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Kardinal P.J. Cordes                                          Heidelberg,6.3.2008
Päpstlicher Rat Cor Unum, Vatikan

Die Anthropologie des Helfens
und „Deus caritas est
1

      Der „Arbeitsbereich Caritaswissenschaft“ der Universität Freiburg und das „Diakoniewissenschaftliche Institut“ der Universität Heidelberg haben mich zu einem Kongress „Kirchen gegen Armut und Ausgrenzung“ eingeladen. Wie Sie wissen, ist im Vatikan der Päpstliche Rat Cor unum die Abteilung, die der Papst mit der „Orientierung und Koordination“ (Deus caritas est, 32) für den Sektor kirchlichen Helfens beauftragt hat. Als Präsident dieses Dikasteriums danke ich für die Einladung in diese alt-ehrwürdigen Universität. Ich habe sie gern angenommen, um Anregungen zu erhalten und aus meiner Perspektive Impulse zu geben.

     Im generellen Kampf der heutigen Gesellschaft gegen die Not des Menschen richten Veranstalter und Themenfestlegung unser Augenmerk auf den Beitrag, den die Kirchen zu leisten gerufen sind. Das ist eine spezifische und darum gute Zielvorgabe. Denn die humanitäre Sorge hat es mindestens in der westlichen Welt zu einer Fülle von unterschiedlichen Initiativen gebracht. Vor wenigen Tagen erst konnte ich lesen, dass in den USA 1,4 Millionen Hilfsorganisationen arbeiten – keine spekulative Ziffer, sondern die offizielle Angabe des Staates über Anzahl der steuerfreien Institute. Jeder Christ kann sich über ein solches Angebot menschlicher Hilfsbereitschaft nur freuen. Er hat gegenüber weltanschaulich anders orientierten Gruppen keine Berührungsängste und begegnet ihnen erst recht ohne Überheblichkeit oder Selbstzufriedenheit. Gleichzeitig zwingt  ihn eine Zeit, in der Sensibilität gegenüber den Leidenden gleichsam ein Element der Kultur geworden ist, über seine Besonderheit und seine Identität nachzudenken.

    Im Kampf gegen Unrecht und Not stößt man früher oder später dann wohl auch auf den Faktor Religion. Gerade die Glieder der Kirchen müssen sich nach deren Auswirkung auf den Menschen und sein Handeln fragen. Religion hat sich ja spätestens mit dem 11. September 2001 am World-Trade-Center in den U.S.A. zurückgemeldet – und zwar mit apokalyptischen Donner. Durch lange Jahrzehnte hin war sie eher abwesend. Mindestens war man überzeugt, man könnte sie vernachlässigen. In vielen, auch in christlichen Hilfsorganisationen wird sie immer noch verschmäht. Ihre Belange registriert man nicht oder höchstens mißmutig – nicht zuletzt, weil Entwicklungsministerien und viele Sponsoren andere Akzente setzen. Wird man aber der Religion gerecht, wenn man ihr die Rolle des Aschenputtel zuweist? Welche Gründe führten zu ihrer Diskreditierung? Die Zeitgeschichte sowie der kirchliche Kontext unserer Veranstaltung nötigen uns zu solchen Überlegungen. Das Aufdecken der Ursachen hat dann aber darüber zu befinden, ob Religion in der Anthropologie des Helfens zu Recht ignoriert wird.

Geschichtlicher Rückblick

      Am Anfang ihrer Ächtung steht wohl der englische Philosoph Thomas Hobbes († 1679). Er ist fraglos der grundlegende politische Denker der Neuzeit. Nach ihm beschwört der reine Naturzustand des Menschen den Krieg aller gegen alle, das "bellum omnium contra omnes". Auch der Satz "Homo homini lupusDer Mensch ist des Menschen Wolf" wird mit Rückgriff auf den römischen Dichter Plautus von ihm vertreten und illustriert. In seinem Hauptwerk Der Leviathan (1651) schreibt Hobbes : "In such condition, there is … continual fear, and danger of violent death; And life of man, solitary, poor, nasty, brutish and short." Der Mensch ist also ein gefährliches, d.h. gefährdendes und durch Seinesgleichen gefährdetes Wesen.

     Hobbes Überzeugung von der Bosheit des Menschen ist im 17. Jahrhundert in höchstem Maß erfahrungsgesättigt. Die konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts belegen sie über Gebühr. Hobbes verdankt seine Religionskritik nicht dem Erlahmen der religiösen Überzeugung, sondern der Verschärfung religiös angeheizter und legitimierter Konflikte großer Teile Europas. Sie stürzten etwa Deutschland, England und Frankreich in Jahrzehnte dauernde Massaker und entvölkerten ganze Landstriche.

