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PASTORALBESUCH IN DER DIÖZESE TURIN

ANSPRACHE VON PAPST JOHANNES PAUL II. AN DIE PRIESTER

Turin, 13. April 1980

 

1. Gelobt sei Jesus Christus!

Mit diesen Worten, die mir so teuer und auch euch vertraut sind, grüße ich Turin bei dieser Begegnung mit der ganzen Stadt und der Welt der Arbeit, mit der die volle geistliche Freude aller anderen Begegnungen ihren Höhepunkt erreicht und ich meinen heutigen Besuch bei euch abschließe. Mit diesen Worten grüße ich euch alle und schließe euch alle in mein Herz!

Ich grüße die Vertreter der Provinz, der Stadt und des Militärs; ich grüße den Kardinalerzbischof von Turin, die Bischöfe von Piemont, den gesamten hier anwesenden Klerus, die Ordensfrauen; ich grüße die Vertreter der Arbeitswelt, die einen beträchtlichen und unersetzlichen Teil der Wirtschaft der Stadt und Italiens ausmacht; ich grüße die Männer der Kultur und Politik in dieser geistig so lebendigen Stadt, die so reich ist an Ideen; die Vertreter der Massenmedien, des Theaters, des Sports; ich grüße euch alle, Brüder und Schwestern, gleichsam das Netz des sozialen Alltagslebens der Großstadt; ich grüße die Jugend, "meine Freude und mein Ehrenkranz" (Phil 4; 1)! Ganz Turin mit seinem menschlichen Reichtum und seiner geographischen Gestalt habe ich vor Augen in einem Rahmen, den ich bestimmt nicht mehr vergessen werde.

Es ist als begegne mir die Geschichte eurer geliebten Stadt, von der ersten römischen Siedlung "Augusta Taurinorum" bis zu ihrer späteren Entwicklung, als die Verkündigung des Christentums Wurzeln faßte und sich mit der Geschichte der irdischen Stadt vermischte, deren Aufstieg durch die geographische Lage und den angeborenen Edelmut und Fleiß ihrer Söhne begünstigt wurde. Ich zolle der reichen und strengen kulturellen und bürgerlichen Tradition der Stadt Ehre: ihrer einflußreichen, 1404 gegründeten Universität von europäischem Ruf; ihren berühmten kulturellen Einrichtungen, ihren Museen, ihren Akademien; ihrer angesehenen, weitverzweigten Industrie, Zeugnis des Fleißes und des Unternehmergeistes der Väter; der unbestrittenen Autorität, die der Stadt, wenn auch nur zeitweilig, das Vorrecht einbrachte, Hauptstadt Italiens zu werden. Das ist das Turin, das ich grüße; das Turin von gestern und heute mit seinem Erbe der Vergangenheit und mit seinem gegenwärtigen Schatz an Intellekt, Kultur und Aktivität in allen Bereichen.

2. Es ist vor allem die Seele Turins, die mir begegnete, die ich pulsieren fühle und die hier vor dem Heiligtum der Hohen Gottesmutter zum Einklang wird. Es ist eine sehr menschliche Seele; das heißt mit geistlichen Dimensionen nach Menschenmaß; die Seele einer Bevölkerung, die sich in den Mühen, Prüfungen und oft verborgenen Entbehrungen eines einfachen Familienlebens entwickelt hat; eine bewegungsfähige Seele, die von weiten und lebhaften kulturellen und religiösen Interessen inspiriert wurde; eine schöpferische und zugleich praktische Seele, aktiv und zugleich besonnen, die in dem außerordentlichen industriellen Aufschwung der Stadt ihren Ausdruck gefunden hat; eine Seele, die offen und feinfühlig ist für die Werte des Schönen, des Guten, des Wahren.

