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   AUßERORDENTLICHES KONSISTORIUM

REFERAT VON S. E. KARDINAL JEAN-MARIE LUSTIGER

Montag, 21. Mai 2001

 

Heiliger Vater! 

Die sieben für dieses Außerordentliche Konsistorium vorgeschlagenen Themen benennen die pastoralen Notwendigkeiten, die die Feier des Jubiläumsjahres aufgezeigt hat und die Sie schon in den Kapiteln III und IV Ihres Apostolischen Schreibens Novo millennio ineunte behandelt haben. 

Aus welcher Perspektive müssen wir über diese Fragestellungen nachdenken und nach welcher Methode sollen wir ein Pastoralprogramm ausarbeiten, das nicht nur unseren Ortskirchen entspricht, sondern auch Gegenstand der Anstrengungen und des Einsatzes auf Ebene der Gesamtkirche sein kann? 

– Aus welcher Perspektive? 

Wir können auf diese Frage nur durch die Identifizierung des Subjekts dieses Vorhabens antworten. Es ist die Kirche, nicht aus menschlicher Sicht verstanden als eine der Institutionen des Sozialgefüges der Menschheit, sondern betrachtet mit den Augen des Glaubens als Braut Christi. In ihr entfaltet der Herr den Erlösungsplan für alle Menschen; in ihr versammelt er alle, die der Vater ihm anvertraut, damit sie seine Jünger seien. Für die Kirche liegen also Quelle und Richtschnur ihres Wirkens in der innigen Beziehung der Gläubigen zu ihrem Herrn, in der Gabe des Heiligen Geistes. 

– Nach welcher Methode? 

Wir müssen tiefgehend über das Verhältnis zwischen Zweck und Mitteln nachdenken. Die Mittel müssen dem Zweck angepaßt sein. Die Weisungen Jesu an die Zwölf, als er sie aussendet, »in aller Armut« das Reich Gottes zu verkünden, schreiben sehr deutlich die paradoxen Mittel vor, die dieser gemeinschaftlichen Sendung entsprechen (vgl. Mt 10). 

Wenn wir über diese Fragen nachdenken, können wir tiefer in das Verständnis des Geheimnisses Christi, des einzigen »Programms« der Kirche, eindringen. Die Aktualität dieses Programms wird vom Heiligen Geist, der im Haus Gottes am Wirken ist, unaufhörlich deutlich gemacht. Der Anfang von Kapitel III in Novo millennio ineunte (29) stellt diesen aus menschlicher Sicht paradoxen Grundsatz eindeutig dar: 

»Wir stellen uns diese Frage mit zuversichtlichem Optimismus, ohne dabei die Probleme zu unterschätzen. Das verleitet uns sicher nicht zu der naiven Ansicht, im Hinblick auf die großen Herausforderungen unserer Zeit könnte es für uns eine ›Zauberformel‹ geben. Nein, keine Formel wird uns retten, sondern eine Person, und die Gewißheit, die sie uns ins Herz spricht: Ich bin bei euch

Es geht also nicht darum, ein ›neues Programm‹ zu erfinden. Das Programm liegt schon vor: Seit jeher besteht es, zusammengestellt vom Evangelium und von der lebendigen Tradition. Es findet letztlich in Christus selbst seine Mitte. Ihn gilt es kennenzulernen, zu lieben und nachzuahmen, um in ihm das Leben des dreifaltigen Gottes zu leben und mit ihm der Geschichte eine neue Gestalt zu geben, bis sie sich im himmlischen Jerusalem erfüllt. Das Programm ändert sich nicht mit dem Wechsel der Zeiten und Kulturen, auch wenn es für einen echten Dialog und eine wirksame Kommunikation die Zeit und die Kultur berücksichtigt. Es ist unser Programm für das dritte Jahrtausend. « 

Diese Grundsatzmeditation erleuchtet die Zeit der Kirche, ihre Gegenwart und ihr Wirken. 

