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SCHLUSSBERICHT EINES KONGRESSES
IM VATIKAN ZUM THEMA:
"FAMILIE UND INTEGRATION BEHINDERTER
IM KINDES- UND JUGENDALTER"

 

I. Einführung

Auf Initiative des Päpstlichen Rates für die Familie, des »Centro Educación Familiar Especial« (CEFAES) und des Programms »Leopold« haben wir uns – verschiedene Experten, Ärzte, Psychologen, Universitätsdozenten, Berufstätige im Behindertenbereich, Verantwortliche und Mitglieder von Verbänden für Behinderte und deren Familien – vom 2. bis 4. Dezember 1999 in der alten Synodenhalle im Vatikan versammelt, um die Rolle der Familie bei der Integration der behinderten Kinder in die Gesellschaft zu vertiefen, wobei ganz besonders über die geistig behinderten Kinder nachgedacht wurde. (Die gesamten Kongreßbeiträge werden in der Zeitschrift Familia et Vita veröffentlicht.)

Das vom Hl. Stuhl 1981 zum Internationalen Jahr der behinderten Menschen veröffentlichte Dokument hob hervor, daß Sinn und Zweck der liebenden Aufnahme und Fürsorge, die eine Familie einem geistig behinderten Kind geben kann, sein muß, dem Kind die spätere Teilnahme am Gesellschaftsleben zu erleichtern. Achtzehn Jahre nach diesem Dokument halten wir uns die seit 1981 erfolgten gesellschaftlichen Veränderungen vor Augen und können uns fragen, wie weit wir im Blick auf den genannten Zweck gekommen sind. 

II. Heutige Situation des behinderten Kindes in der Familie 

a) Die Würde des behinderten Kindes und ihre Grundlage 

Das erste Problem, mit dem das geistig behinderte Kind in der Gesellschaft in dem Moment konfrontiert wird, wenn es versucht, in einem etwas unabhängigeren Verhältnis zu seiner Familie zu leben, ist die Tatsache, daß diese Gesellschaft plötzlich gar nicht mehr so aufnahmebereit reagiert. Dabei ist doch auch der Behinderte ein Mensch, dem unveräußerliche Rechte zustehen. Dieser Behinderte trifft in Wirklichkeit oft auf Schwierigkeiten, wenn es gilt, seine Rechte auszuüben, in der Gesellschaft zu leben, den eine Gesellschaft bietenden Raum mit allen zu teilen, zu arbeiten und mit denen unter einem Dach zu leben, die nicht behindert sind. Eine solche Einschränkung bei der Aufnahme geistig Behinderter durch unsere Gesellschaft scheint zum Teil mit einer verschwommenen Auffassung von der ureigenen Würde behinderter Menschen verbunden zu sein.

Das vom Hl. Stuhl 1981 veröffentlichte Dokument hob zu Recht als grundlegendes Prinzip hervor, daß der Behinderte »ein im vollen Sinne menschliches Wesen ist«, das »eine eigene und einzigartige Würde« besitzt. Dieser Begriff von Würde entstammt einer präzisen Anthropologie, und zwar der biblischen Anthropologie vom Menschen, der »als Abbild Gottes« geschaffen wurde (Gen 1,27), der Sünde verfiel, doch losgekauft, gerettet durch den Tod und die Auferstehung Jesu Christi und nunmehr dazu berufen wurde, der Gemeinschaft mit Gott in Jesus Christus, dem vollkommenen Abbild des Vaters, zuzustreben. Der Schlüssel zur Würde des Menschen besteht weder in seiner Autonomie noch in seiner Vernunft, er besteht auch nicht in seiner Entschlußfähigkeit oder darin, daß er sein eigenes Universum schafft, sondern er besteht vielmehr in jener Wirklichkeit des Menschen als Person, als der einzigen von Gott um ihrer selbst willen gewollten Kreatur[1]; denn Gott »formte […] den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem«. Nach diesem schönen Bild aus dem Buch Genesis (Gen 2,7) ist der Mensch schließlich »fähig, seinen Schöpfer zu erkennen und zu lieben«[2] . 

In der Perspektive eines ganzheitlichen Humanismus, den der Glaube tiefer erfaßt, darf man es nicht einmal wagen, die Hypothese aufzustellen, daß Gott womöglich ein Fehler unterlaufen sein könnte, als er dieses behinderte Kind geschaffen hat. Im Gegenteil, man muß sagen, daß Gott es persönlich liebt und daß dieses Kind, das dem leidenden Christus so ähnlich ist, von Gott ganz besonders innig geliebt wird. 