     Der einzige Ausweg aus dieser Krise erschien allen großen Volkserziehern die Depotenzierung des Religiösen. Genau das aber versprachen die Theorien von Thomas Hobbes. Sein am Vorbild der Mathematik orientierte Rationalismus erschien als eine kultur- und konfessionsunabhängige Art der Wahrheit. Es ist die abstrakte Form mathematischer Sätze, die im 17. Jahrhundert gnoseologischen Vorrang hat gegenüber allen anderen Daten der Erkenntnis – seien sie narrativer oder traditionsbezogener Form. Die mathematische Wahrheit können alle Menschen einsehen, und sie müssen ihr zustimmen – gleich welcher Kultur, Religion, Nation oder Ethnie sie angehören; ob sie Deutsche, Italiener, Spanier, Franzosen oder Engländer sind; ob sie sich zu den Katholiken, Protestanten, Juden oder Muslimen zählen. Hobbes formulierte seine Überzeugung in dem knappen Satz, der über Jahrhunderte die Weltanschauung vieler Menschen bestimmte: „Denken ist Rechnen – Thinking is reckoning.“

     Die Überlegungen von Th. Hobbes vertiefen sich und gewinnen zunehmende Verbreitung durch später lebende Denker. An erster Stelle ist hier der deutsche Philosoph Immanuel Kant († 1804) zu nennen. Durch ihn verlieren Christentum und damit auch die Religion als vorgefundene Realität für den Menschen weiter an Relevanz. Der Professor aus Königsberg prägte den Religionsbegriff durch dessen Rationalisierung und Entmythisierung; er veranlaßte ein anthropozentrisches Verständnis von Religion, da er sie von einem ständig wirkenden Gott abkoppelte und ein deistisches Gottesbild propagierte; er nivellierte die Konfessionsunterschiede zu einer "natürlichen Religion" und löste schließlich Religion durch die Geschichtsphilosophie ab. Menschliche Freiheit erschließt Kant aus der Tatsache, dass Regeln unser Verhalten bestimmen sollen: Ohne Freiheit wäre ja dem Menschen keine Tat zuzuordnen; ohne sie blieben Gewissen oder Reue unverständlich. Freiheit muss damit für Kant nicht festgemacht werden in etwas Metaphysischem wie der Religion. Sie gründet in der Reflexionskraft des Menschen, im Vermögen der praktischen Vernunft, die sich selbst genügt.

     Gewiss ist unbestritten, dass Kant die Existenz Gottes bejahte. Doch seine Bestimmung von Religion nahm dem christlichen Glauben die Verankerung in der Geschichte und damit ihre biblische Basis. Kant reduzierte sie auf die praktische Vernunft, die dem gesunden Menschenverstand zugänglich ist. Für Kant soll die geoffenbarte Religion zur Vernunftreligion werden und die Vernunftreligion zur Moral.

     Wird der Prozess skizziert, in dem sich die Religion der Gesellschaft entfremdete, so muss unbedingt die Französische Revolution von 1789 erwähnt werden; dieses Ereignis markiert nachdrücklich ihren fortschreitenden Verfall. Verfolgungen und Dechristianiserung des gesellschaftlichen Lebens, die von 1791 an in Frankreich um sich griffen, gaben außerdem dem Religionsbegriff neue Inhalte. Durch die Verbreitung revolutionärer Gedanken verlor er weiter an christlichem Inhalt und somit an positiv-gestaltender Kraft für die Gesellschaft.

     Die großen Ereignisse Ende des 18. Jahrhunderts in unserm Nachbarland sollen nun in unsern Tagen von Religionsverächtern offenbar der Historie neu entrissen werden. Erst kürzlich organisierte der französische Ideengeschichtler Tzvetan Todorov in der Pariser Nationalbibliothek eine – wie man schrieb – „epochale Ausstellung“, die die Errungenschaften der Französischen Revolution unserer Zeit wieder präsent machen wollte. Und dem Zeitgenossen drängt sich der Gedanke auf, sie sollte auch dem kategorischen „Nein“ zum Gottesbezug sekundieren mit dem Franzosen die Verhandlungen zum „Europäischen Vertrag“ begleiteten. Materialreich und gekonnt, vertritt die Exposition erneut den absoluten Anthropozentrismus, der sich definitiv von Religion und Gott emanzipiert hat. Sie feiert diesen Geist als Befreier von Obskurantismus, Fanatismus und Fundamentalismus. Sie warnt vor einer Wiederkehr der Religion mit dem antiklerikalen Schlachtruf des großen Voltaire: „Ecrasez l’infame – zerschmettert die niederträchtige Religion!“ Mit ihrem Todesstoß – so der Organisator der Ausstellung – brach ein neues Zeitalter herein: „Zum ersten Mal in der Geschichte beschließen die menschlichen Wesen, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und das Wohlergehen der Menschheit als letztes Ziel ihres Handelns zu bestimmen.“ Und der „Spiegel“ kommentiert: „Nicht mehr die Autorität der Götter, der Vorfahren oder der Traditionen bestimmt das Ziel des menschlichen Lebens, sondern der Entwurf für die Zukunft. Der Verstand und die Erkenntnisse der Wissenschaft sind dafür die geeigneten Instrumente.“

     Es weckt leicht Skepsis, wenn die emphatisch werden, die sich der Ratio verschrieben haben. So entdeckt man bald im Pathos der Ausstellung und bei denen, die mit dem Rückblick in die Historie Politik machen wollen, einen gravierenden Schönheitsfehler. Denn natürlich können die Verteidiger der Aufklärung nicht leugnen, dass sie mancherorts auch schlimme Folgen hatte: Sie legitimierte Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie die Sklaverei; sie war Franzosen und Engländern Antrieb zu kolonialen Eroberungen in Indochina und Nordafrika; sie verkehrte sich in Repressionen und schlug in Rassismus und Kommunismus um.

