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UMKEHR UND ERNEUERUNG

Meditation von Giacomo Kardinal Biffi, Erzbischof von Bologna

Aula Paul VI.

8. Februar 2000

 

Das Jubiläum

Unermüdlich ist der Herr, er gibt nicht auf, auch wenn wir seinem Heilsplan noch so unwillig folgen. Mit dem jetzigen Jubiläum macht er einen neuen Versuch. Er versucht erneut, uns innerlich zu wandeln und seinem Reich besser anzupassen; jenes Reich, das nicht nur eine Botschaft, eine Hoffnung ist, sondern auch eine uns unmittelbar betreffende Wirklichkeit.

Wir enttäuschen ihn immer, entweder mehr oder weniger; aber er gibt nie auf; unablässig ermutigt er uns und führt uns zurück auf seinen Weg, den einzig richtigen. Wiederum macht er nun einen neuen Versuch, und mir scheint, daß das wohl der einfachste und wesentliche Sinn des Heiligen Jahres ist, das wir nun erleben.

Auch sollten uns vergangene Mißerfolge nicht mutlos machen: Wenn er weiterhin voll Zuversicht darauf wartet, daß wir es schließlich doch ernst meinen und nicht nur mit der Neuheit des Evangeliums entsprechend leben, sollten auch wir darauf vertrauen, daß wir es dieses Mal wirklich schaffen werden.

»Kehrt um!«

»Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe« (Mt 4,17). Das ist das erste Wort der Botschaft des Evangeliums, von dem alles ausgeht. Auch am Ende seiner Sendung auf Erden versäumt Jesus nicht, die in seinem Namen an alle Völker gerichtete Botschaft der Umkehr und der Sündenvergebung als ständige Aufgabe des apostolischen Dienstes hervorzuheben (vgl. Lk 24,47).

Am Tag des Pfingstgeschehens trafen die leidenschaftlichen Worte des Apostelfürsten seine Zuhörer »mitten ins Herz«. Und sie sagten: »Was sollen wir tun, Brüder? Petrus antwortete ihnen: Kehrt um« (vgl. Apg 2,37–38). Hier beginnt das Abenteuer Kirche. All dies gilt auch heute noch für uns. Auch wir müssen uns fragen: Was sollen wir tun? Die Antwort ist die gleiche: Wir müssen umkehren, uns bekehren und erneuern.

Wenn wir nicht davon ausgehen, kann das christliche Leben gar nicht erst beginnen. Ohne dieses Schuldeingeständnis zu Beginn wäre jede religiöse Haltung ohne Fundament und würde sich als trügerisch erweisen. Und diese Haltung ist keineswegs nur auf den Anfang beschränkt; unsere gesamte Pilgerschaft, von der Taufe bis zum Eingehen in das ewige Leben, muß von Umkehr begleitet sein: Sie ist eine wesentliche und unveräußerliche Dimension des erlösten Daseins.

Unsere Meditation besteht aus zwei Teilen: Zunächst werden wir kurz das hören, was das Wort Gottes uns in diesem Zusammenhang sagt; anschließend werden wir auf spontane Art, fast in der Weise einer Rapsodi, einigen einfachen Überlegungen nachgehen.

Die Lehre der Offenbarung – Bedeutung der Begriffe

Was bedeuten Worte wie »Umkehr« oder »Reue« und »umkehren« oder »bereuen«?

In der griechischen Sprache – jener Sprache, in der uns die Botschaft Christi überliefert worden ist – bezeichneten diese Begriffe (»metànoia« und »metanoèin«) eine Folge innerer Handlungen, gewissermaßen verschiedene Ausdrucksweisen eines einzigen Seelenzustands: zu spät das erkennen, was man besser getan hätte (»daran hätte ich früher denken müssen«), anders urteilen, die eigene Mentalität ändern, Absichten oder Entscheidungen ändern, von einer Gesinnung zu einer anderen übergehen, Bedauern empfinden.

In der Sprache Jesu haben die Begriffe von Buße und Reue gewissermaßen jede dieser Bedeutungen. Aber – folgendes sollte vor allem berücksichtigt werden – durch die Lehre von Johannes dem Täufer greift er erneut ein Thema auf, das bereits in der gesamten prophetischen Verkündigung vertreten war. Wir sollten uns daher, wenn auch nur kurz, mit der biblischen Bedeutung des Konzepts befassen.

