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 Pontifical Council for the Pastoral Care of Migrants and Itinerant People

People on the Move

N° 110 (Suppl.), August 2009

 

 

PATER Jozef LanČariČ, SDB

NationalDirektor

Deutschland

 

 

Die jungen Zigeuner in der Kirche und Gesellschaft

(Situation in Deutschland – wie wir sie sehen) 

Als Einführung möchte ich betonen, dass: „wie wir sie sehen“! – Denn die Zigeunerjugendlichen werden das sicher anders beurteilen. Und damit sind wir schon beim Kern des Problems. Bei der Arbeit mit dieser Menschengruppe sind unsere „Gadji“ Meinungen, Erfahrungen oder Sicherheiten nicht gefragt und sogar ungültig. Aus unserer Sicht ist doch ganz klar und deutlich, dass jeder Sinto, Lovara, Kalderasch oder Rom dieselben Chancen hat im deutschen Ausbildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt wie „geborene“ Deutsche oder Zuwanderer von Südamerika, Polen oder den Philippinen. Deutschland ist doch eindeutig multikultiÂ… Und das soll man laut sagen, dass diese Einwanderer – wenn sie es wollen – ganz erfolgreich sein können. Also kein Problem, nirgendwo ein Hindernis, alle haben Chancengleichheit. Was in der Theorie so sehr schön aussieht, funktioniert aber im Leben nicht.

Erstens deswegen, weil die Theorie eine Theorie ist -  und kein Leben. Diese Theorie der Chancengleichheit funktioniert nicht einmal bei den „geborenen“ Deutschen. Ein Junge - aus einem kleinen Dorf im Schwarzwald - der zum Studium hohe Reisekosten und eine Unterkunft bezahlen muss, kann nicht die gleichen Chancen haben wie ein Junge aus Bonn, der 100 Schritte von der Uni entfernt wohntÂ… Das ist doch klar. Ein Junge, der Lehrer als Eltern hat oder ein Junge dessen Eltern zum Beispiel im Aldi arbeiten und immer nur spät abends nach Hause kommen und die Kinder immer auf sich selbst angewiesen sind, sind auch nicht vergleichbar. Über allein erziehende Mütter möchte ich hier nicht sprechen. Aber alle diese Jugendlichen haben eines gemeinsam: sie sind in einer Gesellschaft, wo Ausbildung angesehen ist, Erfolg wünschenswert – und sie „wollen was“.

Bei unserer Klientel ist Ausbildung nach ihren Familientraditionen nicht gefragt und sehr oft auch nicht gewünscht. (Z.B. die jungen Abiturientinnen vom Gymnasium in Pécs, Ungarn, die keinen Zigeuner als Mann bekommen, weil sie zu klug und schon zu alt sind und auch keinen Gadji, weil sie Zigeuner sind.) Die Jugendlichen, die „was wollen“, sind sehr selten, weil sie das von ihren Eltern nicht eingepflanzt bekommen haben. Ein Sinto wird nie seinem Sohn sagen: „Du sollst lernen und noch mal lernen, danach noch 6 Jahre studieren und danach kannst du Arzt werden.“ Das wäre nicht nur dumm, sondern auch ein Verbrechen gegen alle Familientraditionen und Sippenrechte. Also ein Sinto-Junge wird nie die Sehnsucht haben, Arzt zu werden. Ebenso wenig wird er die Schule so lieben, dass er ein Lehrer werden will. Alles was für Gadji als etwas Wertvolles und Erstrebenswertes aussieht, bedeutet für die Zigeuner fast gar nichts. Wir begegnen hier einer anderen Kultur, anderer Tradition, anderer Wertschätzung, anderer Mentalität, anderem persönlichen und auch kollektiven Unterbewusstsein. Und das bestimmt die Chancen und Möglichkeiten der Jugendlichen viel mehr als „reale“ äußere Bedingungen. 

