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APOSTOLISCHE REISE IN DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

PREDIGT VON JOHANNES PAUL II.

Dom zu Speyer - Sonntag, 4. Mai 1987

 

”Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!“ (Phil 1, 2). Mit diesem Segenswunsch des Apostels Paulus grüße ich euch alle von Herzen, woher auch immer ihr vor diesem gewaltigen europäischen Dom hier in Speyer zusammengekommen seid: Laienchristen und Ordensleute, Priester und Diakone, Bischöfe und Kardinäle. Mein brüderlicher Gruß gilt in besonderer Weise dem gastgebenden Oberhirten dieser Diözese, Bischof Anton Schlembach; herzlich grüße ich auch die Gäste aus den Nachbardiözesen diesseits und jenseits der Landesgrenzen, die Repräsentanten aus Staat und Gesellschaft sowie aus der Stadt Speyer. Mit besonderer Wertschätzung grüße ich schließlich die verehrten Vertreter der christlichen Bruderkirchen. Wir sind hier versammelt, um Gott die Ehre zu geben, um unsere Gemeinschaft mit der weltweiten Kirche Jesu Christi zu bekunden und uns in Glaube, Hoffnung und Liebe gegenseitig zu bestärken und zu erneuern.

Liebe Brüder und Schwestern!

1. ”Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!“ (Apg 16, 9). Diese Worte der heutigen ersten Lesung hörte der Apostel Paulus in einer Vision auf einer Missionsreise an der Küste Kleinasiens, gegenüber der griechischen Provinz Mazedonien. Jenseits der Meeresenge lag Europa, das der Völkerapostel bisher noch nie betreten hatte. Und nun dieser Ruf: Paulus, komm herüber nach Europa und hilf uns; verkünde uns die Wahrheit über Gott und den Menschen!

Paulus und seine Gefährten erkannten in diesen Ereignissen die Führung des Heiligen Geistes; er selbst sagt es uns: ”Auf diese Vision hin wollten wir sofort nach Mazedonien abfahren; denn wir waren überzeugt, daß Gott uns dazu berufen hatte, dort das Evangelium zu verkünden“ (ebd. 16, 10). So haben die Füße des Apostels zum erstenmal europäischen Boden, diesen unseren Kontinent, betreten. An jener Stelle in Nordgriechenland hat die Evangelisierung Europas begonnen.

2. Worüber mag der Völkerapostel zu unseren fernen Vorfahren vor fast zweitausend Jahren gesprochen haben? Ganz gewiß auch über das Goldene Gesetz der Bergpredigt, die acht Seligpreisungen, wie sie uns soeben im Evangelium verkündet worden sind: ”Selig, die arm sind vor Gott - Selig, die Barmherzigen - die ein reines Herz haben - die Frieden stiften. - Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden“ (Mt 5, 1-12).

Vor allem aber hat Paulus auf denjenigen hingewiesen, der diese Seligpreisungen verkündet und mit seinem eigenen Leben bezeugt hat und sich für ihre Erfüllung hat kreuzigen lassen: unser Herr Jesus Christus, ”der lebendige Stein“ . . ., von Gott auserwählt und geehrt, wie es heute in der zweiten Lesung heißt. Er ist der ”Eckstein“, der denjenigen nicht zugrunde gehen läßt, der ihm glaubt (1 Pt 2, 4-8).

3. So hat die Frohe Botschaft der Bergpredigt, von Gott besiegelt durch den Tod und die Auferstehung Christi, die Grenzen Europas überschritten. Zugleich begann Paulus damals, diesem ”Eckstein“ auf dem neuen Kontinent weitere ”lebendige Steine“ durch neue Gläubige hinzuzufügen zu einem ”geistigen Haus“, der Kirche Jesu Christi.

Dieser hat sein Leben am Kreuz und sakramental schon im Abendmahlssaal zur Sühne für die Schuld der Welt dem Vater dargeboten; so ist er zum Hohenpriester des Neuen Bundes geworden. Seinem erlösenden Opfer dürfen sich nun alle anschließen, die Gottes Barmherzigkeit aus der Dunkelheit in das Licht seiner Gnade und Wahrheit gerufen hat. Deshalb zögert der erste Petrusbrief nicht, alle Jünger Christi ”eine heilige Priesterschaft“ zu nennen, die - eingefügt in das eine Opfer Jesu Christi - nun auch selbst imstande sind, ”geistige Opfer darzubringen, die Gott gefallen“ (ebd. 2, 5).