Der positive Aspekt

Zunächst wollen wir ein positives Element berücksichtigen. »Metanoia« bedeutet, sich zu Gott bekehren, eine existentielle Rückkehr zu ihm. Die Umkehr ist somit stets eine auf ein transzendentes Ziel ausgerichtete Bewegung.

Nie ist sie lediglich eine Diskussion des Menschen mit sich selbst, nie beschränkt sie sich auf den Bereich des subjektiven Bewußtseins. Es ist nicht allein ein Bedauern des eigenen geistlichen Verfalls, nicht allein Unbehagen und Schmerz, ausgelöst durch den Verlust der eigenen Würde. Umkehr bedeutet, eine neue Beziehung mit einem »anderen« aufzubauen, einem Anderen, dem lebendigen, wahren Gott.

Mehr noch, es ist dieser Andere, der im Menschen jenen inneren Prozeß einleitet: »Führ mich zurück, umkehren will ich; denn du bist der Herr, mein Gott« (Jer 31,18). Andererseits ist es gerade dieses personale Bestimmtsein des Menschen, das die Rückbindung erlaubt und den Anfang einer Freundesbeziehung mit dem Schöpfer aufbaut.» Kehrt um zu mir – Spruch des Herrn der Heere –, dann kehre ich um zu euch« (Sach 1,3).

Wie wir sehen, besteht das Wesen der Umkehr in der mit aller Kraft und der gesamten Existenz verwirklichten Bindung an den Gott Israels, auf den allein wir uns stützen, ohne Berücksichtigung der verschiedenen »Idole« und menschlichen »Verbindungen«.

Der negative Aspekt

Natürlich gibt es auch einen negativen, unvermeidlichen, notwendigen Aspekt der »Metanoia«: das Abwenden von jeder Boshaftigkeit und die Läuterung des Geistes von all dem, was mit der göttlichen Freundschaft unvereinbar ist.

Dieses bei den älteren Propheten eher implizite und angedeutete Element wird von Jeremia und Ezechiel deutlich hervorgehoben: sich bekehren bedeutet – wie Jeremia es ausdrückt –, den »eigenen schlechten Weg« verlassen.

Eine Rückwirkung ist selbst im grammatikalischen Bereich zu beobachten. Das Verb ändert sein gewohnte Ergänzung: neben dem ursprünglichen »sich bekehren zu« erscheint nun auch »sich bekehren von«; bei Ezechiel ist einzig und allein die letztere Form vertreten.

Die negative Dimension fällt zuerst auf und ist von außen am ehesten erkennbar. In der allgemeinen Reflexion über das Thema Bekehrung wird sie daher zum vorherrschenden Element. Objektiv gesehen bleibt die positive Dimension – die Rückkehr zu Gott – jedoch die erste und grundlegende. Sie ist es auch, die die Notwendigkeit »fortwährender Umkehr« besser erklärt und verdeutlicht, da man sich dem, der der Heilige ist, nie genug nähern kann, und dem wir, solange wir Pilger auf Erden sind, nie ausreichend und endgültig ebenbildlich werden.

Ausdrucksvolle Gesten

Von dem Prinzip des notwendigen inneren Wesens der Bekehrung ausgehend, muß dieses Konzept auch in »praktischer«, konkreter Hinsicht vervollständigt werden. Wir dürfen uns nicht allein mit Empfindungen und mündlichen Erklärungen begnügen: Wir müssen – wie Johannes der Täufer es ausdrückt – »Frucht hervorbringen, die unsere Umkehr zeigt« (vgl. Mt 3,8).

Mehr als lediglich eine Änderung unseres Verhaltens zum Positiven ist notwendig: Wir müssen zu unentgeltlichen Gesten fähig sein, die über das Maß hinausgehen und auch nach außen hin zeigen, daß wir willens sind, mit der Vergangenheit zu brechen. Es kann sich sowohl um rituelle Handlungen wie Taufe und Buße handeln als auch um Gesten der Wiedergutmachung und Sühne (wie die von Zachäus angekündigten Spenden).