    Diese hässlichen Folgen der strahlenden Aufklärung müssen die Pariser Aussteller einräumen. Doch genügen sie ihnen nicht, um deren sakrosankten Charakter anzutasten. Wie aber bewältigen sie die Kalamität? Sie verlassen das klassische Prinzip aufklärerischer Wissenschaft – dass nämlich eine These zu verifizieren, und wenn das nicht gelingt, zu verwerfen ist. Sie behaupten weiter die Alleingültigkeit des Vernunftansatzes und fordern gleichzeitig die ständige Korrektur der Aufklärung. Nur sucht der Beobachter vergeblich nach eingeräumten inhaltlichen Ansätzen solcher Korrektur. Der Verantwortliche der Ausstellung, Tzvetan Todorov, gesteht die Vorläufigkeit aufklärrischer Thesen nicht ein, sondern dogmatisiert diese Thesen vielmehr. Gleichzeitig ermuntert er zu ihrer Berichtigung und schreibt: “Indem wir die Aufklärung kritisieren, bleiben wir ihr treu.“ Da solche Argumentation den Absolutheitsanspruch der Aufklärung offenbar nur festigen soll, bleibt der Verdacht sophistischer Wortspielerei. Und die Feder des „Spiegel-Redakteurs“ formuliert die Sinnspitze der Initiative ohne Umschweife: „Die christliche Nächstenliebe braucht folgerichtig nicht mehr die Krücke der Religion zu ihrer Begründung …“.2

Verfassungen

     Die umrissene Entwertung der Religion durch die Aufklärer und ihre Epigonen beschränkte sich also nicht auf Schreibtische und Medien. Sie wirkte sich erwartungsgemäß auch auf gesellschaftsrelevante Dokumente aus. Etwa auf die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (1787).

     Wie belegt ist, haben Alexander Hamilton, James Madison und John Jay den als Federalist Papers bekannten Verfassungsentwurf der „Partei der Föderalisten“ mitformuliert: Ihre Aufzeichnungen zeigen den Einfluss, den aufklärerisches Denken auf sie hatte. Die Spuren dieses Entwurfs wurden bei der allgemeinen Ratifizierung dieser neuen Verfassung zusätzlich geltend gemacht. Die in den U.S.A. unbestrittene Forderung einer Trennung von Staat und Kirche stammt aus demselben Gedankengut.

     Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Väter der Amerikanischen Verfassung die Religion nicht als eine gesunde Kraft der menschlichen Natur und ein konstruktives Element für den Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft ansahen. Religion wird in ihr nur zweimal erwähnt, und beide Male mit der Absicht zu vermeiden, dass Religion zu einer verderblichen Unruhequelle im Volk wird (US-Verfassung, Art. VI; und Erster Zusatzartikel).

     Leider stand solche Reserve 1945 fast 200 Jahre später auch Pate für die „Charta der Vereinten Nationen“. Der Begriff Religion taucht in ihr lediglich einmal auf, und zwar im Zusammenhang mit der Koordinierung internationaler Zusammenarbeit; dort wird sie wie Rasse, Geschlecht oder Sprache als Diskriminierungsgrund zurückgewiesen (vgl. Art. 1). Die Einmaligkeit des Hinweises auf die Religion stimmt mit anderen UNO-Dokumenten überein, die dieses Wort generell vermeiden.

     Noch näher als die UNO-Charta steht uns der schon erwähnte „Europäische Vertrag“. Die jüngsten Diskussionen um die Formulierung der Präambel sind noch im Gedächtnis. Als Repräsentanten verschiedener Staaten die transzendente Verankerung des Textes ablehnten, waren sie fraglos vom geistesgeschichtlichen Erbe der Aufklärung beeinflusst. In ihrem Horizont wurde der am 13.12.2007 in Lissabon unterschriebene „Europäische Vertrag“ formuliert. Wohl ist das Wort „religiöses Erbe“ nach langem Ringen in ihn aufgenommen worden; doch bleibt der Ausdruck im Gegensatz zur kulturellen Prägekraft religiöser Strömungen für Europa blutleer – ebenso verloren wie in den Konstitutionen der USA und der UN – ganz zu schweigen von den vielen positiven Beiträgen des christlichen Glaubens zum Aufbau der westlichen Kultur und zur Idee eines vereinten Europas (Robert Schumann, Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi).

    Um jedes Missverständnis zu vermeiden, möchte ich an dieser Stelle nachdrücklich versichern: Das Herausheben der Religion und ihres Stellenwertes in der Anthropologie hat nicht den Zweck, die Autonomie des Staates zugunsten der Kirche auszuhöhlen. Nein. Die Trennung von Kirche und Staat steht nicht zur Disposition. Es ist vielmehr an der Zeit, sich dem Phänomen Religion unvoreingenommen zu stellen und ggf. ihren Beitrag für das menschliche Zusammenleben neu zu entdecken.

Herausforderung durch die Soziologie

    Die dargestellte Kümmerform von Religion und die Ablehnung des Gottesbezugs in dem Vertrag von Lissabon beanspruchen für sich das vorurteilsfreie Denken und das fortschrittliche Wissen der Moderne. In Wirklichkeit sind sie aber offenbar nicht auf dem letzten Stand der wissenschaftlichen Kenntnis vom Menschen. Um der realen Bedeutung der Religion für die Menschen ansichtig zu werden, genügt der Hinweis auf zwei Autoren: Émile Durkheim († 1917) und Max Weber († 1920). Beide waren Atheisten und daher frei von jedem Verdacht zu befürchtender Voreingenommenheit.