Diese Würde des behinderten Menschen, die ihrer Natur nach in der von Gott gewollten menschlichen Person gründet, ist nicht gezeichnet von der schlimmen Behinderung, und sie wird auch nicht beeinträchtigt von dessen Schwierigkeit, mit anderen zu kommunizieren. Man kann nicht von dieser Würde abgehen, man kann sie auch nicht verlieren, diese Würde kann man niemandem nehmen, sie bleibt ein und dieselbe bis zum letzten Augenblick des Lebens. Der Mensch ist zur Transzendenz berufen, welche die Geschichte und die Zeit übersteigt. Aus diesem Grund darf man keinen Versuch akzeptieren, das Leben dieses »unproduktiven« Wesens aus wirtschaftlichen Gründen oder aus Mitempfinden der Familie gegenüber auszulöschen, die durch dieses behinderte Kind ernstlich betroffen ist. 

Diese Sichtweise wird heutzutage total vergessen oder abgelehnt. Wir befinden uns in einer Art Turm zu Babel, in dem die größte Verwirrung darüber herrscht, was die menschliche Natur und die Wahrheit über den Menschen ist. Man spricht sehr oft von den Menschenrechten, aber gleichzeitig spricht man diese Rechte den Schwächsten wieder ab. Die »Konsensreligion« hat den Platz der biblischen Transzendenz eingenommen, aber Gott sei Dank gibt es auch etliche Familien, in denen jenen Kindern gegenüber die Verantwortung und die Liebesfähigkeit wächst. 

b) Neue wissenschaftliche Erkenntnisse über Entwicklungsmöglichkeiten geistig Behinderter 

Wenn es auch Grund zur Beunruhigung gibt, was die derzeitige Fähigkeit unserer Gesellschaft anbelangt, einen behinderten Menschen anzunehmen, so gibt es doch auch Grund zur Hoffnung und zu positivem Drang zum Handeln bei den jüngsten Entwicklungen der medizinischen, neurologischen, pädagogischen und erzieherischen Erkenntnisse über behinderte Menschen. Der Beweis der zerebralen Plastizität, das heißt der Möglichkeit nachgeholter Entwicklung des Gehirns trotz eines Defektes und trotz einer Verletzung der höheren Gehirnzentren, läßt uns wirklich Hoffnung schöpfen für unsere behinderten Kinder. 

Die Neurologie hat hervorgehoben, daß sich im Gehirn in den ersten Lebensjahren jene Verbindungen, die für verschiedene wichtige zerebrale Funktionen wie Emotionen, Gedächtnis und Verhalten zuständig sind, weiterentwickeln. 

Verschiedene Studien haben auch bewiesen, daß die nichtverbale Kommunikation zwischen dem verantwortlichen Erwachsenen, der sich um das Kind kümmert (für gewöhnlich ist dies die Mutter, aber diese Rolle kann von jedem Erwachsenen, der dem Kind nahe steht, übernommen werden), und dem Kind selbst einen wichtigen Einfluß auf die Entwicklung dieser geistigen Prozesse ausübt.

Ein Punkt, der darum unterstrichen zu werden verdient, ist die heute durchaus anerkannte Bedeutung, welche die Aneignung – das heißt also die »Kultur« – gegenüber den biologischen Gegebenheiten – mit anderen Worten: gegenüber der »Natur«, bei der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit aufweist; also all das, was wir durch die Geburt im biologisch-natürlichen Sinne mit in die Wiege gelegt bekommen haben, determiniert absolut nicht die Ausgestaltung der eigenen Persönlichkeit und der eigenen Verhaltensweisen. Die beeinflussenden »Neigungen« behindern nicht die Entfaltung der Tugendhaftigkeit. 