Reflexionen
Ein nach menschlichen Maßstäben unmögliches Unternehmen

Ist Umkehren einfach oder schwierig? Ich glaube durchaus sagen zu können, daß es für Menschen sogar unmöglich ist. Es geht schließlich nicht allein darum, die Fehler unseres jeweiligen äußerlichen Verhaltens anzuerkennen (gelegentlich bekennt man sich dazu: »Ich habe einen Fehler gemacht«), sondern vor allen Dingen geht es darum, zu bekennen, daß unser innerstes und geheimstes Wesen etwas Verurteilenswertes enthält. Und das ist eine Art Selbstverstümmelung, mit der wir uns seelisch wohl kaum abfinden können.

Auch lediglich das Sich-Distanzieren von dem, was man zugibt, getan zu haben, ist etwas, das in sich zu schmerzhaft und quälend erscheint. Wir sind gleichzeitig Väter und Kinder unserer Handlungen: Sie kommen zwar von uns, aber in vieler Hinsicht kommen auch wir von ihnen her; unsere gegenwärtige Wirklichkeit ist gewissermaßen die Summe unserer früheren Willensäußerungen und Handlungsweisen. Zwischen ihnen und uns besteht somit eine komplizierte, unentwirrbare Verbindung.

Unsere Handlungen sind ein Teil von uns: In unserem Fleisch, in unserem Blut tragen wir all unser ver gangenes Verhalten. Darum fällt es so schwer, auch nur uns selbst gegenüber ihre innewohnende Boshaftigkeit einzugestehen und ihr abzuschwören.

Oder, wenn die eigene moralische Unwürdigkeit notgedrungen hervorgehoben werden muß, verfällt man auch leicht reiner und unfruchtbarer Verzweiflung, die nichts mit Reue zu tun hat.

Transzendente Motivation

Die auf dem Evangelium begründete »Metanoia« unterscheidet sich von der einfachen, sterilen und aussichtslosen menschlichen Mutlosigkeit durch die unterschiedliche Motivation, die der Herr Jesus unserer Bedürftigkeit zur Änderung gibt. Er sagt nicht: »Bekehrt euch, ihr Elenden«; was zweifellos der Wahrheit entspricht, aber nicht ausreicht, um uns zu wahrhaft erlösender Einsicht zu führen. Er sagt: »Bekehrt euch, denn das Reich Gottes ist nahe.« Die Energie zur Erneuerung kommt aus der Gewißheit, daß dieses Reich besteht, und aus dem Bewußtsein seiner Nähe.

Die Zukunft (»das Reich«) gibt uns die Kraft, die Vergangenheit zu hinterfragen. Die Hoffnung auf das, was kommt, befähigt uns, mit dem zu brechen, was war. So kann die Vergangenheit – wie auch immer sie war – uns nicht erdrücken und unwiderruflich entmutigen; und die zwar schmerzhafte Gegenwart wird sich aufhellen und mit Freude füllen.

Das Streben nach Umwandlung kommt dem-nach nicht von unten, sondern von oben. Das Erkennen einer transzendenten Wirklichkeit (»das Reich«) – an dem teilzuhaben wir berufen sind – offenbart uns das eigene Elend, bringt uns auf heilsame Art und Weise in Schwierigkeiten, drängt uns gewissermaßen zur Umwandlung unserer Natur, was im wesentlichen nichts anderes ist als der Wunsch, der Versuch, die Entscheidung, dem ebenbildlich zu werden, was über uns ist.

Wie wir sehen, wird bei Gott das möglich, was dem Menschen unmöglich ist: Ursprung der Umkehr ist die Nähe des »Reiches«, das heißt, sie findet ihren Ursprung in der überraschenden Wirksamkeit des Erbarmens des Vaters, des immer neu beginnenden Schöpfers, und steht immer am Anfang seines Arbeitstages.

Die »Metanoia« ist eine neue Schöpfung. Wer Reue zeigt, wird aus der qualvollen Realität seiner Selbstanklage als neuer Mensch hervorgehen; ein Prozeß, der mit dem einer Geburt vergleichbar ist: Schmerzen, die schließlich in unendlicher Freude aufgehen.