Also begleiten wir einen Jugendlichen durch seine Kindheit bis zum Erwachsensein und betrachten seine Möglichkeiten. Er wächst in einer Familie, in der er geliebt und verwöhnt wird auf. Er ist Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, spielt und geniest. Nach ca. 3 – 4 Jahren kommen die Sozialarbeiter, oder eine Krankenschwester mit der Idee, dass er in den Kindergarten gehen soll. Selbstverständlich ist es ein Blödsinn, weil er zu Hause durch seine Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel und Geschwister sehr gut aufgehoben ist, sein Kommunikationsbedarf und Aufmerksamkeitsbedarf gesättigt ist. Er braucht die Gadji Welt nicht. Also in den Kindergarten geht man nicht. Was soll er mit den verwöhnten Gadji Kindern, die sofort schreien, oder aggressiv werden, wenn er sich ihre Spielzeuge leiht? Und sogar reden können die nicht! Ihre Sprache ist fürchterlich! So wächst man bis die Schulpflichtzeit kommt. Inzwischen lernt man auch die Gadji-Sprache, aber nur so nebenbei, als etwas nicht wirklich VernünftigesÂ… Die Zigeunerlieder, Musik und die Märchen, die Oma erzählt, sind viel interessanter und lebensnahÂ… Aber die Schule ist da und ist wie der Tod – wenn es an dich herankommt, muss man gehen. Tja, wer fühlt sich da wohl?! Die anderen Kinder kennen unsere Spiele nicht, die Lehrer wollen, dass ich immer nur schweige und stellen dumme Fragen, z.B. ob ich nicht sitzen kannÂ… Zu Hause passiert so viel Interessantes und ich muss hier meine Zeit verschwenden, wo mich niemand liebtÂ… Vater fährt nächste Woche auf eine lange Geschäftsreise und ich soll doch seinen Beruf erlernen, ich muss mit ihm. Außerdem fährt nicht nur der Vater sondern auch die Mutter und alle anderen mit, und es gibt niemanden, der mit mir zu Hause bleiben kann, also ich muss doch mit. Die Schule kann warten. Wenn ich das Geschäft meines Vaters übernehme, wird mich sowieso niemand fragen welche Noten hatte ich in MatheÂ… Was ich wirklich brauche ist ein Führerschein und Bekanntschaften unter der Kundschaft der Geschäftspartner. Mein Vater hat mir beigebracht, wie man Geschäfte macht, (wie man Pferde züchtet, wie man Geigen baut, wie man alte Möbel repariert, wie man Schrott sammeltÂ…). Ich kann mit dem Geld und Frauen umgehen, ich kann leben und eine Familie erhaltenÂ… Wozu brauche ich noch was anderes? Der Mensch lebt doch damit er lebt, nicht damit er arbeitetÂ… Und arbeitet nur, damit er lebt und nicht umgekehrtÂ…

Wir Gadji wissen, dass die für das Leben wichtigsten Erkenntnisse und Überzeugungen die sind, die das Kind in den ersten drei Jahren seines Lebens eingeprägt bekommt. Das kennen wir sogar aus der Bibel, dass Mose nach 40 Jahren, trotz seiner königlichen Erziehung im Pharao Palast immer wie ein Jude dachte und fühlte. Wenn ein Junge im Zigeunermilieu aufgewachsen ist, kann man von ihm kaum erwarten, dass er anders denken und fühlen wird, wie seine Familie. Das ist die „normale“ Situation. Leider, oder Gott sei dank, das Leben bringt viele und verschiedene Turbulenzen in Gang. So entstehen dann verschiedene Eingliederungsversuche und Maßnahmen, die – wieder betone ich: nach unserer Gadji-Sicht – die Entwicklung weitertreiben. Es ist interessant, dass bei den Gadji die Ausbreitung der gesellschaftlichen Sozialstrukturen zum Zerfall der Familien führt und bei den Zigeunern führt der Zerfall der Familienstrukturen zur Ausbreitung der Sozialstrukturen. Das zeigt auch, welche wichtige und gewaltige Rolle bei den Zigeunern die Familie spielt.