     Von Max Weber erschien 1904 ein Text, der wohl als der berühmteste Aufsatz in der Geschichte der Religionssoziologie, ja der Soziologie überhaupt bezeichnet werden darf: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Der Soziologe stellte dar, dass zwischen der Überzeugung des Protestantismus, insbesondere des Calvinismus und des Puritanismus einerseits und der Herausbildung des Kapitalismus andererseits Zusammenhänge beständen; dass sich also Religion grundlegend im gesellschaftlichen Verhalten des einzelnen Menschen niederschlüge. Auch wenn seine Thesen nicht überall Zustimmung fanden, so beleuchteten sie doch ein zentrales Problem der Geschichtswissenschaft und das kulturelle Selbstverständnis Europas und Nordamerikas. – Émile Durkheim publizierte 1912 sein Werk Les formes élémentaires de la vie religieuse. Es sollte zur einflussreichsten Bestimmung für die sozialwissenschaftliche Religionsanalyse werden. Nach ihm hat alles Religiöse sozialen Charakter; alle Beziehungen des Individuums zum Heiligen werden für Durkheim aus Kollektiven abgeleitet oder als bloße Magie dem Religiösen entgegensetzt.

     Thomas Luckmann, deutsch-amerikanischer Soziologe von Rang, befindet über beide Forscher: "So verschieden die soziologischen Systeme Durkheims und Webers auch geartet sind, ist doch bezeichnend, dass beide den Schlüssel zum Verständnis des gesellschaftlichen Standorts des Individuums in der Erforschung der Religion suchen. Für Durkheim ist die symbolische Wirklichkeit der Religion der Kern der conscience collective. Als eine soziale Tatsache transzendiert sie den einzelnen. Sie ist die Vorbedingung für soziale Integration und für die Beständigkeit der gesellschaftlichen Ordnung. … Für Weber hingegen erscheint das Problem der gesellschaftlichen Bedingung von Individuation aus dem spezifischeren Blickwinkel, nämlich im sozialgeschichtlichen Zusammenhang einer gegebenen Religion und in ihrem Verhältnis zur Struktur einer historischen Gesellschaft." 3

    Mit anderen Worten: Durkheim und Weber stellen die unersetzbare Bedeutung der Religion für die soziale Integration des einzelnen (individuum) und für die Stabilität der Gesellschaftsordnung fest.

Praktische Relevanz

    Verehrte Damen, meine Herren

    Ich habe Ihnen einen historischen Exkurs zur Religion zugemutet. Er stützt sich auf die Philosophie-Geschichte und die Kategorien einer unverstaubten, empirisch geprüften Religionssoziologie. Und er gilt beileibe keinem Glasperlenspiel. Seine Relevanz für die Anthropologie des Helfens liegt auf der Hand. Dazu eine kleine Episode.

Kirchliche Entwicklungsarbeit und ihre Träger

     Am Anfang 2006 hatte unsere vatikanische Abteilung Cor unum zu einem Kongress nach Rom eingeladen. Er galt der öffentlichen Kenntnisnahme und Verbreitung der ersten Enzyklika Papst Benedikts XVI. Deus caritas est. Wir luden zu ihm auch Mr. James Wolfensohn ein, den ehemaligen Präsidenten der „Weltbank“. Er schien aufgrund seiner zehnjährigen Präsidentschaft (1995-2005) der geeignete Gesprächspartner, uns einige Erfahrungen mitzuteilen und so zur größeren Effizienz kirchlichen Helfens beizutragen; die materielle und personelle Ausrüstung der Weltbank sind ja beneidenswert gut. Zu unserer Überraschung kam er nicht, um uns zu belehren. Sondern er drängte auf eine engere Kooperation seiner von Religion völlig unabhängigen Institution mit solchen, die religiös gebunden sind. Mehr noch: Er wollte zwischen beiden Welten eine Brücke bauen. „Die Kritik von Seiten religiöser gegenüber nicht-religiösen Organisationen wie auch die der Religionen gegenüber nicht-religiösen Organisationen muss ein Ende haben; das habe ich in den zehn Jahren gelernt. Auf beiden Seiten muss es Offenheit und Verständnis zwischen den Menschen geben, da ja beide versuchen, mit den uns gestellten Fragen richtig umzugehen …“ Das war keine captatio benevolentiae auf vatikanischem Parkett. Wolfensohn verdeutlichte die Ernsthaftigkeit seines Appels und sprach von einer der „Weltbank“ zugeordneten Institution „World Faith and Development Dialogue“, die er selbst ins Leben gerufen hatte. Er begründete seine Initiative temperamentvoll: Diese Lücke zwischen religiösen und weltlichen Hilfsorganisationen sei ja doch zu offensichtlich, als dass sie bestehen bleiben könnte. Misstrauen herrsche auf beiden Seiten; Dialog hingegen sei gefordert. Denn staatliche Stellen bedürften der Nachhaltigkeit, die den Kirchen zu eigen wär, weil den Projekten der gesellschaftlichen Einrichtungen oft die menschliche Kontinuität fehle; letzteren sei zeitlich, politisch, durch personellen Wechsel und Umbesetzung der Vorstände oft eine schmerzhafte Grenze gesetzt. Wolfensohn: „Wir haben Riesenprobleme in der internationalen Gemeinschaft, um Kontinuität zu erreichen, die Sie und die Kirche schon jahrtausendlang besitzen und die notwendig ist.“