Was die Möglichkeit einer persönlichen und moralischen Entwicklung eines geistig behinderten Menschen betrifft, so ist diese Botschaft der Humanwissenschaften eindeutig positiv.

c) Beziehungsfähigkeit und Sexualität geistig Behinderter 

Ein weiterer positiver Punkt, den die Wissenschaften liefern, die sich mit geistig behinderten Menschen auseinandersetzen, ist die Tatsache, daß es für diese Menschen nicht unmöglich ist, wirklich die Fähigkeit entfalten zu können, zu lieben und auch Sexualverkehr zu haben, was in ihrer grundsätzlicher Beziehungsfähigkeit gegründet ist. Diesbezüglich hat sich heutzutage die Mentalität geändert. Man anerkennt heute, daß das behinderte Kind auch die Anlagen zum Leben einer Beziehung besitzt, und diese Anlagen müssen in dem Maß gefördert werden, in dem es der Grad der Behinderung, die Möglichkeit der eigenen Persönlichkeitsentfaltung und die durch die Behinderung auferlegten Grenzen der Freiheit zulassen. 

Die Erziehung zum Beziehungsleben und zur Sexualität muß bei geistig Behinderten schon sehr früh beginnen, da sie das Kennenlernen des eigenen Körpers mit einbezieht. 

Folglich müssen auch die Antworten auf ihre speziellen Fragen zu diesem Thema pädagogisch durchdacht und der intellektuellen Fassungskraft des einzelnen angepaßt sein. 

Es ist wichtig, diesen Kindern zu vermitteln, wie sie ihr Verhalten disziplinieren können, damit sie befähigt werden, eine verantwortungsvolle Auswahl zu treffen. Aber ebenso wichtig ist es auch für die Eltern, daß sie ihren behinderten Kindern zuzuhören vermögen, um ihnen so die Möglichkeit zu geben, ihrem Wunsch nach einer Freundschafts- oder Liebesbeziehung Ausdruck zu verleihen. Natürlich ist es auch klar, daß man sie über ihre eigenen und wirklichen Grenzen informieren muß, die ihnen ihre mehr oder weniger schwere Behinderung für eine eventuelle Heiratsabsicht auferlegt.

Würde man diese Menschen, die oftmals nicht in der Lage sind, einen echten durchdachten Konsens zu leisten, zur Verhütung oder zur Pflichtsterilisation bzw. – schlimmer noch – zur Abtreibung nötigen, so würde dies eine nicht nur der Ethik zuwiderlaufende Praxis darstellen, sondern es könnte deren psychische Entwicklung beeinträchtigen. 

d) Erziehung geistig Behinderter 

Es besteht also immer die Möglichkeit und somit auch die Notwendigkeit, Kinder, die von einer geistigen Behinderung betroffen sind, zu erziehen. Dies gilt auch in gravierenden Fällen, denn dank der ermutigenden Zärtlichkeit, die Eltern ihren behinderten Kindern zukommen lassen, und durch die Anregungen, die eine Familie ihrem Kind entgegenbringt, kann dieses Kind seine psychisch-motorischen Anlagen entwickeln, um so einen gewissen Grad an Autonomie zu erlangen. Hier müssen wir die Bedeutung dieser nichtverbalen Kommunikation unterstreichen, die eine ständig zu Hause anwesende Mutter mit ihrem behinderten Kind aufzubauen vermag. Durch den Austausch von Blicken, die zärtliche Umsorgung des Kindes und ihre Liebkosungen während der ersten Lebensmonate beginnt bereits die zukünftige Eingliederung des Kindes in die Gesellschaft.

Die Kommunikationsmittel können eindeutig einen positiven Einfluß auf die Entwicklung des behinderten Kindes ausüben, indem sie seine Erziehung und Entfaltung und seine Eingliederung in das Familienleben und damit auch in das Gesellschaftsleben erleichtern. Jedoch hängt die Qualität dieses Einflusses entscheidend davon ab, wie man in der Familie diese Mittel einsetzt. Wenn in der Familie die Auswahl der Programme nicht gepflegt wird, kann das einen negativen Einfluß auf alle Familienmitglieder, besonders aber auf die Behinderten, ausüben. 

III. Rolle der Familie 

»Die Familie«, so hat der Heilige Vater bei seiner inhaltsvollen Botschaft an unseren Kongreß unterstrichen, »ist der Ort schlechthin, an dem das Geschenk des Lebens als solches aufgenommen und wo die Würde des Kindes durch den Ausdruck besonderer Fürsorge und Zärtlichkeit anerkannt wird.«[3]

a) Familie als Quelle von Liebe und Solidarität 

Durch die stabile und treue Verbindung der Eheleute, durch ihr sich gegenseitiges unwiderrufliches Schenken in Fülle stellt die Familie die beste Umgebung für die Persönlichkeitsentfaltung des Kindes dar, und zwar besonders dann, wenn es sich um ein besonders gebrechliches oder in seinen Fähigkeiten eingeschränktes Kind handelt und deshalb auch mehr Fürsorge, Aufmerksamkeit, Zärtlichkeit und Ansprache nicht nur verbaler Art von seiner direkten Umgebung braucht. 