1. Mit der Feier des Großen Jubiläumsjahres 2000 sind wir in das dritte Jahrtausend der christlichen Zeitrechnung eingetreten: novum millennium

Schon in Gaudium et spes wird festgestellt: »Hodie genus humanum in nova historiae suae aetate versatur in qua profundae et celeres mutationes ad universum orbem gradatim extenduntur« [Heute steht die Menschheit in einer neuen Epoche ihrer Geschichte, in der tiefgehende und rasche Veränderungen Schritt um Schritt auf die ganze Welt übergreifen] (4). Wir sind in diese »aetas nova« eingetreten, die eine Neuvangelisierung unsererseits erfordert. In dieser Hinsicht könnte man sagen, daß die Verkündigung des Evangeliums noch an ihren Anfängen steht und heute eine Kraft des Heils, der Gerechtigkeit und des Friedens entfaltet, die die Menschen in den Beschränkungen der alten Welt nicht einmal erahnen konnten. 

Für diese neue Welt, deren künftige Formen wir noch nicht erkennen können, hat das vom Evangelium verkündete Heil seine unvergängliche Neuheit nicht verloren. Es vermittelt den Kindern Gottes die einzige menschenwürdige Antwort auf die neuen Herausforderungen, die die Globalisierung der Menschheitsfamilie mit sich bringt. 

Heiliger Vater, Sie eröffnen Ihr Apostolisches Schreiben mit der Einladung an die Kirche, für den »neuen Wegabschnitt« das Wort der ersten Aussendung Simons anzunehmen: »Duc in altum!«  Die Evangelisierung der »aetas nova« muß also mit den Prüfungen und den unergründlichen Reichtümern, die Gott seiner Kirche offenbaren wird, beginnen. Vielleicht stehen wir erst am Beginn der christlichen Epoche. 

2. Unser Gedankenaustausch wird sich auf die im zweiten Teil ihres Schreibens zusammengefaßten programmatischen Punkte konzentrieren. Wir müssen mehr denn je die Augen des Glaubens auf Christus, unseren Meister und Herrn, gerichtet halten, denn er allein öffnet unseren Verstand und unser Herz der Erkenntnis der Wege Gottes, indem er uns den Heiligen Geist schenkt. Er allein lehrt uns die wahren Bedingungen für das Wirken seiner Kirche. 

Es existiert in der Tat eine vollkommene Entsprechung zwischen den Werken Christi und den bescheidenen Mitteln, die wir zu mobilisieren aufgerufen sind, um den heilsbringenden Willen des Vaters zu tun und die uns vom Sohn anvertraute Sendung der Versöhnung auszuführen: »Darum geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes« (Mt 28,19). 

3. Sind die Mittel denn neutral? Können sie alle für den Dienst am Evangelium geeignet sein, vorausgesetzt natürlich, daß sie keinerlei Elemente enthalten, die dem sittlichen Wohl entgegenstehen? 

Es wird möglicherweise weniger schwierig sein, für die untersuchten Themen technische Lösungen vorzuschlagen (so wie etwa für die Kommunikationsmittel oder für das Wirtschaftsleben, das einen Teil der Menschheit im Elend und Hunger beläßt oder gar in sie hineinstürzt, oder für den Fortschritt der Wissenschaften bei gleichzeitiger Achtung unserer menschlichen Beschaffenheit). Vielleicht kann man einige Verfahren empfehlen, die von den Human- und Sozialwissenschaften und von den vielfältigen, gegenwärtig entwickelten Betriebsführungsmethoden entlehnt sind. 

Diese Suche nach Effizienz, die für unser ganzes Zeitalter kennzeichnend ist, verursacht aber für den Menschen neben den erhofften Wohltaten genauso große Leiden und Übel. Denn im Leben des Menschen nehmen die Mittel, für die man sich entscheidet, oft die Gestalt des Zwecks an; sie werden darauf verkürzt, uneingestandenen Zielsetzungen dienen zu müssen: Machtwillen, Vergnügungssucht, Profit, Ruhm oder Eitelkeit … Kurz: Wir machen die Mittel zu Idolen. Unsere Idole bleiben verborgen. 