Kulturelle und psychologische Schwierigkeiten

Die Kultur, in der wir leben, trägt zweifellos nicht zur Förderung wahrer innerer Umkehr bei. Und zwar nicht, weil es – wie oft gesagt wird – kein Sündenbewußtsein mehr gibt: die stets häufigeren Beschuldigungen und Anklagen, die durch Machtmißbrauch und Unehrlichkeit hervorgerufene ständig massiver werdende Entrüstung, die Ermittlung von Verantwortlichkeiten von Personen und Institutionen in der Geschichte zeugen heute von einem durchaus starken Sündenbewußtsein. Aber es ist das Sündenbewußtsein »anderer«; eine Aufmerksamkeit, die in vielen Fällen wohl legitim sein mag, aber für unsere persönliche Umkehr und Erneuerung nicht von Nutzen ist.

Auch das Beten für »die Sünder« im allgemeinen (oder sogar das Gebet um Vergebung für sie) ist sicherlich lobenswert; aber immer besteht auf psychologischer Ebene die Gefahr, sich einer Kategorie, mit der wir uns eigentlich identifizieren müßten, entgegenzusetzen und sich zu entfremden. Es ist gut, diesen allzu tugendhaften Haltungen mit Mißtrauen zu begegnen. Unendlich ist die List unseres »alten Menschen«, wenn es darum geht, der unangenehmen und lästigen Umkehr auszuweichen.

Unglaubliche Geschicklichkeit beweisen wir, wenn es gilt, Schuld und Fehler anderer aufrichtig zu bedauern und eine stets beschönigende Interpretation unserer Vergehen zu geben. Bei unserem eigenen Handeln jedoch wissen wir die Dinge auf geschickte Weise zu entstellen: erbarmungslose Unnachgiebigkeit erscheint uns beinahe wie größte Übereinstimmung und Treue gegenüber Idealen, Nachgiebigkeit und Kompromisse hingegen werden als verständnisvolle Einsichtigkeit deklariert; Faulheit wird zur Wahrung von Vorsicht und Diskretion gerechtfertigt, und Verschwendung, uneingeschränkter Aktivismus, Flucht vor Kontemplation werden als unermüdlicher Eifer und tätige Nächstenliebe bezeichnet. Diese Beispiele ließen sich verlängern.

All das, um der qualvollen Pflicht zu entgehen, uns selbst in Frage zu stellen, unsere instinktiven Interessen umzuwandeln und unsere abwegigen Gewohnheiten neu zu ordnen. Wer sich aufrichtig mit seinen eigenen Angelegenheiten auseinandersetzt in der Absicht, tatsächlich dem göttlichen Willen zu entsprechen, geht einer keineswegs einfachen, sondern mühevollen Aufgabe entgegen.

Wirkliche Umkehr bedeutet tiefen Seelenschmerz, Suche nach Stille und Einsamkeit, intensives Verlangen nach Frieden. Gewöhnlich verliert man auch den Willen zu belehren, sich anderer anzunehmen, gegen ihre Meinungen zu protestieren, ihr Verhalten zu beurteilen.

Wahre Umkehr ist etwas, was nur zu einem hohen Preis erworben werden kann, denn sie hat großen Wert vor Gott.

»Tamar ist mir gegenüber im Recht«

Wenn »Metanoia« nicht nur verbalen oder rituellen Charakter hat, veranlaßt sie uns, das alte Wort aus der Nachfolge Christi: »Omnes fragiles sumus, sed tu neminem fragiliorem teipso tenebis« – »Wir sind allesamt schwache Menschen; halte du aber keinen für schwächer als dich selbst!« (Thomas von Kempen, Nachfolge Christi I, 2,4; hrsg. v. A. Donders, Kevelaer 1958, S. 13) weder als abstrakt noch als übertrieben zu betrachten.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen außergewöhnlichen Kommentar des hl. Ambrosius hinweisen. Darin bezieht der Bischof von Mailand jene Worte auf sich selbst, mit denen Juda in der Genesis von Tamar spricht, seiner unternehmungslustigen und skrupellosen Schwiegertochter, die das zu erreichen versucht, was ihr ihrer Meinung nach zusteht. »Sie ist mir gegenüber im Recht« (Gen 38,26). Es kann in diesem Zusammenhang nützlich sein, den Worten des Heiligen zu folgen.

