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Erinnern und Versöhnen.
Vorstellung des Dokuments der
Internationalen Theologischen Kommission

 

 Joseph Kard. Ratzinger

 

Verehrte Damen und Herren, ich möchte Sie um Entschuldigung bitten, daß ich keinen schriftlichen Text vorbereitet habe, aber die vielen Verpflichtungen der vergangenen Wochen machten mir dies nicht möglich. Zumindest werde ich versuchen, mich kurz zu fassen. Im übrigen wurde das, was mir am Herzen lag, von Kardinal Etchegaray bereits auf wundervolle Weise gesagt.

Zur Vorstellung dieses Dokuments der Internationalen Theologenkommission kann es nützlich sein, zunächst den Autor vorzustellen. Der Autor ist die Internationale Theologenkommission, die 1969 von Papst Paul VI. aufgrund eines Vorschlages der Bischofssynode gegründet wurde. Die Bischöfe hatten damals den Wunsch zum Ausdruck gebracht, daß die beim Konzil so fruchtbare Zusammenarbeit zwischen dem Lehramt und den Theologen in aller Welt ein wenig institutionalisiert werden sollte und auch in Zukunft als Instrument dieser ständigen Zusammenarbeit fungieren könnte. Aus dieser gegenseitigen Beachtung zwischen Lehramt und Theologen in der Welt wurde diese Kommission geschaffen. Sie besteht aus 30 Mitgliedern, die von den verschiedenen Bischofskonferenzen vorgeschlagen und dann vom Papst für jeweils fünf Jahre ernannt werden. Die Mitglieder können dann für weitere fünf Jahre in ihrem Amt bestätigt werden. Wir befinden uns derzeit im sechsten Fünfjahres-Zeitraum dieser Kommission, die Theologen aus allen Teilen der Welt zusammenführt. Diese Theologen genießen das Vertrauen ihrer Bischöfe und spiegeln auf diese Weise ein wenig die internationale Theologen-Gemeinschaft und deren Denken in einem bestimmten Moment wider. Diese Kommission ist frei in ihrem Forschen. Ihr Vorsitzender ist in der Tat der Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, aber als Moderator, der vor allem die Beachtung der Regeln und die Freiheit des Forschens in dieser Kommission durchsetzen muß, die in voller Freiheit die zu untersuchenden Themenbereiche auswählt. Daneben besteht auch die Möglichkeit, daß Organe des Hl. Stuhls und auch Episkopate sie einladen, ein bestimmtes Thema zu untersuchen, das für das Lehramt wichtig zu sein scheint.

In diesem Fall haben die Theologen – angesichts der Absicht des Heiligen Vaters, einen öffentlichen Akt der Reue der Kirche für die Sünden der Vergangenheit und Gegenwart vorzunehmen – die Notwendigkeit gesehen, über die theologische Bedeutung dieser Geste nachzudenken. In der Tat ist die »Neuheit« dieser Geste hervorgehoben worden. Um so mehr sehen die Theologen die Notwendigkeit, die Wurzeln in der Geschichte kennenzulernen, die historischen Vorgaben zu untersuchen, wie die Idee einer solche Geste entstehen konnte und welchen Platz sie in der Geschichte und in der Wirklichkeit der Kirche findet. Ich möchte hier nicht zu sehr in die Einzelheiten dieses Dokuments vordringen, denn hierauf wird Pater Cottier noch näher eingehen. Statt dessen möchte ich ein wenig meine persönlichen Überlegungen hinsichtlich meiner Teilnahme an diesen Arbeiten und an den Diskussionen der Theologen darlegen. Mir schien – und ich fühle mich durch die Arbeit der Theologen bestätigt –, daß die Geste des Papstes in der heute vorgestellten Form neu ist und dennoch in einer tiefen Kontinuität mit der Geschichte der Kirche steht – mit ihrem Selbstverständnis, mit ihrer Antwort auf das Handeln Gottes. Andere werden andere Modelle finden – ich habe gewissermaßen drei Modelle einer ähnlichen Geste gefunden, die wesentlich und schon immer zum Leben der Kirche gehören.