Und, laßt es mich aussprechen, mir begegnet die christliche, die katholische Seele Turins, deren Zeugnis die Verbreitung des Evangeliums in der Stadt und den umliegenden Tälern, die außergewöhnliche Blüte der mittelalterlichen Abteien, die Tradition eines geordneten Pfarrlebens sind, das gleichsam das Gerüst der Seelsorgearbeit der Erzdiözese bildete. Diese christliche Seele Turins wurde offenbar in der grundlegenden Treue zur Kirche und der Übereinstimmung zwischen Leben und Glauben: es sei an die Namen von Laien erinnert, die im beruflichen und politischen Einsatz dem christlichen Namen Ehre zu machen wußten, wie Silvio Pellico, Cesare Balbo, die Marchesa Giulia di Barolo. Diese christliche Seele Turins hat die Präsenz der Kirche in den Veränderungen und Umwälzungen der Industrialisierung im vorigen Jahrhundert gespürt, sie ist dieser Kirche nahe gewesen, die der Welt Persönlichkeiten geschenkt hat wie einen Cottolengo, einen Cafasso, einen Don Bosco, eine Maria Mazzarello. Mit dieser christlichen Seele hat Turin voll Sympathie und Bewunderung auch von anderer Position aus auf die unglaublich weitreichenden und menschlich unerklärlichen Werke geblickt, die Menschen der Kirche mit Gottes Hilfe ins Leben gerufen haben, hat sie großzügig unterstützt und als seine eigenen betrachtet; es hat damit bewiesen, daß es über einen unsichtbaren inneren Reichtum verfügt, der eine verborgene Quelle des Glaubens und der Liebe sichtbar macht, wie die verborgene Quelle, die aus euren Bergen hervorsprudelt, um dann zu dem großen Fluß Po anzuschwellen, über dem die Stadt thront.

3. Aber gleichzeitig begegnet mir auch das heutige Turin, das aus den Veränderungen am Ausgang des vorigen Jahrhunderts bis hinein in die letzten Jahrzehnte hervorgegangen ist. Es ist die Wirklichkeit der großen Industriestadt mit dem gewaltigen menschlichen und beruflichen Potential an Frauen und Männern, die mit ihrer geistigen und manuellen Arbeitskraft ihr Leben geben; aber auch mit den Zweifeln, Widersprüchen und Gegensätzen, die die Arbeit und die Welt der Arbeit mit sich bringen, besonders dann, wenn das soziale Gewissen verdunkelt wurde und die Werte des Evangeliums bisweilen von der Gestaltlosigkeit der Großstadt überwältigt zu werden scheinen, einer Metropole, die sich auch gegen ihren Willen fangarmartig ausbreitet und entmenschlicht, kalt und gefühllos gegenüber den Problemen des Menschen, des Nachbarn, des "Nächsten" wird. Es ist das heute so vielen Städten der Welt gemeinsame Antlitz der fortschreitenden Entchristlichung, die die unvermeidlichen Spannungen im Arbeitsbereich mit all seiner Härte, seinen dauernden Konflikten noch verschärft. Das soziale Leben weist trotz der unleugbaren Errungenschaften und Verbesserungen, die erzielt wurden, Mißverständnisse auf, die das traditionelle Gefüge der Stadt zerstören.

Wenn das auch die Probleme aller Industriemetropolen sind, so hat Turin sie in besonderer Weise erlebt und erlebt sie noch immer, auch wegen des unübersehbaren Phänomens der Zuwanderung, das für Stadtgemeinde und Kirche schwere Probleme geschaffen hat, die man mir zur Kenntnis brachte und die ich mir im übrigen gut vorstellen kann. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise nährt zudem die nicht unbegründete Furcht hinsichtlich der künftigen Stabilität und trägt dazu bei, daß im Zusammenleben, in den Unternehmen, in den Familien ein Klima des Mißtrauens und der Arbeitsunlust entsteht. Es haben sich erbitterte Kampfformen entwickelt, die blind zuschlagen, um das Gefühl des Mißtrauens, der sozialen und politischen Unsicherheit, der ideologischen Verwirrung noch zu verstärken, um nichts anderes als das Prinzip der Gewaltanwendung zu vertreten, das nur immer neue Gewaltanwendung hervorrufen kann. Dieses Phänomen ist auch hier besonders schmerzlich und besorgniserregend.