Es ist wichtig, zu unterstreichen, daß das behinderte Kind keine »Belastung« für seine Eltern oder Geschwister darstellen darf. Wenn man ein solches Kind in der Familie als Sohn oder Bruder bzw. als Tochter oder Schwester annimmt, bewirkt diese Liebe, daß die Schwierigkeiten erleichtert werden, daß sie erträglich und sogar zur Quelle der Hoffnung und geistigen Freude werden. 

b) Die Familie als Erzieherin des behinderten Kindes 

Die Verantwortung für die Erziehung aller Kinder, auch der behinderten Kinder, ist Aufgabe der Familie. 

Die Familiengründung ist nicht nur eine biologische und soziologische Gegebenheit. Die Offenbarung zeigt uns, wie der Familie die Genealogie der Person als Abbild Gottes eingeschrieben wird. Wenn daher die Familie aus der Liebe Gottes entsteht, muß sie auch in dieser Liebe bleiben, und das ist ihre grundlegende Charakteristik, auf diese Grundlage stützt sich das Gesamtgeschehen in einer Familie. 

Aus diesem Grund kann man sagen, daß die vorrangige Aufgabe der Eheleute bei der Erziehung des behinderten Kindes die Erhaltung dieser lebendigen ehelichen Liebe und ihr Übertragen auf alle ihre Kinder ist. Das Kind muß sich in seiner Familie geliebt, beachtet und um seiner selbst willen geschätzt fühlen in seiner unwiederholbaren Wirklichkeit. 

Daher muß man das gesamte »menschliche Kapital« der Familie einsetzen, zu dem auch die Gesellschaft beizutragen hat. 

Die Eltern sollen so handeln, daß das Leben in der Familie durch ihr Beispiel, ihre Freude und ihre Liebenswürdigkeit für alle Mitglieder eine besondere Zuwendung darstellt. Sie müssen sich in der Familie so verhalten, daß die Vor- und Nachteile eines jeden Familienmitglieds bekannt sind und von allen Angehörigen, die dieses Heim ausmachen, akzeptiert werden. 

Die Kommunikation zwischen den Eheleuten ist für die Kinder grundlegend. Diese lernen und leben in ihrer eigenen persönlichen Dimension, indem sie an der Kommunikation der Eltern teilhaben und indem sie sich auf ganz natürliche Weise untereinander verständigen, was sich aus der Natürlichkeit der Eltern-Kind-Beziehung von selbst ergibt. 

Die Familie bietet dem Kind ein Gefühl der Sicherheit, sie vermittelt ihm die Grundbegriffe von Gut und Böse, sie zeigt ihm den Wert seines Daseins in der Welt, sie teilt ihm die Freude mit, die von der empfangenen und geschenkten Liebe kommt. Es kommt der Familie zu, dem Kind die Bedeutung von Schmerz, Leid, körperlicher Einschränkung und Armut aufzuzeigen. Das ist der anthropologische »Kodex« der Familie. Daher kann eine Familie diese Verantwortung nicht aufgeben, und sie darf es auch nicht zulassen, daß sie durch andere Institutionen – Erzieher, Vertreter, Pfleger oder Sozialarbeiter – bei der Erziehung des behinderten Kindes ersetzt wird.

c) Negative und positive Haltungen 

»Nachdem die Familie den ersten Moment« nach der Geburt eines behinderten Kindes »überwunden hat, muß sie verstehen lernen, daß der Wert der ›Existenz‹ jenen der ›Effizienz‹ übersteigt«[4] . Die Familie darf also nicht in jene Gefahr geraten, daß sie meint, sie müsse nun um jeden Preis auf die Suche nach einer Behandlung oder außerordentlichen Fürsorge gehen, um dabei dann etwa zu riskieren, daß sie enttäuscht wird, Mißtrauen entsteht oder sie sich abkapselt, weil sich die Resultate, die man auf Heilung oder Wiederherstellung erhoffte, nicht eingestellt haben.