In den Zeitungen spricht man zu Recht vom »Mea culpa« des Papstes im Namen der Kirche, und damit zitiert man ein liturgisches Gebet, das »Confiteor«, das jeden Tag in die Feier der Liturgie einführt. Der Priester, der Papst, die Laien, alle bekennen in ihrem Ich – jeder einzeln und alle gemeinsam vor Gott und in Gegenwart der Brüder und Schwestern – ,gesündigt zu haben, Schuld, ja sogar übergroße Schuld zu haben. Mir scheinen zwei Aspekte dieses Beginns der heiligen Liturgie wichtig. Einerseits spricht man in der Ich-Form: »Ich« habe gesündigt, und ich bekenne nicht die Sünden der anderen, ich bekenne nicht anonyme Sünden eines Kollektivs, ich bekenne mit meinem »Ich«. Aber gleichzeitig sind es alle Mitglieder, die mit ihrem »Ich« sagen, »ich habe gesündigt «, das heißt, die gesamte lebendige Kirche sagt in ihren lebenden Mitgliedern dies: »Ich habe gesündigt. « Und damit kommt in dieser Gemeinschaft des Bekennens ein Bild der Kirche zum Ausdruck: Jenes vom II. Vatikanischen Konzil in Lumen gentium I,8 angegebene: »Ecclesia …Sancta simul et semper purificanda, poenitentiam et renovationem continuo prosequitur«, die Kirche ist gleichzeitig heilig und bedarf, um heilig zu sein, der Reinigung, und sie geht den ständigen Weg der Reue. Dies ist stets ihr Weg, und so findet sie immer die stets notwendige Erneuerung.

Dieses Bild der Kirche, das vom Zweiten Vatikanum formuliert wurde und täglich in der Liturgie der Kirche realisiert wird, spiegelt seinerseits jene Gleichnisse des Evangeliums vom Unkraut unter dem Weizen wider und das Gleichnis vom Fischnetz, das alle Arten von Fischen fängt, gute und schlechte. Die Kirche hat in ihrer Geschichte in diesen Gleichnissen stets ihre eigene Wirklichkeit vorgefunden. Das war so auch bei der Verteidigung gegen die Behauptung einer nur heiligen Kirche. Die Kirche des Herrn, der gekommen ist, um die Sünder zu suchen, und der absichtlich am Tisch mit Sündern zusammen gegessen hat, kann nicht eine Kirche außerhalb der Realität der Sünde sein, sondern es ist die Kirche, in der es Unkraut und Weizen gibt und Fische aller Art. Um dieses erste Modell zusammenzufassen, würde ich sagen, daß drei Dinge wichtig sind: Das »Ich bekenne«, aber »in Gemeinschaft mit den anderen«, und im Wissen um diese Gemeinschaft »bekennt man vor Gott«, aber man bittet die Brüder und Schwestern, für einen zu beten. Das heißt, man sucht in diesem gemeinsamen Bekennen vor Gott die gemeinsame Versöhnung.

Das zweite Modell sind die Buß-Psalmen, vor allem dort, wo Israel in der Tiefe seines Leidens und seines Elends die Sünden seiner Geschichte bekennt, die Sünden der Väter, der ständigen Rebellion, vom Anfang der Geschichte bis heute. In diesem Sinne ähneln die Psalmen ein wenig dem »Mea culpa« des kommenden Sonntags, das heißt, es ist die Rede eben von den Sünden der Vergangenheit, von einer Geschichte der Sünde. Aber wenn Israel so betet, tut es das nicht, um die anderen, die Väter, zu verurteilen, sondern um in der Geschichte der Sünden die eigene Situation zu erkennen und sich auf die Bekehrung und die Verzeihung vorzubereiten. Die Christen haben stets mit Israel diese Psalmen gebetet und haben so dasselbe Bewußtsein erneuert. Das bedeutet, auch unsere Geschichte ist eine, wie sie die Psalmen beschreiben: eine Geschichte der Rebellion, der Sünden, der Mängel. Und auch wir bekennen dies, nicht um die anderen zu verurteilen, nicht um uns zum Richter über die anderen zu machen, sondern um uns selbst zu erkennen und uns für die Reinigung des Gedächtnisses und zu unserer wirklichen Erneuerung zu öffnen. Man könnte viele Beispiele dieser Realität in der Geschichte der Kirche auflisten. Ich möchte hier nur eines zitieren: Maximus, den Bekenner, der im 7. Jahrhundert all diese Selbstanklagen des Alten Testaments auf die Christenheit anwendet: Von uns spricht Jeremias – und dann zitiert er ihn –, von uns spricht Moses, von uns Micha. Und dann kommt er zum Evangelium, zu diesen starken Diskussionen des Herrn mit den Juden und sagt: »Wir sind schlimmer als diese Juden, die von Christus getadelt werden« – und er fährt fort: »Können wir uns Christen nennen, wir, die wir nichts von Christus in uns haben? Anstatt ein Tempel Christi zu sein, sind wir ein Markt, eine Räuberhöhle. « Und er schließt diesen Teil des »Liber asceticus« mit den Worten: »Eine fromme Übung, in der die Liebe fehlt, hat nichts mit Gott zu tun.« Ein drittes Modell sind für mich die prophetischen Ermahnungen der Offenbarung gegenüber den sieben Kirchen, die von Anfang an Beispiele der für die Ortskirchen aller Zeiten und damit für die Universalkirche notwendigen prophetischen Ermahnung sein wollen. Auch dieser Typ des prophetischen Tadels, der ein Bewußtsein unseres Sünderseins ist, kehrt in der Geschichte der Kirche zurück. Wir können an jene Worte von Papst Hadrian VI. denken, die auch im Dokument der Theologenkommission zitiert werden (I.1).