Die Mittel dürfen nicht die Stelle des Zwecks einnehmen. Das trifft schon für die politische Tätigkeit, das Wirtschaftsleben und alle anderen menschlichen Vorhaben zu, die sich den Dienst am Gemeinwohl der Menschen zum Ziel setzen müssen. Um so weniger dürfen die menschlichen Mittel den göttlichen Zweck der Kirche und ihre Sendung zur Heiligung des Namens Gottes ersetzen. 

Wenn wir uns mit scheinbar technischen Entscheidungen im Evangelisierungswerk zufrieden gäben, würden wir das Subjekt der Aktion, das die Kirche selbst ist, verkennen. Außerdem würde dies bedeuten, das ursprüngliche Wesen der ihr von Christus anvertrauten Sendung zu mißachten: für das Heil und die Heiligung aller Menschen arbeiten. Sich mit menschlichen Mitteln zu begnügen würde bedeuten, das Antlitz des einzigen Mittlers, des einzigen Weges zwischen Gott und den Menschen zu vergessen. 

4. Es geht in diesem auf Christus ausgerichteten Programm nämlich darum, den Aufruf anzunehmen, der jeden Tag und durch alle Generationen im Herzen der Kirche erklingt: der Aufruf des Heilands zur Umkehr, der Aufruf, das vom auferstandenen Herrn empfangene Wort des Lebens anzunehmen und umzusetzen. Der Geist öffnet unsere verhärteten Herzen unaufhörlich für das Erkennen Christi, und er läßt durch die Kirche Denjenigen erkennen und lieben, aus Dem sie ihr Leben erhält, denn sie ist von Ihm und durch Ihn. 

Das, was ein berühmtes Werk von Kardinal Congars als Vraie et fausse réforme dans l ’Eglise bezeichnete, wurde mit den Worten des sel. Johannes XXIII. zum »aggiornamento«. Es bedeutete, Christus, die Sonne der Gerechtigkeit, zu Tage kommen zu lassen. Dieses »aggiornamento« erfordert die Neuevangelisierung der »nova aetas« – als prophetische Verkündigung der neuen Schöpfung im Auferstandenen. 

In der stets erneuerten Evangelisierung besteht die wesentliche Sendung der Kirche. Sie bezeichnet ihre pastorale Tätigkeit. 

5. Nach menschlichen Maßstäben wird eine Umorganisation autoritär auferlegt, und es nimmt Zeit in Anspruch, bis sie akzeptiert wird. Sie verlangt in menschlicher Hinsicht immer ihren Preis, zuweilen sogar Opfer, und sie kommt oft von ihren Zielen ab. Die revolutionäre Periode in Osteuropa während fast eines Jahrhunderts ist ein Beispiel hierfür. 

Sie erinnern uns daran: In der Kraft und Sanftheit des Geistes Jesu handelt die Kirche auf andere Weise. Die Kirche kann ihre besondere Erneuerung nur leben, indem sie sich zu ihrem Herrn bekehrt und das Antlitz Gottes sucht – fügsam gegenüber dem Heiligen Geist, damit Nächstenliebe und Liebe die Quelle und Kraft jeder Erneuerung seien. 

So kann eine Veränderung als Ausdruck einer größeren Barmherzigkeit und einer größeren Treue angenommen und gewünscht werden: 

– einer größeren Barmherzigkeit gegenüber den Geringsten, den Armen und denen, die nicht verstehen oder nicht wissen, was sie tun; 

– einer größeren Treue gegenüber Christus selbst und seinem Geist, der nicht aufhört, dem Volk Gottes innezuwohnen, es zu leiten und zum Vater zu führen. 

Wenn wir auf diesem Weg der Bescheidenheit und Armut vorangehen, werden die von uns vorgeschlagenen Fortschritte nicht Ursache von Brüchen und Trennungen sein, sondern im Gegenteil neue Bekehrungen und eine größere Liebe zum einzigen Herrn wecken. 

Trotz aller unvermeidlichen Mißverständnisse zwischen den christlichen Völkern – mit so unterschiedlicher Geschichte, Kultur und Interessen – werden wir unseren Brüdern und Schwestern im Menschengeschlecht helfen, einander in einer wahren Gemeinschaft zu akzeptieren, ja einander sogar zu lieben.

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