ein jeder »zu seinem Grundbesitz« und »zu seiner Sippe« zurück, wie der offizielle Text zum Jubeljahr erklärt (Lev 25,10).  

5. Zunächst wurden die aufgrund verschiedener wirtschaftlicher und familiärer Gegebenheiten enteigneten Grundstücke den ursprünglichen Besitzern zurückgegeben. Mit dem Jubeljahr wurde es also allen ermöglicht, durch kühne und mutige Werke der Gerechtigkeit und des Teilens zu einem ideellen Ausgangspunkt zurückzukehren. Unübersehbar ist hierbei eine Dimension, die wir als »utopisch« bezeichnen könnten; sie wird vorgeschlagen als konkrete Maßnahme gegen die Festigung von Privilegien und Machtmißbrauch. Es handelt sich um den Versuch, die Gesellschaft zu einem höheren Ideal der Solidarität, Selbstlosigkeit und Brüderlichkeit anzuspornen. Unter den heutigen geschichtlichen Umständen könnte die Rückkehr zum verlorenen Grundbesitz in Form einer vollkommenen Streichung oder zumindest eines Erlasses der internationalen Schulden der armen Länder geschehen, wie ich schon mehrmals vorgeschlagen habe (vgl. Tertio millennio adveniente, 51). 

6. Eine weitere Verpflichtung des Jubeljahrs bestand darin, einen Sklaven als freien Menschen zu seiner Sippe zurückkehren zu lassen (vgl. Lev 25,39 – 41). Das Elend hatte ihn in die demütigende Sklaverei getrieben, jetzt tat sich vor ihm die Möglichkeit auf, seine Zukunft in Freiheit und im Kreise seiner Familie aufzubauen. Aus diesem Grund nennt der Prophet Ezechiel das Jubeljahr ein »Erlaßjahr«, also ein Jahr der Befreiung (vgl. Ez 46,17). Und ein anderes Buch der Bibel, das Deuteronomium, fordert mit folgenden Worten eine gerechte, freie und solidarische Gesellschaft: »Eigentlich sollte es bei dir gar keine Armen geben [...] Wenn bei dir ein Armer lebt [...] dann sollst du nicht hartherzig sein und sollst deinem armen Bruder deine Hand nicht verschließen« (15,4.7).

Nach diesem Ziel der Solidarität müssen auch wir streben: »Solidarität der Armen untereinander, Solidarität mit den Armen, zu der die Reichen aufgerufen sind, Solidarität der Arbeiter und mit den Arbeitern« (Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über Christliche Freiheit und Befreiung, 89). Wenn das vor kurzem beendete Heilige Jahr auf diese Art und Weise gelebt wird, wird es auch in Zukunft reiche Früchte der Gerechtigkeit, der Freiheit und der Liebe bringen.  


Liebe Schwestern und Brüder!

Das Große Jubiläum liegt hinter uns. Doch der Auftrag, den das Heilige Jahr uns stellt, bleibt für die Zukunft.

Wenn wir die biblischen Wurzeln des Jubeljahres betrachten, stoßen wir auf eine Botschaft, die aktueller ist denn je: Als das Signalhorn ertönte, sollte jeder zu seinem Grundbesitz zurückkehren und zu seiner Familie. So war das Jubeljahr schon immer eine Feier der Solidarität.

Die Menschen sind aufgerufen, die Solidarität in einer Weise zu leben, die fast utopisch anmutet. Sie sollten zu den ursprünglichen Besitzverhältnissen zurückkehren und dadurch einen neuen Anfang setzen. Unter modernen Vorzeichen wird dieser Aufruf zur Solidarität dann konkret, wenn die reichen Länder den Armen ihre Schulden ganz erlassen oder wenigstens reduzieren.

Das Große Jubiläum muß über das Jahr 2000 hinauswirken. Ich hoffe, daß es weiterhin reiche Früchte bringt an Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe.

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Ich begrüße die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Eure Anwesenheit zeigt mir, daß ihr euren Lebensweg auch in Zukunft als Wallfahrt zum Herrn betrachtet. Werdet nicht müde, euch für Gerechtigkeit und Frieden in eurer Umgebung einzusetzen. Dazu erteile ich euch von Herzen den Apostolischen Segen.

                    



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