Der ”Eckstein“ Jesus Christus, seine Jünger als die ”lebendigen Stein“ des geistigen Hauses der Kirche, der Heilige Geist mit seiner steten unsichtbaren Führung: Das sind die Grundkräfte, die das Reich Gottes im Leben der Menschen und der Völker im Verlauf der Geschichte heranreifen lassen.

4. Die grundlegenden Wahrheiten über die Ausbreitung der Frohen Botschaft, die uns die heutige festliche Liturgie aus der Heiligen Schrift vor Augen stellt, lassen uns an jenen langen geschichtlichen Weg zurückdenken, den diese Botschaft seit der Zeit der Apostel Petrus und Paulus unter den Völkern Europas bis zu uns heute zurückgelegt hat.

Die Evangelisierung Europas im ersten Jahrtausend nach Christi Geburt ging von zwei ehrwürdigen Zentren aus: von Rom und von Konstantinopel. Von Rom aus gelangte die Frohe Botschaft Christi durch beauftragte Missionare wie auch durch missionarisch gesinnte Laien - Soldaten, Kaufleute, Politiker - nach den Wirren der großen germanischen Völkerwanderung vor allem zu den Franken im Westen und zu den Angelsachsen im Norden und besonders früh auch schon in dieses Rheintal. Wie ihr wißt, stammt die erste gesicherte Nachricht über einen Bischofssitz hier in Speyer aus dem Jahre 614. Wenige Jahrzehnte später wird eine erste Domkirche urkundlich bezeugt.

Die nächsten Jahrhunderte erleben vor allem die Ausbreitung des Evangeliums bei den verschiedenen Slawenvölkern. Sie erfolgt zugleich von Rom und von Konstantinopel aus. In diesem Zusammenhang erinnere ich besonders an die Taufe des hl. Wladimir, des Großfürsten von Kiew, im Jahre 988, deren Tausendjahrfeier wir im nächsten Jahr zusammen mit den orthodoxen Brüdern und Schwestern in dankbarem Gebet und Lobpreis begehen wollen. Jene Taufe bedeutete den Anfang des Christentums in der Gegend des damaligen ”Rus“-Reiches, im Bereich des heutigen Rußlands.

Den vorläufigen Abschluß der Christianisierung Europas bildet wohl die Taufe des Großfürsten Jagiello von Litauen im Nordosten Europas und seine Verbindung mit dem damaligen polnischen Reich. Das war im Jahre 1387, so daß wir gegenwärtig in tiefer geistiger Einheit mit den Christen Litauens die 600 Jahrfeier dieser Bekehrung begehen.

Hier in Speyer hatte unterdessen Kaiser Konrad II. aus dem berühmten Geschlecht der Salier um das Jahr 1030 den Grundstein zu diesem mächtigen romanischen Dom gelegt, der dann im Jahre 1061 seine kirchliche Weihe empfing. Von da an begleitet dieses eindrucksvolle Meisterwerk mittelalterlicher Architektur die weitere Geschichte Speyers, Deutschlands und Europas.

5. Der Dom zu Speyer, einmal das größte Gotteshaus des christlichen Abendlandes, ist wie kaum ein anderes Bauwerk Europas mit der Geschichte dieses Kontinents verwachsen. In den mehr als neunhundert Jahren seines Bestehens hat er die großen Zeiten einer gemeinsamen Kultur Europas im Bereich des Glaubens, der Wissenschaft und der Kunst miterlebt. Et hat aber auch Zeiten endloser Kriege mit ihren Zerstörungen, Zeiten der Zerrissenheit Europas miterlitten. So ist dieser Dom ein Zeuge der Größe des christlichen Europas und zugleich Zeuge seines selbstverschuldeten Niedergangs. Das reiche menschliche und geistliche Erbe, das er in sich birgt, verkündet er noch immer als mahnende Botschaft an uns Europäer von heute und von morgen. Nur wenn wir unsere wahrhaft große christliche Aufgaben erschließen, kann es gelingen, als geistig geeintes Europa der Welt eine befreiende Botschaft anzubieten, die den Menschen und Völkern die Zukunft erstrebenswert machen kann und ihnen hilft, sie menschenwürdig zu gestalten und ihre Prüfungen zu bestehen. - Welche Bausteine bietet uns dafür das Vermächtnis dieser Domkirche?