     Präsident Wolfensohn beabsichtigte mit seiner Kontaktnahme zu religiösen und besonders zu kirchlichen Gruppen, dem Kampf gegen Elend und Not in der Welt größere Effizienz zu geben. Dieser Kampf treibt auch unsere Vatikanische Abteilung, Cor unum. Mir persönlich wurde er in den vergangenen zehn Jahren Anlass, mich mit der Anthropologie des Helfens und dem Stellenwert der Religion in ihr zu befassen. Denn deren Ausklammerung aus den Projekten, die mit öffentlichen Mitteln gefördert werden, erwies sich mir als korrekturbedürftig – weil einem überholten Religionsverständnis verhaftet und weil auf ein Vorurteil gestützt, das die Thesen der Aufklärung unkritisch nachplappert. Sprechen nicht angesehene Wissenschaftler heute – etwa Udo Di Fabio – von der Notwendigkeit einer „zweiten Aufklärung“?

     Darum sehe ist es nicht länger als hinreichend an, dass religiöse Institutionen lediglich das besondere Vertrauen staatlicher Förderung geniessen. Hingegen erscheinen mir religiös-pastorale Ziele auch als solche erstrebenswert und unterstützungswürdig – trotz der Trennung von Kirche und Staat. Formulierungen etwa aus den „Zwölf Grundregeln der Humanitären Hilfe“ vom 23.6.2000, vorgetragen vom Entwicklungsministerium in Berlin, halte ich heute nicht mehr für gültig – wenn es etwa heißt: „Humanitäre Hilfe darf (weder politische noch religiöse Einstellungen) fördern“ (Nr. 3). Aus solcher Weichenstellung folgt oft genug eine weitere Belastung für die diakonische Sendung der Kirche: Die Kriterien öffentlicher Geldgeber haben ihr Schwergewicht für Praxis und geistige Orientierung kirchlicher Hilfsorganisationen; so berufen sich dann hier und da auch kirchliche Agenturen auf staatliche Weisungen, um religiös-pastorale Projekte abzulehnen, auch wenn diese von kirchlichen Kollekten finanzierbar wären.

     Ich bin mir darüber klar, einen komplizierten Anspruch zu erheben – zumal die Weisungen des Europarates in Straßburg für die Förderung der Hilfswerke sich inzwischen die restriktive Weisung des deutschen Entwicklungsministeriums zu eigen gemacht haben.4 Doch kann schließlich die Schwierigkeit einer Sache kein Grund sein, sie nicht in Angriff zu nehmen 

     Wer sich gegen religiöse Lethargie wappnet, entdeckt mancherlei Gründe, dass die Religion nicht zuletzt in der Form des Christentums die Buerger-Gesellschaft noch heute substantiell aufbaut; dass darum staatliche Öffentlichkeit und Religionsgemeinschaften zu recht kooperieren. Nur einige Aspekte möchte ich nennen:

  •  Das kapillare Netz der Konfessionen und religiösen Gruppen erreicht in Katastrophenfällen die Betroffenen besser.
     

  • Die globale Vernetzung der Religionen schafft ein großes Hilfsreservoir.
     

  • Der Einfluss der „Nicht-Regierungs-Organisationen“ (NRO), von denen viele religiöse Wurzeln haben, wächst ohnehin in den Zentren der UNO.
     

  • Veränderung miserabler Zustände kann nur bei Beachtung der von Religionen geprägten Kultur effizient werden; das Aufdrängen fremder Lebensmodelle bleibt wirkungslos.
     

  • Die Geschichte der Christenheit und ihrer Protagonisten kann gelesen werden als ein fortdauerndes Engagement gegen Elend und Not von der Sorge der Urchristentums um die Bedürftigen über die Gründung des Roten Kreuzes durch Henri Dunant bis hin zur Friedensnobel-Preisträgerin Mutter Teresa in unseren Tagen.

   Genügt aber, so kann man sich fragen, die Kooperation? Verdienen nicht auch die Religionsgemeinschaften als solche Förderung, insofern sie Träger des Engagements sind?

Religion – trotz allem

     Selbstredend soll mit meinem Plädoyer nicht der Blauäugigkeit gegenüber der Religion das Wort geredet werden. Ihre naive Apotheose wäre unhaltbar. Auch wenn eine geordnete civil society sich in hohem Maß auch den großen religiösen Traditionen verdankt, so müssen diese doch immer von einer Vernunft, die sich nicht verabsolutiert, durchleuchtet und befragt werden. Eine so verstandene Vernunft behält das Recht zur Kritik; denn es gibt auch die Pathologie der Religion, die – nach Kardinal Ratzinger – die gefährlichste Erkrankung des menschlichen Geistes ist. So ist denn die Förderung der religiösen Elemente in der Anthropologie genötigt, dem wissenschaftlichen Diskurs nicht auszuweichen und die Inhalte der jeweiligen Religion auf das Wahre hin zu prüfen. Dabei genügt die Vernunft sich freilich nicht selbst.5 Sie wird – wie es Jürgen Habermas in seinem Streitgespräch mit Kardinal Ratzinger formuliert hat (19.1.2004) –  ihrer Grenzen inne und überschreitet sich ohne anfänglich theologische Absicht auf ein Anderes hin.6

