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Internationale Theologische Kommission

 

DIE EINHEIT DES GLAUBENS UND DER THEOLOGISCHE PLURALISMUS*

(1972)

 

 

Dimensionen der Fragestellung

1. Einheit und Pluralität im Ausdruck des Glaubens haben ihr letztes Fundament im Christusmysterium selbst. Dieses ist zwar ein Mysterium universeller Wiederherstellung (recapitulatio) und Versöhnung (Eph 2,11–22), überschreitet aber gerade darum die Aussagemöglichkeiten jeder geschichtlichen Epoche und entzieht sich damit jeglicher abschließenden Systematisierung (Eph 3,8–10).

2. Die Zwei-Einheit von Altem und Neuem Testament als grundlegender geschichtlicher Ausdruck christlichen Glaubens bietet einen konkreten Ausgangspunkt für die Viel-Einheit dieses Glaubens.

3. Die Dynamik des christlichen Glaubens und ganz besonders sein missionarischer Charakter schließen die Verpflichtung zu rationaler Rechenschaft ein. Der Glaube ist keine Philosophie, aber er prägt dem Denken eine Richtung ein.

4. Die Wahrheit des Glaubens ist gebunden an ihren geschichtlichen Weg von Abraham bis zu Christus und von Christus bis zur Parusie. Folglich besteht die Rechtgläubigkeit nicht in der Zustimmung zu einem System, sondern in der Teilhabe am Weg des Glaubens und so am Ich der Kirche, die durch die Zeit hindurch als die eine subsistiert und das wahre Subjekt des Credo ist.

5. Dass die Wahrheit des Glaubens im Gehen eines Weges gelebt wird, schließt ihre Bezogenheit auf die Praxis und auf die Geschichte des Glaubens ein. Da der christliche Glaube in dem fleischgewordenen Wort gründet, unterscheidet sich der geschichtliche und praktische Charakter des Glaubens wesentlich von einer Form der Geschichtlichkeit, in der der Mensch allein Schöpfer seines eigenen Sinnes ist.

6. Die Kirche ist das umfassende Subjekt, in dem die Einheit der neutestamentlichen Theologien wie auch die Einheit der Dogmen im Verlauf der Geschichte gegeben ist. Sie gründet auf dem Bekenntnis zu Jesus Christus, dem Gestorbenen und Auferstandenen, das sie in der Kraft des Heiligen Geistes verkündet und feiert.

7. Das Kriterium, das es gestattet, zwischen wahrem und falschem Pluralismus zu unterscheiden, ist der Glaube der Kirche, wie er ausgedrückt ist in der organischen Ganzheit seiner normativen Äußerungen. Das grundlegende Kriterium ist die Schrift in ihrer Beziehung zum Bekenntnis der glaubenden und betenden Kirche. Unter den dogmatischen Formulierungen haben diejenigen der frühen Konzilien den Vorrang. Formeln, die eine Reflexion des christlichen Denkens ausdrücken, sind denjenigen untergeordnet, die die Tatsachen des Glaubens selbst nennen.

8. Auch wenn die gegenwärtige Situation der Kirche den Pluralismus ausweitet, so findet die Pluralität doch ihre Grenze in der Tatsache, dass der Glaube die Gemeinschaft der Menschen in der Wahrheit stiftet, die durch Christus zugänglich geworden ist. Daher ist jede Vorstellung unzulässig, die den Glauben auf ein rein pragmatisches Zusammenwirken ohne Kommunikation in der Wahrheit reduziert. Diese Wahrheit ist nicht an eine bestimmte theologische Systematisierung gebunden, findet jedoch Ausdruck in den normativen Glaubensformulierungen.

Wo die Lehre in einer schwerwiegend vieldeutigen, ja geradezu mit dem kirchlichen Glauben unvereinbaren Weise dargestellt wird, hat die Kirche die Möglichkeit, den Irrtum als solchen zu kennzeichnen, und die Pflicht, ihn auszuscheiden bis hin zur förmlichen Verwerfung der Häresie als letztem Mittel, um den Glauben des Gottesvolkes zu schützen.

9. Aufgrund des universalen und missionarischen Charakters des christlichen Glaubens müssen die von Gott geoffenbarten Ereignisse und Worte in jeder menschlichen Kultur je aufs Neue durchdacht, neu formuliert und zum Leben gebracht werden. Nur so wird diese göttliche Offenbarung zur Antwort auf die in jedem Menschenherzen verwurzelten Fragen, und nur so wird sie das Gebet, den Kult und das tägliche Leben des Gottesvolkes inspirieren. Auf diese Weise führt das Evangelium Christi jede Kultur ihrer Fülle entgegen und unterwirft sie gleichzeitig einer schöpferischen Kritik. Die Ortskirchen, die sich unter Führung ihrer Hirten der schwierigen Aufgabe der Inkarnation des christlichen Glaubens widmen, müssen stets die Kontinuität und Gemeinschaft mit der Gesamtkirche der Vergangenheit und der Gegenwart wahren. Durch ihre Bemühungen tragen sie sowohl zur Vertiefung des christlichen Lebens als auch zum Fortschritt der theologischen Reflexion in der Gesamtkirche bei und führen die Menschheit in all ihrer Vielfalt zur Einheit, wie Gott sie will.