6. Aus dem Erbe des Domes erschallt vor allem der Ruf nach einer neuen Transzendenz des europäischen Geisteslebens, nach einer neuen Verankerung des menschlichen Herzens und Verstandes in jenem höchsten Wesen und Urgrund, den wir Gott nennen und den wir Christen als unseren liebenden Vater und gerechten Richter anbeten dürfen. Die kostbare Krone der salischen Kaiser, die dieses Gotteshaus im wesentlichen erbauten, schmückt ein Bildnis Christi, des Weltenrichters, mit der Inschrift: ”Per me reges regnant“ - ”Durch mich - euren Herrn und Gott - regieren die Könige“. Diese Herrscher wußten noch, daß sie ihre Vollmacht über andere Menschen nicht aus sich selbst hatten, sondern daß diese ihnen letztlich von Gott anvertraut war. Für ihr Leben und ihre Regierung schuldeten sie ihm Rechenschaft.

Absolutistische Herrscher der Neuzeit beanspruchten hingegen eine Regierungsgewalt, die von Gott völlig losgelöst war und einzig ihrem eigenen Machtwillen entsprang. Echte oder vermeintliche Demokratien unserer Gegenwart leiten die Vollmacht ihrer gewählten Regierungen vor allem aus der Volkssouveränität ab. Dennoch binden zahlreiche von ihnen die Ausübung der Staatsgewalt sowie die Gestaltung des öffentlichen Lebens darüber hinaus - wenigstens dem Buchstaben nach - an eine Reihe von Grundwerten und Grundrechten, die sie in ihre Verfassungen aufnehmen. Oft wird in diesem Zusammenhang auch die Verantwortung vor Gott und seinen grundlegenden Geboten noch ausdrücklich genannt. Solche Beteuerungen haben jedoch nur Wert, wenn sie nicht toter Buchstabe bleiben! Seid euch deshalb bewußt, daß solche Grundsätze, die sich auch in eurer deutschen Verfassung finden, sowohl von den Verantwortlichen, aber auch von jedem einzelnen hochgeschätzt und gelebt werden müssen, damit sie sich für die Gestaltung eures Gemeinwesens sinnstiftend und richtungweisend auswirken können.

Es mehren sich heute nachdenkliche Stimmen, die in der sittlichen und religiösen Ungebundenheit der Menschen und in der sich immer säkularisierter gebärdenden Gesellschaft einen Weg ins Scheitern und zu wachsendem Chaos erblicken. Der Mensch ist eben von Natur aus nicht sich selbst Anfang und Ziel. Der Mensch ist nicht das Maß aller Dinge! Er muß einsehen, daß es über ihm etwas Unverfügbares gibt: Gott, sein Schöpfer, sein Vater und Richter. Nur wenn wir gemeinsam bereit sind, an Ihm wieder neu Maß zu nehmen in all unseren Lebensbereichen, können wir Tiefstes und Höchstes wagen, können wir unsere vollen Möglichkeiten entfalten und einsetzen. Es wird dann immer zum Besten und zum Heil der Mitmenschen und dieser Erde gereichen und nicht zu ihrer Unterjochung oder gar Vernichtung.

7. Liebe Brüder und Schwestern! Der letzte große Baumeister am Dom von Speyer war der hl. Otto, der spätere Bischof von Bamberg. Von ihm ist bekannt, daß er in Gnesen den Frieden vermittelte zwischen Polen und dem Mecklenburgern und Pommern. Zugleich führte er diese beiden Stämme in wenigen Jahren zum Christentum, wobei er dem Grundsatz folgte, keine Missionierung mit Zwang und Gewalt durchzuführen. Von ihm stammt das groß-artige Wort: ”Gott will keinen erzwungenen, sondern einen freiwilligen Dienst.“.

Wie aktuell ist doch dieses Wort über die Zeiten hinweg für Europa und für die Welt von heute! Wie ein Leuchtturm sei es über die Probleme der Gegenwart gestellt, über die Konflikte und harten Fronten innerhalb einzelner Staaten. Nicht Polizei- oder Militärmacht, nicht diktatorische Maßnahmen vermögen die grundsätzlichen Fragen zu beantworten, die Klagen zu beheben, eine gerechte Ordnung des Gemeinschaftslebens herbeizuführen. Auf weite Sicht gesehen sind Wege in eine bessere Zukunft, in eine befriedete Welt, zu fruchtbarer Zusammenarbeit aller Gesellschaftsschichten nur möglich unter diesem allgemein anzuerkennenden Leitwort: ”Gott will keinen erzwungenen, sondern einen freiwilligen Dienst“. Unter dieser Idee allein werden auch die bedrohlichen internationalen Gegensätze zwischen den Staaten und Machtblöcken überwunden werden können, kann ein neues, geeintes Europa vom Atlantik bis zum Ural geschaffen werden.