Es ist also ein sehr komplexes Bild, das sich mir heute insgesamt bietet: es handelt sich im Grunde um drei charakteristische Strömungen im Dasein der ganzen heutigen Gesellschaft die in Turin ihren beispielhaften Ausdruck findet wie auch der Kirche, die in der Gesellschaft lebt und wirkt. Es sind Strömungen, die nebeneinander bestehen, zugleich aber in Spannung, in akutem Gegensatz zueinander stehen.

Ich habe vor allem die tiefe und glänzende Schicht des Christentums vor Augen, die geistliche und christliche Strömung, die, wie ich bereits gesagt habe, auch ihren modernen Höhepunkt hatte, der noch immer lebendig und gegenwärtig ist. Doch in diesem Gesamtbild werden die anderen, nur zu bekannten Strömungen von mächtiger Beredsamkeit und negativer Wirkung sichtbar: auf der einen Seite das ganze Erbe des Rationalismus, der Aufklärung, des Szientismus des sogenannten laizistischen Liberalismus der westlichen Nationen, der zur radikalen Ablehnung des Christentums geführt hat; auf der anderen Seite die Ideologie und Praxis des atheistischen Marxismus, der, so darf man wohl sagen, in den verschiedenen Formen unserer Tage zu den extremsten Konsequenzen seiner materialistischen Forderungen gelangt ist.

4. In diesem glühenden Schmelztiegel der heutigen Welt will Christus auf neue Weise gegenwärtig sein, und zwar mit der ganzen Eindringlichkeit seines Ostergeheimnisses. Sein Ostern, das wir gefeiert haben, ist das einzige, das den Menschen und sein Tun zur Vollkommenheit erheben kann: wie das Zweite Vatikanische Konzil sagte, "wirkt Christus, dem alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben ist, schon durch die Kraft seines Geistes in den Herzen der Menschen dadurch, daß er nicht nur das Verlangen nach der zukünftigen Welt in. ihnen weckt, sondern eben dadurch auch jene selbstlosen Bestrebungen belebt, reinigt und stärkt, durch die die Menschheitsfamilie sich bemüht, ihr eigenes Leben humaner zu gestalten und die ganze Erde diesem Ziel dienstbar zu machen" (Gaudium et spes, Nr. 38).

Der Papst ist zu euch gekommen, um der Stadt und der modernen Arbeitswelt diese entscheidende und unersetzliche, kraftvolle und müde Gegenwart in Erinnerung zu rufen, die an unser ruhiges Alltagsleben dringende Fragen stellt, außerhalb der sich aber vergebens wirksame und dauerhafte Lösungen für die Krisen finden lassen, die die Welt heimsuchen. Der Papst unter euch ist der Bote des befreienden Evangeliums Christi; und während er sich dieser schweren Aufgabe nicht gewachsen fühlt und euch daher mit der wehrlosen Demut seiner einzig und allein geistlichen Sendung begegnet, ist er sich zugleich des Wertes seines Zeugnisses bewußt, das auf eure Erwartungen in diesem Augenblick Antwort geben soll. Dieses Zeugnis ist wie das Schwert des Gotteswortes, das "durchdringt bis zur Scheidung von Seele und Geist ..., richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens" (Hebr 4, 12); aber es ist auch wie das Öl, das der barmherzige Samariter auf die Wunden des verletzten Mannes goß (vgl. Lk 10, 34).

Die tiefgehende Zweideutigkeit einer Gesellschaft, die den Sinn ihres Lebens allein in der Arbeit findet, ohne sich den Bedürfnissen der menschlichen, geistlichen und übernatürlichen Ordnung zu öffnen, und sich damit von ihrer tiefsten Schicht trennt, muß zu denken geben. Vielleicht fragt sich jeder von euch besorgt: Wohin steuert Turin? Wohin wird Turin steuern? Der Papst stellt sich mit euch diese Frage. Steuert es auf eine ausweglose Spirale der Immanenz, der Diesseitigkeit, des Mißtrauens, der Gewalt zu? Oder auf ein frohes, aufbauendes, arbeitsames brüderliches Morgen "nach dem Maß des Menschen", weil es offen ist für die ganze Wirklichkeit des Menschen, offen für das Ostern Christi? 