     Die sogenannte Erste Welt setzte lange genug alles daran, dass sich die menschliche Vernunft allein und ausschließlich an der Aufklärungskultur orientierte; das Erbe der Aufklärung dominierte, ohne für zusätzliche Erkenntnis bereit zu sein. Wer sich nicht einließ, galt als ideologisch verkrustet. Und plötzlich bekommt diese Religion Schützenhilfe aus einem Lager, in dem sich die Aufklärung in geradezu klassischer Weise spezifizierte: vom Marxismus-Leninismus. Ich kann mir denken, Sie werden genauso überrascht sein wie ich von der Wertschätzung der Religion, die ich in der Auffassung eines lupenreinen kommunistischen Politikers angetroffen habe. Im Dezember 2001 hielt Pan Yue, ein hochrangiges Parteimitglied, vor den anderen Mitgliedern des Chinesischen Staatsrates einen Vortrag, der danach in den Zeitungen des kommunistischen China veröffentlicht wurde. Er sprach über die Notwendigkeit, die Kraft der Religion zu berücksichtigen: “In der Religion finden wir den Kampf gegen das Leid der realen Welt und die Suche nach Wahrheit, Güte und Schönheit. Die Religion stärkt die Seele des Menschen, ermutigt die Leute und ist eine großartige geistliche Entschädigung für die Mängel des täglichen Lebens ... Der Atheismus und die Wissenschaft sind manchmal nicht imstande, die Furcht der Menschen vor dem Tod zu zerschlagen: der Religion gelingt das”7.

     Ohne jede Attitüde des Triumphalismus – vielmehr mit Dankbarkeit – sehen Christen Zeichen dafür, dass die Religion wieder hoffähig geworden ist - sowohl wenn die traditionellen Religionsgegner ihre Angriffe starten wie auch wenn herausragende Denker sich öffentlich zur Religion äußern. Das ermutigt sie, auch selbst ihre religiöse Überzeugung zu bekennen mitten in einer weitgehend säkularisierten Welt. Sie legen gegenüber Staat und Gesellschaft dar, worin sie die tiefsten Wurzeln ihres Einsatzes sehen; sie erinnern sich im philanthropischen Feld der Moderne ihrer christlichen Identität; sie werden sich Gottes als der Quelle der Liebe zu Armen und Bedrängten neu bewusst.

      Ein Meilenstein solchen Neuanfangs war gewiss die Enzyklika Papst Benedikts XVI. „Deus caritas est – Gott ist die Liebe“ vom 25.12.2005. Möglicherweise mag der eine oder andere Samariter auch zusammengezuckt sein. Schließlich widerfährt es dem Caritas-Helfer nicht jeden Tag, dass ein Kirchenoberhaupt ihn auf solch ernsthafte und direkte Weise anspricht. Die Enzyklika versteht sich ja als eine Herausforderung für jeden, der sich in der Nachfolge Christi den Erniedrigten, Leidenden, den spirituell Enteigneten zuwendet, ihnen sein Ohr, seine Hand, sein Angesicht leiht. Deus caritas est ist ein wegweisender, zugleich schwieriger und sehr einfacher Text. Steht in ihm doch die Botschaft: Religion gehört zum Menschen; deshalb gibt es letztlich kein Helfen ohne Gott. Das mag sich für viele von selbst verstehen. Andere werden es kategorisch bestreiten. Für die christlichen Hilfsorganisationen aber stellt sie die Frage: Ist der Rang der Religion bei der karitativen Praxis schon angekommen – oder wird Religion immer noch vom Gestrüpp aufklärerischer Behauptungen zurückgehalten? So wenn eine katholische westliche Agentur Schweizer Schwestern nötigt, das Kreuz in Indien von ihrem Ordenskleid abzunehmen, um nicht Proselytismus zu betreiben. So wenn der Episkopat zweier afrikanischer Staaten einer großen anderen katholischen Organisation die Zusammenarbeit mit ihren Diözesen untersagt, weil die Entscheidungen der Hilfswerke „imperialistisch über ihre Köpfe hinweg getroffen würden.

    Deus caritas est ist eine Botschaft von hoher Aktualität, da sie die neue Sensibilität für die Religion aufgreift; sie ist ein Paradigmenwechsel für uns christliche Samariter, weil sie Gott wieder in den Mittelpunkt des Engagements stellt. Die Botschaft wurde gehört, bezeichnenderweise auch jenseits christlicher Institutionen.

    Wenigstens einige Zitate der Printmedien sollen uns an die Resonanz erinnern, die der Text weckte; sie war ja unerwartet positiv, spendete fast immer kräftigen Beifall.

Der SPIEGEL berichtete durchaus mit Sympathie in seiner Online-Ausgabe unter der Überschrift „Love, love, love“.

FAZ vom  20.01.06: „Niemals zuvor hat ein Papst so einfühlsam und poetisch, zugleich theologisch von umfassender Bildung über die menschliche Liebe vom ‚Versinken in der Trunkenheit des Glücks’ geschrieben wie Benedikt XVI.“

Die Zeit vom 26.01.06: „Josef Ratzinger ist konservativ, aber eigentlich kein Moralprediger – ihn interessiert das Grosse und Ganze, der Wesenskern des Christentums.“

Sogar auf der Front-Page der New York Times (3.02.06) –nicht gerade das Sprachrohr katholischer Auffassungen – gab es einen dezidiert zustimmenden Kommentar.