Bei gewissenhafter Beachtung dieses Grundsatzes werden vor allem die Grundrechte des Menschen in der Gesellschaft und gegenüber der staatlichen Gewalt am besten gesichert sein. Eines der höchsten und heiligsten von diesen ist die Freiheit, Gott verehren und die eigene Religion ohne Zwang oder Behinderung ausüben zu dürfen. Dieser Dom hat es erlebt, wie blinder Haß gegen Gott und den christlichen Glauben ihn entweihte, den Gottesdienst verbot und seine Heiligtümer den Flammen preisgab. Darum erheben wir gerade von hieraus unsere Stimme, um alle Verantwortlichen in den einzelnen Ländern zu bitten, dahin zu wirken, daß in Gesamteuropa die Einschränkung und Unterdrückung der freien Religionsausübung für Personen und Gemeinschaften sowie für das Wirken der Kirchen endlich ein Ende Enden. Zusammen mit dem Recht auf Religionsfreiheit muß die Achtung aller Grundrechte der Einzelperson sowie aller Grundwerte für ein menschenwürdiges Zusammenleben das unabdingbare Fundament für die Zukunft Europas sein.

8. Das Zeugnis der Christen für die Menschenwürde und die unantastbaren Grundrechte des Menschen würde natürlich klarer und wirkungsvoller sein, wenn es mit gemeinsamer Stimme und von einer geeinten Kirche vorgetragen werden könnte. Das große Hauptportal dieser Kathedrale zeigt, in Erz gegossen, den Ruf Jesu Christi aus dem hohepriesterlichen Gebet: ”Ut unum sint“ - ”Sie sollen eins sein!“. Als man in Jahre 1030 den Dombau begann, waren Rom und Byzanz, West- und Ostkirche, noch geeint. Als er jedoch dreißig Jahre später geweiht wurde, war der Bruch zwischen beiden Bruderkirchen bereits traurige Wirklichkeit geworden. Fünfhundert Jahre später fand im Ratssaal dieser Stadt, im Schatten dieser Domtürme, jener Reichstag statt, auf dem die Anhänger der Reformbewegung Martin Luthers ihre bekannte Gegenerklärung, ihre ”Protestatio“, vorgebracht haben. Von da an tragen sie den Namen ”Protestanten“.

Das Leid der gespaltenen Christenheit ist das Leid dieses Gotteshauses. Es ist ein Denkmal der Einheit, die einmal gewesen ist, und ein Mahnmal zur Einheit, wie sie wieder kommen muß, wenn wir dem Vermächtnis Jesu treu bleiben wollen. Auf diesem mühsamen Weg zur Einheit wollen wir alles wahrnehmen und hochschätzen, was zwischen den getrennten Christen noch gemeinsam ist, und alles vermeiden, was Gräben erneut vertiefen könnten. Vor allem an die orthodoxen Kirchen richten wir von dieser ehrwürdigen Stätte gemeinsamer europäischer Geschichte aus die eindringliche Bitte zur baldigen Wiedervereinigung in dankbarer Bewunderung ihrer Christustreue und ihres Bekennermutes in den Bedrängnissen, die diese unsere Brüder und Schwestern in der Vergangenheit erleiden mußten und heute noch erleiden.

9. Liebe Mitchristen! Mancher von euch wird vielleicht in diesem Augenblick bei sich denken: Christliche Wurzeln Europas, Weltfriede, Religionsfreiheit, Wiedervereinigung der Christen, das alles sind wichtige und große Herausforderungen unserer Zeit; aber was kann ich, der einzelne, dafür tun? Kann ich überhaupt etwas dazu beitragen? Darauf gebe ich euch zur Antwort: Ja, du, der einzelne, kannst etwas in Bewegung setzen; denn jeder gute Entschluß, jede bereite Übernahme einer Aufgabe beginnt immer beim einzelnen Menschen. So sehr die Einzelbemühungen dann auch gebündelt werden müssen, um sich im Großen auswirken zu können, so bleibt doch bestehen: Das Ja einer einzelnen Person, mit Hochherzigkeit gegeben und im eigenen Lebensbereich treu durchgehalten, kann tatsächlich tiefgreifende Veränderungen zum Guten auf kirchlicher wie auf gesellschaftlicher Ebene einleiten und wirksam fordern.