Wir können auch, um näher an der Gegenwart zu bleiben, an das Buch Die fünf Wunden der heiligen Kirche von Rosmini denken. Oder wir könnten – hier in Italien – einen klassischen Autor zitieren: Denken Sie an Gesang 33 von Dantes Fegefeuer, wo er zeigt, wie im Wagen der Kirche gewissermaßen auch der Antichrist sitzt. Wie die Kirche durch die Allianz mit dem Kaiserreich, mit der politischen Macht – angefangen bei der Konstantinischen Schenkung – , in sich auch ihr Gegenteil trägt und somit auf ihrem Weg stets behindert und befleckt ist. Wenn man also diese ständige Geschichte des »Mea culpa« in der Kirche sieht, kann man sich fragen – und auch ich habe mir diese Frage gestellt: Worin liegt die Überraschung, was ist neu? Ich weiß nicht, ob ich mit folgender Überlegung recht habe: Mein Eindruck, der vielleicht zu korrigieren ist, war folgender. Es hat sich zu Beginn der modernen Epoche etwas verändert, als der Protestantismus eine neue Geschichtsschreibung der Kirche geschaffen hat mit dem Ziel, zu zeigen, daß die katholische Kirche nicht nur von Sünden befleckt ist, wie sie immer wußte und sagte, sondern daß sie vollständig korrupt und zerstört und nicht mehr die Kirche Christi, sondern im Gegenteil ein Instrument des Antichristen ist. Mithin sei sie – da von Grund auf verdorben – nicht mehr Kirche, sondern »Anti«-Kirche. In diesem Moment hatte sich offenbar etwas verändert. Und notwendigerweise entstand eine katholische Geschichtsschreibung, die dieser entgegengesetzt war, um zu zeigen, daß die katholische Kirche – trotz der nicht zu leugnenden und mehr als offensichtlichen Sünden – dennoch die Kirche Christi und stets die Kirche der Heiligen und die Heilige Kirche bleibt. In diesem Augenblick der Gegenüberstellung von zwei Arten von Geschichtsschreibung, in der die katholische sich zur Apologetik gezwungen sah, um zu zeigen, daß die Heiligkeit in der Kirche geblieben ist, wird natürlich die Stimme des Sündenbekenntnisses der Kirche leiser. Die Lage erschwerte sich im Zuge der Anklagen der Aufklärung – denken wir an Voltaire (»Ecrasez l’infâme«) und das Anwachsen dieser Anklagen bis hin zu Nietzsche, wo die Kirche nicht nur als »Anti«-Kirche, sondern als das große Übel der Menschheit erscheint, die in sich alle Schuld trägt, die zerstört und den Fortschritt behindert, und die wirklichen Sünden der Kirche werden zu wahren Mythologien überzeichnet, so daß die gesamte Geschichte der Kreuzzüge, der Inquisition, der Hexenverfolgung sich zu einer einzigen Sichtweise der Kirche in absoluter Negativität herausbildet. Um so mehr fühlt sich daher die Kirche gezwungen, zu zeigen, daß sie trotz negativer Elemente wie dieser immer ein Instrument des Heils und des Guten ist und nicht der Zerstörung der Menschheit. Heute befinden wir uns in einer neuen Situation, in der die Kirche mit größerer Freiheit zum Bekenntnis der Sünden zurückkehren und so auch die anderen zum Bekennen und somit zu einer tiefen Versöhnung einladen kann. Wir haben die großen Zerstörungen gesehen, die von den Atheismen geschaffen wurden, die eine neue Situation des »Anti«-Humanismus und der Zerstörung des Humanen erreicht haben. In dieser Situation einer neuen Fragestellung – »Wo sind wir, was rettet uns?« – können wir, wie mir scheint, mit neuer Bescheidenheit, neuer Offenheit und neuem Vertrauen die Sünden bekennen und auch die Größe des Geschenks des Herrn anerkennen.