Das wünscht ihr euch von ganzem Herzen, und ich mit euch. Ich bin bei euch und verstehe eure Ängste, eure Sorgen, und ich muß euch sagen, daß ich hierhergekommen bin, um euch zu bezeugen, daß ich euch verstehe und mit euch solidarisch sein will. Im Namen Christi ist der Papst zu euch gekommen, der zu euch spricht, ehe er die Stadt wieder verläßt, die sich ihm in ihrer ganzen geistigen und menschlichen, religiösen und profanen Wirklichkeit gezeigt hat, und er hinterläßt euch seine Worte der Überlegung und der Wünsche, damit das, was Turin groß und weltbekannt gemacht hat, auch weiterhin das Leben und die Tätigkeit eurer Stadt Turin nährt.

5. Die menschliche Arbeit die sich hier in Turin in ausdrücklicher und dramatischer Weise kundtut ist eine Realität, die die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen hervorhebt und verherrlicht. Sie ist sein Erbe, von Anbeginn an. Das Buch Genesis stellt den Menschen als den vor, der von Gott direkt beauftragt wurde, sich die Erde zu unterwerfen und über alle Geschöpfe zu herrschen (vgl. Gen 1, 28). Wie ich zu meinen Landsleuten, polnischen Arbeitern, sagte, "ist die Arbeit auch die Grunddimension der Existenz des Menschen auf Erden. Die Arbeit besitzt für den Menschen nicht nur technische, sondern auch ethische Bedeutung. Man kann sagen, daß sich der Mensch die Erde.unterwirft, wenn er selber durch sein Verhalten ihr Herr und nicht ihr Sklave wird und ebenso auch Herr und nicht Sklave der Arbeit. Die Arbeit soll dem Menschen helfen, besser, geistig reifer, verantwortlicher zu werden, damit er seine irdische Berufung erfüllen kann" (Ansprache in Tschenstochau vom 6. Juni 1979; O.R. dt. vom 22.6.1979, S. 4). Die Arbeit soll dem Menschen helfen, mehr Mensch zu sein. Die Arbeit, auch was an ihr mit Mühe, Monotonie, Zwang verbunden ist woran die Folgen der Erbsünde wahrnehmbar sind , ist dem Menschen noch vor dem Sündenfall von Gott gegeben worden als Mittel zur Erhöhung und Vervollkommnung des Kosmos, als Ergänzung und Vervollständigung der Persönlichkeit, als Mitwirken am Schöpfungswerk Gottes. Die mit ihr verbundene Mühe läßt den Menschen teilhaben am Wert des erlösenden Kreuzes Christi; und in der Gesamtsicht des Evangeliums wird die Arbeit zum Instrument für die Gesellschaftlichkeit unter Brüdern, die gegenseitige Zusammenarbeit, die gegenseitige Vervollkommnung schon im Bereich des Erdenlebens: mit einem Wort, sie wird zum Ausdruck der Liebe in der einen Liebe Christi, die uns drängen muß, damit wir einer das Wohl des anderen suchen und einer die Last des anderen tragen (vgl. 2 Kor 5, 14; Gal 6, 2). Hier liegt die positive Wirklichkeit der Arbeit und der Arbeitswelt. Sie ist großartig. Sie ist schön. Wenn ich sie in der Sprache des Evangeliums ausdrücke es ist klar, daß ich als Apostel Christi zu euch spreche , so bin ich doch überzeugt, daß wir uns über die Größe, über die Würde der menschlichen Arbeit in dieser Sprache mit jedem Menschen treffen können, der in Wahrheit alle Dimensionen der menschlichen Wirklichkeit und in aller Demut die wahre Würde des Menschen sucht; wir können uns darin mit allen treffen.