     Warum dieses Echo? Weil Helfen ein Element westlicher Kultur und weil Diakonia für sehr viele Menschen die Visitenkarten des Christentums ist. Gerade wer sich vom Glauben entfernt oder sich ihm durch die Schuld von Christen entfremdet hat, der setzt Helfen und Kirche in eins. Nächstenliebe holt überall auf der Welt die Armen aus den Katakomben des Elends und führt so manchen an das Licht der Hoffnung. Als Gesicht der Kirche zeigt Nächstenliebe dann den Zeitgenossen etwas vom Antlitz Gottes und vermag gelegentlich wohl auch Glauben zu wecken. Die Gesellschaft kennt bis heute ihre oft verschämten und versteckten Armen. Da sind die Christen gefragt. Ja, zu helfen wird offenbar so sehr mit der Kirche identifiziert, dass auch sogenannte Abständige diese des Dienstes am Menschen wegen schätzen oder mindestens respektieren.

     Das war etwa das Ergebnis einer Erhebung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD vom Herbst 2006 „Die religiöse Ansprechbarkeit von Konfessionslosen in Ostdeutschland“. Die Befragten nahmen an der Kirche die sozialen Einrichtungen wie Kindergärten und Altenheime wahr. Sie sahen in ihr die Einrichtung, die sich der Hilfsbedürftigen, der Drogenabhängigen, Arbeitslosen und Kranken annimmt. Ein Konfessionsloser: „…sich um die Menschen kümmern und sich einsetzen, wer macht das noch? Das macht wirklich die Kirche und kümmert sich um viele Probleme, auch um diejenigen, die irgendwie schon am Boden sind.“

     Ein solches Bild von Kirche kann ihre aktiven Gläubigen nur erfreuen. Denn es zeigt einen Wesenszug der Glaubensgemeinschaft, der ihr von ihrem Gründer und von ihrem reflektierenden Selbstverständnis vorgegeben ist: Genauso wie Jesus von Nazareth wegen seiner Wohltaten besonders an den Bedürftigen unter vielen seiner Landsleute gerühmt und verehrt war, so spricht auch die Theologie der kirchlichen Sendung zwingend das diakonische Moment zu. Ihre Verkündigung des Evangeliums und ihre Feier der Sakramente sind von Anfang ihres Bestehens an unlösbar gebunden an ihren Kampf gegen Elend und Unrecht.

      Bleibt der Kirche zwangläufig diese Kraft erhalten, sich für die Armen und Bedrängten einzusetzen? Das ist bei der beschriebenen Sicht von Kirche die gewichtige Frage, die jedes Glied der Kirche, besonders aber die Verantwortungsbewussten in ihr, beschäftigen muss.

      Eine Hilfe zur Beständigkeit im beschriebenen Dienst wurde ihr in jüngerer Zeit durch den Aufbau von kirchlichen Verbänden und Instituten mit caritativem Engagement zuteil. Seit mehr als hundert Jahren treten sie in Deutschland an die Seite von „Tätigen Orden“, die sich durch Jahrhunderte hin gemeinschaftlich Christi Verpflichtung gestellt hatten, und erarbeiteten sich die Potenz und Solidität einer strukturierten Organisation. Dieser Schritt wollte zwar nicht die individuelle Hilfe des einzelne Gläubigen ersetzen. Doch brachte er einen fundamentalen Neuansatz zur kirchlichen Sicherung des Herren-Auftrags. Denn Organisationen sind „die vernünftigste und leistungsfähigste Form sozialern Zusammenschlusses, die wir kennen“ (Amtai Etzioni, US-Soziologe / Harvard Business School). Weil die Initiativen gegen die Not zu Organisationen wurden, erwiesen sie sich später so effizient und wirkmächtig.

      Die Soziologie zeigt uns freilich auch, dass Organisationen stets in Gefahr sind, ihren eigenen Kern, ihr movens, aus dem Blickfeld zu verlieren. Die Mittel gewinnen leicht die Oberhand über den Zweck. Der Vorrang des Zieles ist somit nicht automatisch garantiert. Die Erwartungen der Gesellschaft, der Aufbau der Organisation, die Einstellung von Mitarbeitern und die Beschaffung der Finanzierung fordern einen Leiterkreis, der vor allem dem Instrumentarium dient. Er richtet sein Augenmerk zunehmend darauf, die Organisation auszurüsten und zu festigen. Es ist sogar möglich, dass dieses Bestreben ihm wichtiger wird, als eindeutig am ursprünglichen Ziel der Organisation festzuhalten. Daraus ergibt sich dann möglicherweise, dass im fälligen Alttagskampf der Einsatz der genannten Führungsgruppen vor allem dieser selbst zugute kommen soll – ihrem publizistischen Prestige, ihrem politischen und gesellschaftlichen Einfluss, der Überrundung konkurrierender Alternativen [ vgl. etwa Robert Michels, in „Political Parties“ (New York 1959) (Analyse der sozialistischen Parteien und Gewerkschaften in Europa); S.D. Clark in „Heilsarmee“ („Church and Sects in Canada“; Toronto 1948].