Diese Möglichkeiten von einzelnen Menschen bezeugen uns vor allem die großen Heiligen Europas. Sie sind ja die wahren Realisten. Sie sehen das Ringen der Mächte des Bösen inmitten allen Geschehens; sie sehen aber auch den Heiligen Geist am Werk. So ahnen sie oft, wie das Zukünftige bereits im Gegenwärtigen heranwächst. Einige dieser bedeutenden Heiligen Europas zeigt das Bronzetor des Domes: Hugo von Cluny, Bruno von Köln, Norbert von Xanten, Bernhard von Clairvaux. Ihr Werk setzen fort die Heiligen Franz von Assisi, Dominikus, Ignatius. Sie und ihre Orden haben einen bleibenden Anteil am Wesen, an der Kultur und Geschichte Europas. Drei dieser Heiligen bezeugen als offizielle Patrone Europas dessen ganze Spannweite von West bis Ost: Benedikt von Nursia sowie Cyrill und Methodius, die beiden Slawenapostel.

10. Gott hat auch unserer Zeit heilige Menschen gesandt, die uns helfen sollen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden, die Möglichkeiten des Menschen im Licht seines Schöpfers und Erlösers voll auszumessen und den Weg ins ewige Vaterhaus auch durch Nebel und Dunkelheit hindurch zu finden. Für sie alle nenne ich die soeben seliggesprochenen Pater Rupert Mayer aus dem Jesuitenorden und die dem jüdischen Volk angehörende Karmelitin Edith Stein. Sie besaßen ganz gewiß die Gabe der Unterscheidung der Geister, weil sie an Gott selbst Maß genommen haben; sie durchschauten den Massenwahn und die verführerische Propaganda ihrer Zeit.

Die selige Edith Stein, Sr. Teresia Benedicta vom Kreuz, hat wichtige Situationen ihres Lebens und ihres langsamen Aufstiegs zur Höhe einer christlichen Philosophin und Mystikerin hier in dieser Stadt Speyer verbracht. Seid treue Hüter ihrer Botschaft und ihres Lebenszeugnisses! Edith Stein ist mit ihrem Werk und Leben Nachfolgerin der großen heiligen Frauen, Bekennerinnen, Mystikerinnen und Beterinnen des alten Europa, von denen hier stellvertretend nur die heilige Hildegard von Bingen genannt sei. Gerade die Frau von heute könnte in der neuen Seligen ein echtes Leitbild finden, um zu wahrer Selbstverwirklichung und Selbständigkeit aus der reinen Quelle unbeirrbarer Gottverbundenheit zu gelangen.

11. Paulus, ”komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!“. Gibt es im heutigen Europa noch diesen Schrei nach Hilfe, nach geistigem Brot und nach Licht auf der Suche nach dem Wesentlichen, nach dem reinen Wasser der Wahrheit und Gerechtigkeit? Sollte dieser Ruf wirklich verstummt sein unter der scheinbaren ”Selbstgenügsamkeit“ und Sattheit vieler heutiger Europäer, in ihrer ständigen Versuchung, so zu leben, als gebe es keinen Gott?

So könnte man wirklich manchmal meinen. Und doch gibt es trotz allem gegenteiligen Anschein-Gott Dank! auch heute noch diesen Ruf: Eure Priester und Bischöfe setzen dafür ihre ganze Lebenskraft ein; der Papst reist gerade dafür in die verschiedenen Länder, auch dieses Kontinents. Vor allem aber erschallt dieser Ruf aus dem Leben und Werk der Heiligen und Seligen, der großen und bekannten wie auch der stillen und namenlosen. Sie alle weisen hin auf das Licht aus den Seligpreisungen der Bergpredigt, auf Jesus Christus, den ”Eckstein“.

Wer an ihn glaubt, der geht nicht zugrunde. Wer ihm nachfolgt, geht den Weg in die Zukunft mit jenem Optimismus, der immer wieder zum nächsten Schritt ermutigt, aber auch mit jenem Realismus, der auf dieser Erde noch keine utopischen Paradiese erwartet. Wer in Treue und Liebe dem Herrn nachfolgt, wird auch stets bereit sein, seiner europäischen Heimat zu helfen, ihre christliche Seele wiederzuentdecken und dafür gemeinsam Zeugnis zu geben.

Heilige Maria, Königin des Friedens, Mutter Gottes und unsere Mutter, erbitte uns den Segen deines Sohnes für Europa und für alle Völker in der Welt! -Amen.

 

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