Deshalb darf die Arbeit dem Menschen niemals zum Schaden gereichen! Man erkennt freilich an vielem, daß der technische Fortschritt nicht von einer entsprechenden Achtung vor dem Menschen begleitet wird. So bewundernswürdig die Technik in ihren ständigen Errungenschaften sein mag, sie hat oft den Menschen in seinem Menschsein verarmen lassen, indem sie ihn seiner inneren, geistlichen Dimension beraubte, in ihm den Sinn für die wahren, höheren Werte erstickte. Es gilt, den Primat des Geistlichen zu festigen! Die Kirche fordert zur Wahrung und Erhaltung der rechten Hierarchie der Werte auf. Das berühmte benediktinische Doppelwort "Ora et labora" "Bete und arbeite" sei für euch, Männer und Frauen von Turin, meine Brüder und Schwestern, untrennbare Quelle echter Weisheit, sicheren Gleichgewichts, menschlicher Vollkommenheit: das Gebet muß die Arbeit beflügeln, die Absichten läutern, sie vor der Gefahr der Abstumpfung und Nachlässigkeit schützen; und die Arbeit soll euch nach der Anstrengung die stärkende Kraft der Begegnung mit Gott wiederentdecken lassen, in der der Mensch aufs neue zu seiner ganzen und eigentlichen Größe findet. "Ora et labora!". Ja, auch du, Turin, bete und arbeite!

6. Die Arbeit darf die Familie nicht auseinanderreißen! Wir können nicht anders, als hier an jene Heilige Familie von Nazaret denken, in der das Wort, der Sohn Gottes und Mariens, sich in menschlicher Arbeit übte, unter der wachsamen und liebevollen Anleitung des hl. Josef des Schutzpatrons der Arbeiter , der die Vaterstelle einnahm, sowie unter den Augen der Mutter, der Unbefleckten Jungfrau, die gleichfalls beschäftigt war mit den sehr bescheidenen Aufgaben, die die rückständigen Verhältnisse von damals den Frauen überließen. Christus wurde als Kind von den rauhen Händen eines Handwerkers liebevoll gehegt! Auch er selbst war Arbeiter in einem Mysterium der Erniedrigung, das unser Herz mit unendlichem Staunen erfüllt. Fragen wir uns, was der Sohn Gottes in seinem Leben auf Erden, in der meisten Zeit der 33 Jahre seines Lebens, gemacht hat: er leistete die Arbeit eines Arbeiters, eines Zimmermanns, eines von uns.

Warum sollte man nicht auf jene Familie blicken, in welcher die Kirche und ihre Liturgie die Beschützerin aller Familien der Welt sieht, besonders der einfachen, verborgenen, derjenigen, die in namenloser Mühe und im Schweiß ihr tägliches Brot verdienen? Sie soll es sein, Männer und Frauen von Turin, die die großen Werte eurer Hingabe, eurer Liebe, eurer Achtung vor der Familie hütet. Sie ist nicht nur die "Grund- und Lebenszelle der Gesellschaft" (Apostolicam actuositatem, Nr. 11), sondern vor allem „häusliches Heiligtum der Kirche" (ebd.), ja geradezu "Hauskirche" (Lumen gentium, Nr. 11); als solche hat das Konzil sie definiert; und das soll sie für euch bleiben; Schmelztiegel der Tugend, Schule der Weisheit und Geduld, das erste Heiligtum, wo man Gott lieben und Christus erkennen lernt, starkes Bollwerk gegen den Hedonismus und Individualismus, warmherzige und liebevolle Aufnahmestätte für die anderen.