      Hier setzt Deus caritas est ein. Und sie führt uns weit über Umfrageergebnisse hinaus. Kirchliche Helfer verstehen sich ja nicht als Funktionäre eines Systems. Nein! Wer in der Nachfolge Jesu dem Nächsten helfen will, der will ihm als Menschen helfen. Caritas ist nicht nur das Abwickeln von Programmen, ist nicht allein Speisen und Pflegen, sie ist ebenso Zuhören und Sprechen und Zeugnis geben. Die Enzyklika setzt das anthropologische Maß neu. Sie darf als Wink des Himmels gelten, wenn eine Hilfsorganisation ihren Einsatz stabilisieren oder ihr lädiertes System justieren will. Überreich sind ihre Anregungen außerdem für alle freiwilligen Helfer im Dienst am Nächsten.

      Ich komme zum Schluss.

      Sie werden verstehen, daß ich Ihnen heute nur einen Aperitif der Enzyklika serviere; daß ich ihre Bereitschaft wecken möchte, sie zu lesen oder neu zu lesen. Die gedankliche Tiefe des Textes, seine gewinnende Sprache und seine pastorale Weisung sind nicht durch eine abstrahierende Inhaltsangabe zu vermitteln. Glücklicherweise hat der Papst jedoch in einer anderen Situation den Grundgedanken seines Dokuments einmal selbst zusammengefasst: Zum Start der Enzyklika im Januar 2006 der ich schon erwähnte:

“Die kosmische Reise, in die Dante in seiner Göttlichen Komödie den Leser miteinbeziehen will, endet vor dem ewigen Licht, das Gott selbst ist, vor jenem Licht, das zugleich »die Liebe ist, die auch die Sonne bewegt und die anderen Sterne« (Par. XXXIII, V. 145). Licht und Liebe sind ein und dasselbe. Sie sind die uranfängliche schöpferische Macht, die das Universum bewegt.

Auch wenn diese Worte aus Dantes Paradies das Denken des Aristoteles durchscheinen lassen, der im Eros jene Macht sah, die die Welt bewegt, so nimmt dennoch Dantes Blick etwas völlig Neues wahr, was für den griechischen Philosophen noch unvorstellbar war. Nicht nur, daß sich ihm das ewige Licht in drei Kreisen offenbart ... Tatsächlich noch überwältigender als diese Offenbarung Gottes als trinitarischer Kreis der Erkenntnis und der Liebe ist die Wahrnehmung eines menschlichen Antlitzes – das Antlitz Jesu Christi –, das sich Dante in dem zentralen Kreis des Lichtes zeigt. Gott, unendliches Licht, dessen unermeßliches Geheimnis der griechische Philosoph erahnt hatte, dieser Gott hat ein menschliches Antlitz und – so dürfen wir hinzufügen – ein menschliches Herz. In dieser Vision Dantes zeigt sich zum einen die Kontinuität zwischen dem christlichen Glauben an Gott und der von der Vernunft und von der Welt der Religionen entwickelten Suche; gleichzeitig jedoch kommt auch die Neuheit zum Vorschein, die jede menschliche Suche übertrifft – die Neuheit, die allein Gott uns offenbaren konnte: die Neuheit einer Liebe, die Gott dazu veranlaßt hat, ein menschliches Antlitz, ja Fleisch und Blut, das ganze menschliche Sein anzunehmen. Der göttliche Eros ist nicht nur eine uranfängliche kosmische Kraft. Er ist Liebe, die den Menschen geschaffen hat und sich zu ihm hinunterbeugt, wie sich der barmherzige Samariter zu dem verwundeten und beraubten Mann hinuntergebeugt hat, der am Wegrand der Straße von Jerusalem nach Jericho lag.”

 

 

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1 Dieser Text ist z.T. veröffentlicht in P.J. Cordes (Hg.) Helfer fallen nicht vom Himmel. Caritas und Spiritualität. Mit einem Geleitwort von Papst Benedikt XVI., Freiburg 2008.

2 Lit: R. Leick, „Adler des Geistes“; Der Spiegel 20/2006.

3 Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt 1991, S. 48f. (englische Ausgabe: The Invisible Religion, New York, 1967).

4 Vgl. “Good Humanitarian Donorship and the European Union: a study of good practice and recent initiatives“ vom 15.9.2004. Box  3 zitiert “Germany’s ‘Twelve Basic Rules of Humanitarian Aid Abroad’: “Humanitarian aid must not be made conditional on political or religious attitudes and must not promote these.”

5 Die Nr. 7-8-2006 der Zeitschrift „eins Entwicklungspolitik“ (Frankfurt), für deren Herausgabe verschiedene, auch kirchliche Hilfsorganisationen zeichnen, enthält einige interessante Beiträge zum Thema „Religion und Entwicklungszusammenarbeit“. Die Darlegungen verzichten jedoch überraschenderweise auf das Ausleuchten des geistesgeschichtlichen Hintergrunds der Religionsproblematik in der Ersten Welt. Chancen und Grenzen der Aufklärung, die das westliche Religionsverständnis bestimmen, werden nicht dargestellt. Immerhin bestätigen die Artikel jedoch, dass der Einsatz für eine bessere Welt sich über religiöse Implikationen nicht hinwegsetzen kann.

6 Vgl. J. Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt 2005, 114.

7 Eglises d'Asie, Nr. 349, 16. März 2002.

 

 

 

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