Es gibt verschiedene Haltungen, welche die Eltern zugunsten einer besseren Entwicklung ihres behinderten Kindes vermeiden sollten. Wir haben über einige gesprochen:

– Die erste negative Haltung ist die der Ablehnung und des nicht Wahr-Haben Wollens der Realität. Diese Ablehnungshaltung kommt niemals frontal zum Tragen, sondern man kann sie nur erahnen anhand der Erklärungen, welche die Eltern für ihr Unglück zu geben versuchen, denn sie fühlen sich unbewußt schuldig für das Resultat und versuchen nun, die Schuld anderen zuzuweisen. 

– Eine weitere negative Haltung ist die Angst: Sie ist die Reaktion auf eine imaginäre Gefahr und zeigt die Unfähigkeit auf, sich der Realität anzupassen. Diese Angst wird von der Entscheidungsunfähigkeit begleitet, sich neuen Situationen anzupassen, die nötigen Mittel und Wege zu suchen, um die Schwierigkeiten zu lösen. 

– Weniger bekannt, aber deshalb nicht weniger negativ ist eine übertriebene Schutzhaltung dem behinderten Kind gegenüber. Diese Haltung scheint auf den ersten Blick sogar von einer anerkennenswerten Fürsorge und Hingabe dem behinderten Kind gegenüber zu zeugen. Doch die Tatsache, daß die Eltern alles an Kindes Statt tun, erleichtert kaum das Entstehen einer gewissen Autonomie.

– Schließlich ist noch die Haltung der Resignation als negativ zu nennen, weil sie den Willen der Eltern nicht zur Annahme einer positiv aktiven Haltung ihrem behinderten Kind gegenüber bringt und daher nicht dazu führt, daß das Kind seine Autonomie entfaltet. 

Erst wenn die Eltern die Wirklichkeit der Behinderung ihres Kindes akzeptieren, können sie trotz dieser Probe, auf die sie gestellt sind, auch wirklich beginnen, glücklich zu sein. Erst wenn die Eltern sich wirklich trotz ihrer schwierigen Situation glücklich zeigen, dann können sie auch ihr Kind glücklich machen, wie schwerwiegend auch immer seine Behinderung sei. 

d) Professionelle Hilfen für die Eltern 

Bei der Aufgabe der Kindererziehung braucht die Familie, um ihren Auftrag zu erfüllen, Hilfe und Information entsprechend ihrer Situation durch berufsmäßige Betreuer behinderter Kinder. Berufliche Betreuer können und müssen den Eltern helfen, sich von ihrem Gefühlsblock zu lösen, um ihre Situation in reeller Weise angehen zu können. Die Wissenschaftler, Ärzte und Forscher sollen besonders sensibel für die schwierige Situation sein, in der sich Familien von behinderten Kindern besonders nach deren Geburt befinden. Man sollte solche Familien in erster Linie daran erinnern, daß auch der Wissenschaft Grenzen gesetzt sind und daß die leibliche Gesundheit kein Recht, sondern ein Geschenk darstellt. 

Den Ärzten kommt es zu, den Familien zu helfen, die rechte Haltung gegenüber ihrem behinderten Kind einzunehmen. Daher haben die Spezialisten unter den Ärzten die Pflicht, den Eltern den Wissensstand und die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Behinderung ihres Kindes mitzuteilen, und sie sollen dies in einem Geist des Dienstes und der Solidarität sowie auf menschliche Weise tun. Dabei sollen sie sich einer möglichst zugänglichen und verständlichen Sprache bedienen. All das muß in einer aufrichtigen professionellen Art geschehen.

Eine solche ständige Vermittlung des Fachwissens ist für die Eltern deshalb notwendig, damit sie sich mit der Realität der Situation ihres behinderten Kindes konfrontieren können. Wenn sie informiert sind, können sie ihrem Kind die Erziehung und Behandlung zukommen lassen, die der Situation am meisten angepaßt ist. 

Die Familie braucht die adäquate Unterstützung von der Gemeinschaft. Ist die Familie unerläßlich für die Annahme und Erziehung des behinderten Kindes, so schafft sie es doch aus lediglich eigenen Kräften nicht, völlig zufriedenstellende Resultate zu erzielen. Und hier wird Raum geschaffen für das Eingreifen von spezialisierten Verbänden und anderer außerfamiliärer Formen der Hilfe. Diese sichern die Anwesenheit von Menschen zu, mit denen das Kind eine pädagogische Beziehung eingehen kann. 