Sie darf dagegen kein seelenloses Ödland sein, keine zufällige Begegnung von Wegen, die nebeneinander herlaufen, kein Gästehaus oder Gott verhüte es! ein Biwak, wo man die Mahlzeiten einnimmt oder sich ausruht und dann jeder den anderen seinem Schicksal überläßt. Nein! Ich vertraue jede eurer Familien Jesus, Maria und Josef an, damit ihr mit ihrer Hilfe stets jene Werte bewahren könnt, die in euren Familien geboren und bewahrt worden sind und die Blüte des zivilen Lebens eurer Stadt in geradezu beneidenswerter Weise gefestigt haben! Und ich wiederhole noch einmal: ich habe über die Familie gesprochen, ich habe in einer christlichen, theologischen Sprache gesprochen; doch ich frage mich, ich frage alle, ob die Grundwerte, von denen man spricht, um die es geht, um die man besorgt ist, nicht uns alle verbinden. Wer dürfte von der Menschheitsfamilie nicht verlangen, daß sie eine wahre Familie ist, eine echte Gemeinschaft, wo man den Menschen liebt, wo man jeden liebt, eben weil er Mensch ist, jenes einmalige, unwiederholbare Wesen, das eine Person ist? Wir alle sind in der Verteidigung dieser Werte und im Versuch, sie zu fördern, miteinander verbunden. Wir sind alle eins. Es sind die menschlichen Faktoren, die uns einen, und wenn ich in meiner apostolischen Sprache von diesen Werten spreche, so bin ich überzeugt, daß mich alle verstehen. Daß alle die wahre Bedeutung, die tiefe menschliche Bedeutung dieser Sorge, dieses Verlangens, dieses Wunsches verstehen, die ich allen, ganz Turin, jeder Turiner Familie und eurer ganzen Stadt hinterlassen möchte. Danke, danke allen für den Beifall, mit dem ihr euer Ja zum Leben sprecht. Danke!

7. Und noch etwas: die Arbeit soll die Jugend nicht entwürdigen, sie nicht um ihre wahren Reichtümer bringen: den Enthusiasmus, die glühende Hingabe, den Einsatz für eine gerechtere Zukunft, die dem Menschen mehr Achtung entgegenbringt. Der Eintritt der Jugendlichen in die Fabriken entspricht bisweilen einem Prozeß ideologischer, wenn nicht gar moralischer Entartung des Verhaltens, einem Prozeß, dem von der herrschenden permissiven Mentalität in tückischer Weise Vorschub geleistet wird. Das sind Entartungen, deren Wunden im einzelnen wie in der Gesellschaft nur unter dem Bemühen und dem Beitrag der Personen und Institutionen vernarben werden, die dazu bereit sind.

In der beruflichen Ausbildung der Jugend stand Turin an vorderster Front; sie ging mit der religiösen und sittlichen Erziehung einher: instinktiv denkt man an Don Bosco und sein Werk, dem ihr nach wie vor eure Kinder anvertraut. Ich möchte aber weder den hl. Leonardo Muriaido und seine kleinen Handwerker noch die verdienstvollen anderen Ordensinitiativen, die euren Familien unter großer Aufbietung von Menschen und Mitteln eine kraftvolle und verläßliche Hilfe für die unersetzliche Erziehungsarbeit an euren Kindern sicherten, unerwähnt lassen. Gern erinnere ich an die Erholungsheime der Pfarreien für Jungen und Mädchen; an die verschiedenen Verbände und besonders an die Katholische Aktion, die hier ein äußerst lobenswertes Werk geleistet haben und damit eine Tradition fortführten, die in strahlenden Gestalten von Jugendlichen ihren Ausdruck gefunden hat.

Möge Turin diesen Weg fortsetzen! Es bleibt noch viel zu tun! In den Großstädten sind Scharen von Kindern und Jugendlichen oft ohne Aufsicht und Fürsorge, weil die Eltern arbeiten, weil die sozialen Strukturen mangelhaft sind und vielleicht auch weil es am entsprechenden Interesse fehlt. Wie viele von ihnen werden den Versuchungen des Drogenkonsums, den Verlockungen schamlos zur Schau gestellter Unsittlichkeit, den schrecklichen Fangarmen der Gewalttätigkeit und des Terrorismus widerstehen können? Liebe Jugendliche, laßt euch nicht hörig machen! Seid hochherzig und gut! Die Gesellschaft, die Kirche, das Vaterland brauchen euch: "Quid hic statis tota die otiosi?" "was steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum?" möchte ich mit den Worten des Evangeliums wiederholen (Mt 20, 6). Soziale Intiativen und Jugendwerke, missionarische, kulturelle, sportliche Betätigung erwarten auch euer Mittun! Die Kirche wartet! Die Gesellschaft wartet! Christus wartet! Enttäuscht nicht unsere gemeinsame Hoffnung! Enttäuscht meine Hoffnung nicht!