 »Jedesmal, wenn es sich um die Sünde dessen handelt, der schwach geworden ist, erlaube mir, Mitleid mit ihm zu haben und ihn nicht hochmütig zurechtzuweisen, sondern zu klagen und zu weinen, denn wenn ich über einen anderen weine, weine ich über mich selbst und sage: ›Tamar ist mir gegenüber im Recht.‹

Vielleicht ist ein junges Mädchen von jenen Situationen getäuscht und überwältigt worden, die zur Sünde einladen. Auch wir Alten sündigen, das Gesetz unseres Fleisches lehnt sich auf gegen das Gesetz unseres Geistes und macht uns zu Gefangenen der Sünde, damit wir das tun, was wir nicht tun wollten. Jene hat die Entschuldigung ihres Alters, ich aber habe keine: sie muß noch lernen, ich hingegen muß lehren. Also ›Tamar ist mir gegenüber im Recht.‹

Können wir jemanden aufgrund seines Geizes tadeln? Versuchen wir, uns zu erinnern, ob wir selbst nicht manchmal geizig sind; wenn dem so ist, sollte jeder von uns zu sich selbst sagen: ›Tamar ist mir gegenüber im Recht‹.

Wenn wir uns in schwerem Zorn gegen jemanden gerichtet haben – ein Laie trägt geringere Verantwortung als ein Bischof für das, was er im Zorn getan hat. Wir wollen darüber nachdenken und sagen: ›Jener, der aufgrund seines Zorns getadelt wird, ist mir gegenüber im Recht‹…

Schämen wir uns also nicht einzugestehen, daß unsere Schuld größer ist als die desjenigen, den wir glaubten tadeln zu müssen, denn so sprach Juda, als er Tamar zur echtwies und angesichts seiner eigenen Schuld ausrief: ›Tamar ist mir gegenüber im Recht‹« (vgl. De paenitentia I I, 73–77).

Wir müssen »a priori« davon ausgehen (was die Erfahrung, wenn wir sie mit absoluter Aufrichtigkeit berücksichtigt wird, täglich »a posteriori« bestätigt), daß unser Geist nicht vollends der Wahrheit untersteht, unser Gewissen nicht vollends von der Gerechtigkeit beherrscht ist, unsere Existenz nicht vollkommen der erlösten und heiligen Realität der Kirche angehört.

Ferner müssen wir »a priori« davon ausgehen, daß keiner der Gesprächspartner, denen wir begegnen, auch nicht der entfernteste und fremdartigste, vollkommen ohne Licht ist, ausgeschlossen von der Erlösung Christi, vollkommen unerreichbar für jene Erneuerung, die der Heilige Geist in aller Welt und in den Herzen der Menschen wirkt.

Bekehrung bedeutet auch, das Böse überall, auch in uns selbst, als solches zu erkennen; es bedeutet, das Gute überall als solches zu erkennen, auch in demjenigen, dessen Abstammung und Herkunft weit entfernt ist von der unseren.

Der Erneuerer wird zu unserem »Nächsten«

Bis jetzt hatte unsere Meditation in erster Linie moralischen und psychologischen Charakter. Entsprechend soll nun zum Abschluß, oder vielmehr auf dem Höhepunkt der Überlegungen, das theologische Fundament von Umkehr und Erneuerung behandelt werden.

Ein Bekenntnis der eigenen Schwäche, das zur Voraussetzung für eine andere, höhere Existenz wird, tiefes Bedauern, das jedoch in Freude übergeht, ist nur dort möglich, wo der Mensch nicht in sich verschlossen bleibt, ein Gefangener seiner Vergänglichkeit und Schwäche, sondern sich vielmehr – vor allem im Bereich des Seins – in einer zumindest anfänglichen Gemeinschaft mit einem Heilsprinzip und mit einer zutiefst neuen Realität befindet, um unerschöpfliche Kraft zur Erneuerung zu gewinnen.