 

Die Dauerhaftigkeit der Glaubensformulierungen

10. Die dogmatischen Formeln sind als Antworten auf präzise Fragen zu betrachten, und in dieser Hinsicht bleiben sie immer wahr. Ihre beständige Bedeutsamkeit hängt von der sich durchhaltenden Aktualität der Fragen ab, um die es geht. Ja, man darf nicht vergessen, dass die Fragen, die sich die Christen im Verlauf der Geschichte über die Bedeutung des Wortes Gottes stellen, und ihre schon gewonnenen Antworten sich gegenseitig hervorbringen, so dass die Antworten von heute immer in irgendeiner Weise diejenigen von gestern voraussetzen, auch wenn sie nicht darauf reduzierbar sind.

11. Die dogmatischen Definitionen benützen gewöhnlich die Alltagssprache, und selbst wenn sie anscheinend philosophische Termini verwenden, verpflichten sie die Kirche nicht auf eine bestimmte Philosophie, sondern beziehen sich eher auf Wirklichkeiten, die der gemeinsamen menschlichen Erfahrung zugrunde liegen und die die betreffenden Termini zu bezeichnen erlauben.

12. Diese dogmatischen Definitionen dürfen niemals losgelöst von dem besonders authentischen Ausdruck des Wortes Gottes in der Heiligen Schrift betrachtet werden und nicht getrennt von der gesamten Verkündigung des Evangeliums in jeder Zeit. Sie liefern andererseits dieser Verkündigung Normen für eine immer angemessenere Interpretation der Offenbarung. Diese Offenbarung bleibt jedoch immer dieselbe, nicht nur ihrer Substanz nach, sondern auch in ihren grundlegenden Aussagen.

13. Der Pluralismus im Bereich der Ethik zeigt sich vor allem bei der Anwendung der allgemeinen Grundsätze auf die konkreten Umstände. Er weitet sich noch aus, wenn Kontakte zwischen Kulturen entstehen, die einander bisher nicht kannten, oder infolge rascher Veränderungen innerhalb der Gesellschaft.

Eine grundlegende Einheit bekundet sich jedoch in der gemeinsamen Schätzung der Menschenwürde, die Imperative für die Lebensführung einschließt.

Das Gewissen jedes Menschen stellt ihm eine Anzahl fundamentaler Forderungen vor Augen (Röm 2,14), die in unserer Zeit in öffentlichen Erklärungen über die wesentlichen Menschenrechte anerkannt worden sind.

14. Die Einheit der christlichen Ethik gründet auf dauerhaften Prinzipien, die in den Schriften enthalten sind, von der Überlieferung erhellt und jeder Generation vom Lehramt vorgestellt werden. Als die wichtigsten Grundzüge rufen wir in Erinnerung: die Lehren und Beispiele des Gottessohnes, der das Herz des Vaters offenbart, die Gleichgestaltung mit seinem Sterben und Auferstehen, das Leben gemäß dem Geist im Schoß seiner Kirche, in Glaube, Hoffnung und Liebe, um nach dem Bilde Gottes erneuert zu werden.

15. Die notwendige Einheit des Glaubens und der Gemeinschaft behindern nicht eine Vielfalt von Berufungen und von persönlichen Zugangsweisen, um sich dem Mysterium Christi zu nähern und es zu leben.

Die Freiheit des Christen (Gal 5,1.13) enthält so wenig einen schrankenlosen Pluralismus, dass sie vielmehr eine Anstrengung auf die umfassende objektive Wahrheit hin und zugleich Geduld mit den schwachen Gewissen fordert (Röm 14, 15; 1 Kor 8).

Der Respekt vor der Autonomie der menschlichen Werte und vor der rechtmäßigen Verantwortung in diesem Bereich schließt die Möglichkeit ein, dass es bei den Christen zu einer Verschiedenheit von Analysen und Optionen in weltlichen Angelegenheiten kommt. Diese Vielfalt kann in ein und demselben Glaubensgehorsam und in Liebe angenommen werden (GS 43).

 

* Sätze, von der Internationalen Theologischen Kommission in forma specifica approbiert.

 

 
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