8. Die Arbeit soll nicht die Armen, die Leidenden vergessen machen. Hier in Turin hat die Liebe eines Cottolengo die Zitadelle der Nächstenliebe geschaffen: Ich spreche euch nochmals lobende Anerkennung aus für die Unterstützung, die ihr dieser Einrichtung gewährt. Das ist ein gutes Zeichen! Es weist darauf hin, daß auch bei der Verschärfung der sozialen Gegensätze, der Zuspitzung der Spannungen verschiedener Art das große Herz Turins jene nicht vergißt, die leiden.

Aber das Leiden ist mitten unter euch, neben euch, in den Häusern, wo ihr wohnt, vielleicht vom Schleier der Zurückhaltung schamvoll verdeckt, die sich schämt zu betteln. Die Mühe des Alltags darf das geistige Auge nicht für die Nöte und Entbehrungen des anderen abstumpfen, sondern muß es schärfen, das Einfühlungsvermögen stärken, ´"Sympathie wecken", das heißt "mitleiden mit dem anderen". Ich weiß, daß in Turin der Vinzenzverein in hoher Blüte stand und steht, wo Arbeiter und Universitätsstudenten, Männer und Frauen der verschiedenen Gesellschaftsklassen großartige Initiativen der Liebe ins Leben gerufen haben, die ungeheuer viel Gutes leisten. Turin, bleibe weiterhin und sei aufs neue die Stadt der Nächstenliebe! Fahre fort und sei es aufs neue: Fahre fort in deiner heutigen sozialen Ausrichtung, In deiner vollen sozialen Entwicklung, sei weiterhin die Stadt der Nächstenliebe! Es gibt kein vollgültigeres Wort, das die menschliche Solidarität, den Humanismus besser zum Ausdruck bringen könnte als das Wort: Nächstenliebe.

9. Schließlich wünscht der Papst euch, daß die Arbeit die Gaben und Fähigkeiten des Menschen nicht betäube, sie nicht im Haß, der zerstört, ohne aufzubauen, verrohen lasse. Dem Terrorismus, der nicht schläft und der aus dieser Stadt einen seiner neuralgischen Punkte gemacht hat, muß Einhalt geboten werden. Vielleicht haben die sozialen Mißverhältnisse und andere Motivierungen eine kritische Stimmung geschürt, die in Erwartung einer besseren Zukunft mit allem reinen Tisch machen will. Doch welche Zukunft, welche bessere Zukunft kann jemals auf dem Haß aufgebaut werden, der sich in erboster Wut gegen die eigenen Brüder richtet, was für ein Morgen kann sich aus einem Schlachtfeld der Zerstörung und des Todes erheben?

Alle Verantwortlichen der Stadt und mit ihnen die Männer der Kirche fordere ich auf und bitte sie eindringlich, alle Anstrengungen zu unternehmen, alles zu beseitigen, was Ursache von Ungerechtigkeiten, von Ungleichheit, von ungerechten Privilegien ist: die Kirche entbindet uns bestimmt nicht davon, die Augen offenzuhalten für die sozialen Ungerechtigkeiten und die schwerwiegenden Alltagsprobleme unserer Brüder, ja sie prangert sie an mit der Kraft der alten Propheten, mit dem explosiven Wort des Evangeliums, aber dann versucht sie, sich um Änderung und Verbesserung des menschlichen Lebens, um die Besserung des Menschen selbst zu bemühen.

Doch wie in Irland verkünde ich auch hier nachdrücklich "mit der Überzeugung meines Glaubens an Christus und im Bewußtsein meiner Sendung, daß Gewalttätigkeit ein Übel ist, daß Gewaltanwendung als Lösung von Problemen unannehmbar und des Menschen unwürdig ist ... Ich bete mit euch ..., daß niemand jemals Mord mit einem anderen Wort als eben Mord bezeichnet" (Predigt in Drogheda am 29.9.1979; O.R. dt. vom 5.10.1979, S. 9).