Daher gibt es außerhalb des Christentums – außerhalb der Perspektive »des Reiches« – praktisch keine Umkehr im wahren Sinn des Wortes. Wir mögen Gram, Niedergeschlagenheit, Scham empfinden für Niederträchtigkeiten, die wir bereuen; wir mögen Entrüstung verspüren für die Vergehen anderer. Aber all das hat mit Umkehr nichts zu tun.

»Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.«

Was ist eigentlich dieses Reich, das unserer Armut so nahe ist, daß es uns innerlich zutiefst verwandeln kann? In seiner konkretesten und vollständigen Wahrheit ist es der Sohn Gottes selbst, der für uns Mensch geworden, gekreuzigt und auferstanden ist.

Diese Identifizierung ist im Bewußtsein der ersten christlichen Gemeinde bereits deutlich vorhanden, denn häufig sind beide Konzepte in ihrer Ausdrucksweise austauschbar. »Um des Reiches Gottes willen« (vgl. Lk 18,29) ist im gleichen Kontext eine Variante von »um meines Namens willen« (Mt 19,29). Die jubelnden Zurufe der Menge beim Einzug Jesu in Jerusalem, im allgemeinen mit den Worten: »Gesegnet sei er, der kommt«, wiedergegeben, erhalten bei Markus eine Alternative: »Gesegnet sei das Reich…, das nun kommt« (Mk 11,10). In dem gleichen eschatologischen loghion wird der Satz »den Menschensohn … sehen« (Mt 16,28) zu »das Reich Gottes sehen« (vgl. Mk 9,1).

Hierin – in der Existenz und der »Nähe« des Reiches, das heißt eines ständigen Erlösers (Ursprung einer »ewigen Erlösung« [Hebr 9,12], wie es im Brief an die Hebräer heißt) – liegen Grund und Ursache unserer täglichen Wiedergeburt.

»Alles also haben wir in Christus« – bedenkt noch einmal der hl. Ambrosius in einem berühmten Text. – »Jede Seele soll zu ihm hingehen, gleichviel ob sie an Fleischessünden todkrank ist, wie mit Nägeln festgeheftet an sündhafte Begierden, oder ob sie, trotz ihrer Bemühungen in Gebet und Betrachtung, noch in Unvollkommenheit wankt […] Jede Seele ist in der Hand des Herrn, und Christus ist für uns alles: Willst du, daß deine Wunde heilt: er ist der Arzt; glühst du vor Fieberhitze: er ist erfrischende Quelle; sinkst du zusammen unter der Ungerechtigkeit deiner Werke: er ist die ewige Gerechtigkeit; bedarfst du der Hilfe: er ist die Allmacht; fürchtest du den Tod: er ist das Leben; verlangst du zum Himmel: er ist der Weg; willst du die Finsternis fliehen: er ist das Licht; suchst du Speise: er ist das Brot des Lebens« (De virginitate , 99; Ausgewählte Schriften, hrsg. von F. X. Schulte, Kempten 187, Bd. 1, S.181).

Durch das Kreuz und die Demütigung des Gottessohnes ist der Mensch fähig, über das hinauszugehen, was in seinem Verhalten natürlich nur zu Schmach und Erniedrigung führen würde, indem er es zur Voraussetzung der Verherrlichung macht: »Deine Schmach, Herr, ist die Rettung aller. Aufgrund deiner Schande brauchen wir uns nicht mehr zu schämen, wir, die wir uns geschämt haben, wir brauchen nicht mehr verwirrt zu sein, wir, die wir verwirrt waren« (vgl. In psalmum 118 V, 42).

Der Erlöser des Universums ist gekommen: »Er ist allen der Nächste, er, der allen Barmherzigkeit geschenkt hat« (vgl. De Abraham I, 85). Daher bezieht sich das Gebot, »den Nächsten zu lieben« – das typische Zeichen der »Bekehrung«, das heißt der Überwindung des Egoismus – in erster Linie auf ihn: »Weil uns niemand nähersteht als der, welcher unsere Wunden heilte, so laßt uns ihn lieben als den Herrn, lieben auch als den Nächsten. Denn nichts steht sich so, wie das Haupt den Gliedern, am nächsten« (In Lucam VII, 84; Lukaskommentar, BKV, Bd. 2, hrsg. von J. E. Niederhuber, Kempten 1915, S. 368).