Solche Hilfssysteme sind besonders in kritischen Momenten des Familienlebens notwendig, wenn das Zusammenleben in der Familie schwierig oder gar unmöglich wird. Daher ist die Entwicklung dieser kleinen Gemeinschaftsstrukturen wichtig, wo das behinderte Kind wenigstens zeitweise oder als ständiges Glied nach dem Tod eines der beiden Elternteile aufgenommen werden kann.

IV. Schlußempfehlungen 

Es wurden viele Fortschritte bei der Eingliederung des Behinderten in das Gesellschaftsleben erzielt. Doch da es immer mehr erwachsene Behinderte in dieser Gesellschaft gibt, ist in den letzten Jahren in diesen Zentren zur Aufnahme von Behinderten ein großer Anstieg zu verzeichnen, so daß die Möglichkeit nicht mehr gewährleistet ist, daß die Behinderten ihren Lebensabend unter würdigen Bedingungen verbringen. Gleichzeitig gab es aber durch die entstehende Vernetzung dieser Verbände zur Dienstleistung für Behinderte und deren Familien Verbesserungsansätze. Schließlich haben sich die Lebenserwartungen eines behinderten Kindes deshalb verändert, weil sich die Entwicklungsmöglichkeit zum Erlangen eines beachtlichen Grades psychisch-motorischer und auch intellektueller Entfaltung aufgrund der Stimulation der Subjektivität des behinderten Kindes in einer freundlichen und fröhlichen Umgebung bewährt hat, wo der Behinderte spürt, daß ihm Aufmerksamkeit und Liebe zukommt. 

Aus all diesen Gründen ist es heute wichtiger denn je, das bereits existierende Informations- und Fürsorgenetz für Eltern behinderter Kinder auszubauen und weitere Netze zu schaffen , damit die Eltern so früh wie möglich mit der Wahrheit konfrontiert werden und ihren Kindern die besten Bedingungen für die Entwicklung bieten können. Gleichzeitig scheint es aber auch angebracht, auf die öffentliche Meinung durch die Massenmedien Einfluß zu nehmen, um die Eingliederung geistig behinderter Menschen in die Gesellschaft zu erleichtern, die trotz ihrer Behinderung fähig sind, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten. 

Das Schaffen von spezialisierten Arbeitsplätzen oder von Arbeitseinrichtungen für Behinderte zusätzlich zu einer effektiveren Hilfe durch in diesem Sozialbereich Tätige sollte die Eingliederung erleichtern, die bereits vom Hl. Stuhl in jenem Dokument aus dem Jahre 1981 nachdrücklich gefordert wurde. »Der Wert einer Gesellschaft und Zivilisation bemißt sich nach dem Respekt, den diese den schwächsten ihrer Mitglieder bezeigt.«[5] 

In dem Maße, in dem nun eifrig die gesellschaftliche und arbeitsmäßige Eingliederung der am wenigsten begünstigten und bedürftigsten Glieder dieser Gesellschaft betrieben wird, stellt diese Gesellschaft selbst auch das »Thermometer« für den Grad an Weisheit dar, den die Menschheit an der Schwelle zum dritten Jahrtausend erreicht hat. Das waren einige Überlegungen, die wir gerne mit möglichst vielen Familien auf dieser Welt und mit den verschiedenen Bewegungen und in diesem so wesentlichen Bereich tätigen Einrichtungen teilen.

 


ANMERKUNGEN

1 Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, Gaudium et spes, 24,3.

2 GS, 12.

3 Ansprache von Papst Johannes Paul II. beim Kongreß über »Familie und Integration von Behinderten im Kindes- und Jugendalter« am 4. Dezember 1999, in: L’Osservatore Romano, deutschsprachige Wochenausgabe Nr. 2, 14. Januar 2000, S. 11, Nr. 2.

4 Ansprache von Papst Johannes Paul II., aaO., S. 11, Nr. 4.

5 Dokument des Hl. Stuhls zum Internationalen Jahr der Behinderten, in: L’Osservatore Romano, deutschsprachige Wochenausgabe Nr. 12, 20. März 1981, S. 1 u. 4–5.

 

 

 

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