Wir alle sind in dieses Werk der Überzeugung, der Klarstellung, der Verbesserung mit einbezogen: es erfordert gewiß eine Umkehr der Gesinnung; und diese Umkehr muß in konkretes Handeln übergehen. Aber wehe, wenn wir nicht bedenken und nicht mit aller Klarheit sagen, daß es keine soziale Verbesserung geben kann, die auf Haß, auf Zerstörung gründet. Der Haß zeugt den Tod. Wir hingegen sind die Träger des Guten, die Apostel der Liebe, die Verteidiger des Lebens! Und in diesem Punkt müssen wir alle fest zusammenstehen. Kein Standpunkt, keine Ideologie, keine persönliche Vorstellung vom Leben, von der Bestimmung des Menschen darf uns trennen, denn das Problem ist in sich klar, Gut und Böse sind in sich klar, und wir müssen in größter Solidarität zusammenstehen, um das Böse durch das Gute zu besiegen.

10. Ich wende mich an dich, Turin, dessen altes und neues, liebenswürdiges und arbeitsames, menschliches, christliches und katholisches Herz mir heute begegnet und das ich im Einklang mit dem meinigen schlagen höre.

Geh deinen Weg des zivilen Fortschritts und Friedens! Die Kirche ist mit dir! Sie war es immer mit ihren Heiligen, Cafasso, Don Bosco, Don Muriaido, Cottolengo, mit ihren einfachen und guten Priestern, die das Evangelium buchstabengetreu gelebt haben, mit ihren Ordensschwestern, die sich in den Dienst der Brüder stellten, mit ihren besten Laien, mit ihren Säkularinstituten. Schau nicht voller Mißtrauen auf diese Kirche, die dich liebt, weil sie Christus, ihren gekreuzigten und auferstandenen Erlöser, den Erstgeborenen unter den Brüdern (vgl. Röm 8, 29; Kol 1, 15), liebt. Weil sie Christus liebt, muß sie einen jeden von euch lieben, muß sie den Menschen lieben, weil der Mensch Christus darstellt. Er ist die unerschöpfliche Quelle ihrer Liebe, ihres Eifers, ihres Heroismus. Die Kirche ist dir nahe, wie sie jedem Menschen nahe ist. Sie ist "erfahren in Menschlichkeit", wie mein Vorgänger, der große Papst Paul VI., sagte. Sie bietet ihre Zusammenarbeit auf allen Gebieten an: für die Verbesserung der Arbeitswelt, für kulturelle Initiativen, für die Bedürfnisse des sozialen Lebens, für die Werke der Wohltätigkeit: wo immer ein Mensch es erwartet, dort will die Kirche ihm zur Seite stehen, denn sie entdeckt in ihm die tiefe, unauslöschliche Spur des Schöpfers, der ihn als sein Bild und Ebenbild geschaffen und durch Christus erlöst hat.

Steh auf, Turin, in seinem Ostern, das die Welt verwandelt! Bewahre deine christliche Seele, deine katholische Seele, deine italienische Seele, deine menschliche Seele! Sei die gläubige und sichere Stadt, die Gott hütet, wie dein großer Bischof, der hl. Maximus, gesagt hat: "Eine Stadt ist dann geschützt, wenn vor allem Gott selbst sie schützt; aber Gott schützt sie eben dann, wenn, wie geschrieben steht (vgl. Ps 126, 1), ihre Bewohner besonnen und konsequent waren; menschlich und christlich konsequent. Es kann nicht geschehen, daß Gott eine Stadt nicht bewahrt, in der seine Gebote gehalten werden" (S. Maximi Taurin. Serm. 86, 1; ed. Mutzenbecher, C.Ch. Ser.Lat. 23, Turnholt 1962, S. 352). Und werden diese Gebote nicht beachtet, wenn wir einfach ein menschliches Leben leben?

Gott schütze dich, Turin!

Und du halte stets sein Gesetz! Gott vergelte dir, Turin, die Gastfreundschaft, die du heute diesem Papst Johannes Paul II. gewährt hast, der als Pilger zu dir gekommen ist! Das ist mein Wunsch, den ich der Hohen Gottesmutter, der Fürsprache eurer Heiligen, eurem gutem Willen anvertraue! Ich segne euch alle im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!

 

 

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