Die Kirche als Sakrament des bevorstehenden Reiches

»Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.«

Nicht nur Jesus von Nazaret, der Eingeborene des Vaters wie auch der Eingeborene Mariens, ist das nun bevorstehende Reich Gottes, sondern auch »Christus totus«, das heißt die Kirche. »Ecclesia« – wie das II. Vatikanische Konzil so wunderbar hervorhebt – »seu Regnum Dei iam praesens in mysterio« (Lumen gentium, 3: »Die Kirche, das heißt das im Mysterium schon gegenwärtige Reich Christi«).

Es ist uns deshalb möglich, uns nach jedem Fall wieder aufzurichten und »Tag für Tag zu erneuern« (vgl. 2 Kor 4,16), weil wir auf den »heiligen Stamm« (1 Petr 2,9) zählen können, der gewissermaßen das »Sakrament des kommenden Reiches« ist. Unsere stete Läuterung und Heiligung sind in uns der Widerschein der immerwährenden Heiligkeit der Braut Christi, die wir daher zu Recht als unsere Mutter anerkennen, weil sie uns Tag für Tag zu neuem Leben führt.

Die Gewißheit der Heiligkeit unserer Mutter ist für uns, ihre sündigen Kinder, der Grund aller Hoffnung. Daher versäumt keines der alten Glaubensbekenntnisse, die Wahrheit von der »heiligen Kirche« zu berücksichtigen: unter den ekklesiologischen »Aussagen« ist das die einzige, die nie fehlt.

»Schau nicht auf unsere Sünden, sondern auf den Glauben deiner Kirche«: Das muß unsere ständige Bitte sein, die richtige Einstellung auf dem Weg unserer Bekehrung. Noch einmal dient in diesem Zusammenhang die Lehre des hl. Ambrosius: »Wenn du dir keine Hoffnung auf Nachlaß der schweren Sünden machen kannst« – schreibt er – , »sieh dich um Fürsprecher, sieh dich um die Kirche um, die für dich flehen soll; in Anbetracht derer der Herr dir Verzeihung gewährt, die er dir sonst verweigern könnte« (In Lucam V, 11; Lukaskommentar, a.a.O., S. 210). »Möge sie für dich weinen; möge sie Tränen vergießen über deine Sünden…« (vgl. In Psalmum 37,10).

Die Kirche ist die gerechte Mutter aller Menschen: »Sie sorgt nicht nur für die Betreuung der Verwundeten und die Stärkung der Müden und Schwachen, sondern besprengt sie auch mit dem lieblichen Duft der Gnade. Und nicht nur über die Reichen und Mächtigen ergießt sie diese Gnade, sondern auch über Frauen und Männer des Volkes: für sie sind alle gleich, sie nimmt alle auf und wärmt jeden in dem gleichen Schoß« (vgl. Epistulae Extra coll. I, 22).

Schluß

Die Jahre vergehen, und noch immer läßt unsere radikale Umkehr auf sich warten. Wenn man die Schwelle des Alters überquert – was immer völlig unerwartet geschieht – ist man versucht zu glauben, Gott könnte unseres Zögerns müde werden. Jedoch dürfen wir nie aufhören, auf seine geduldige Barmherzigkeit zu vertrauen.

Dann kann es nützlich sein, vom »Gebet des Nachzüglers« Gebrauch zu machen. Es handelt sich um einen ziemlich ungewöhnlichen Text aus der ambrosianischen Liturgie für die Karwoche, in dem man sich auf kühne Art und Weise in die »törichten Jungfrauen« des Gleichnisses hineinversetzt:

 »Verschließe nicht deine Tür, auch wenn ich zu spät gekommen bin.
 Verschließe nicht deine Tür: ich bin gekommen und habe angeklopft.
 Barmherziger Gott, öffne dem, der dich unter Tränen sucht.
 Laß mich teilhaben an deinem Gastmahl, schenke mir das Brot des Reiches« (vgl . Confractorium vom Montag der Karwoche).

 

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