Zum Abschluß möchte ich die Kriterien zusammenfassen, wie sie sich mir darstellen und die, wie ich bereits gesagt habe, mit denen übereinstimmen, die Kardinal Etchegaray genannt hat. Ich sehe deren drei: Das erste ist, daß die Kirche der Gegenwart sich nicht als ein Tribunal darstellen kann, das über vergangene Generationen urteilt – auch wenn notwendigerweise im »Mea culpa« Sünden der Vergangenheit impliziert sind; denn ohne die Sünden der Vergangenheit können wir die Situation von heute nicht verstehen. Die Kirche kann und darf nicht mit Arroganz in der Gegenwart leben, sich von den Sünden ausgenommen fühlen und als Quelle des Bösen die Sünden der anderen, der Vergangenheit, ausmachen. Das Bekennen der Sünde der anderen befreit nicht vom Anerkennen der Sünden der Gegenwart, es hilft, das eigene Gewissen zu wecken und den Weg zur Bekehrung für uns alle zu öffnen.

Zweites Kriterium: Bekennen bedeutet nach Augustinus, »die Wahrheit verwirklichen«, daher verlangt es vor allem die Disziplin und die Demut der Wahrheit, all das in der Kirche begangene Böse nicht zu leugnen, aber sich auch nicht in einer falschen Bescheidenheit Sünden zuzuschreiben, die nicht begangen wurden oder über die noch keine historische Sicherheit besteht. Drittes Kriterium: Noch einmal gemäß Augustinus müssen wir sagen, aß eine christliche »Confessio peccati« immer mit einer »Confessio laudis« Hand in Hand gehen muß. Bei einer aufrichtigen Gewissensprüfung sehen wir, daß wir unsererseits viel Böses in allen Generationen getan haben. Aber wir sehen auch, daß Gott trotz unserer Sünden die Kirche stets reinigt und erneuert und große Dinge zerbrechlichen Gefäßen anvertraut. Und wer könnte verkennen, wie viel Gutes zum Beispiel in den beiden letzten Jahrhunderten, die durch die Grausamkeit der Atheismen verwüstet wurden, von neuen religiösen

Kongregationen, von Laienbewegungen, im Bildungsbereich, im Sozialsektor, im Einsatz für die Schwachen, Kranken, Leidenden und Armen geleistet wurde. Es wäre ein Mangel an Aufrichtigkeit, nur unser Böses zu sehen und nicht das Gute, das Gott durch die Gläubigen – trotz ihrer Sünden – gewirkt hat. Die Kirchenväter haben dieses Paradox von Schuld und Gnade in den Worten der Braut des Hohenlieds zusammengefaßt gefunden. »Nigra sum sed formosa.« – »Ich bin durch die Sünden befleckt, doch schön.« – Nichtsdestotrotz schön durch Deine Gnade und durch das, was Du getan hast. Die Kirche kann offen und vertrauensvoll die Sünden der Vergangenheit und der Gegenwart bekennen in dem Wissen, daß das Böse sie niemals vollständig zerstören wird, in dem Wissen, daß der Herr stärker ist und sie erneuert, damit sie das Werkzeug der guten Werke Gottes in unserer Welt ist.

 

(in: L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 17. März 2000, Nummer 11, S. 11 und 12)

 

 
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