Grundsätzlich kann man bei der Eingliederung der jungen Zigeuner in Deutschland zwei verschiedene Entwicklungslinien feststellen, die selbst dann mehrere Unterschichten haben. Die erste Gruppe sind die ursprünglich in Deutschland lebenden Großfamilien, die meistens zu Sinti, Manusch, Lalù, Lalerì oder Calderasch gehören. Zu diesen kann man auch die Jenischen rechnen. Die Familien – auch wenn sie nicht ganz sesshaft sind, haben schon feste Adressen, Häuser oder Wohnungen wo sie überwintern und während dieser Zeit besuchen ihre Kinder die Schule regelmäßig – mehrere sogar auch den Religionsunterricht. Von Ende März bis Oktober sind diese häufig unterwegs mit den Eltern und dadurch scheitert ihre Schulausbildung – und auch die Möglichkeiten des Weiterstudiums. Es ist üblich, dass sie Beruf oder Geschäft ihres Vaters weiterleiten, unter der Führung des Vaters, später auch selbstständig. Es sind z.B. Musiker, Möbelrestauratoren, Pferdezüchter und Händler, AltmetallhändlerÂ… Es ist schon üblich, dass die Musiker ein Konservatorium besuchen oder die Möbelhändler sich mit der Historie und Kunst bekannt machen – durch verschiedene Formen des Studiums, sehr oft auch privat, durch Selbststudium oder verschiedene Kurse. Dadurch ist ihre Lebenslage gesichert, das Familienleben stabil und Änderungen nicht gewünscht. Für die Mädels ist es normal, dass sie heiraten und Kinder kriegenÂ… Hier ist die Familienstruktur – die schützende aber auch steuernde - in Ordnung und wirksam.

Ganz anders ist die Situation bei den Zuwanderern und Asylanten. Diese haben (fast) keine feste Wohnungen (keine eigenen) und auch keine eigenen „Geschäfte“. Sie leben von  der Sozialhilfe und sind gezwungen sesshaft zu bleiben (meistens sogar mit Meldepflicht und auf ein Bundesland begrenzt). Zu dieser Gruppe gehören die Balkanzigeuner und die vom Osten gekommenen – Bearsch, Aschkali, Ungrike, Lovara und Roma. Diese sind interessiert in Deutschland bleiben zu dürfen und dadurch auch bereit für verschiedene Kompromisse mit ihren Sippenrechten und Gewohnheiten – und auch offener für die Schulen und Ausbildung. Es gibt mehrere Erziehungs- und Ausbildungseinrichtungen, von verschiedenen Sinti und Roma -Vereinen und -Verbänden organisiert – z.B. die Schaworalle in Frankfurt, Amaro Kher in Köln, SKM-Zentrum, Fortuinweg in Köln-Roggendorf, Stiftung ASA (Ausbildung statt Abschiebung) in Bonn und etliche weitere, die diesen Menschen helfen, die Kinder ins Ausbildungssystem einführen und für ein Weiterstudium vorbereiten. Diese Einrichtungen leisten bewundernswerte hervorragende Arbeit, wenn wir überlegen, welche große geistige Kluft sie überbrücken sollen. So kommt es dazu, dass die Einwanderer (und auch die ärmeren Einheimischen, meistens Roma) in relativ kurzer Zeit (wenn sie inzwischen nicht abgeschoben werden) qualifiziertere Ausbildungen erhalten und mehrere und bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt als die Einheimischen bekommen. Danach ist es schon – wie ich am Anfang geschrieben habe – Sache der Chancengleichheit und Initiative. Im Allgemeinen möchte ich betonen, dass die Chancen der Jugendlichen weit mehr von ihrer Erziehung im Elternhaus, vom geistlichen Milieu in dem sie aufgewachsen sind, abhängt, als von äußeren Bedingungen.  

Die Begegnung und Eingliederung in die Kirche ist bei diesen zwei Gruppierungen auch unterschiedlich.

Die Einheimischen halten sich zur Religion positiv, meistens auch zur Kirche im geistlichen Sinne, aber mit der Kirche als Struktur haben sie immer Probleme. Die Gemeinden in Deutschland sind veraltet und für andere Kulturen und Gewohnheiten nicht immer freundlich offen. Die Zigeuner achten darauf, dass ihre Kinder alle getauft werden, sehr oft bei einer Wallfahrt an einem schönen Wallfahrtsort, ebenso ist es mit der ErstkommunionÂ… Danach ist der Glaube eine Privatsache des Menschen, oder einer Familie. Sehr oft bauen sich diese Leute eine kleine Kapelle in einer Ecke des Wohnzimmers, oder im Garten eine Lourdes-Grotte, wo man Gott und „Debs Kedai“ begegnet und betet. Die älteren Menschen sind echt fromm und suchen nach Gott, die jüngeren haben auch den Sinn fürs Übernatürliche mitbekommen, auch wenn ihre Frömmigkeit unseren Vorstellungen nicht entspricht. Sie müssen  ihren Glauben im Kollektiv erleben und ausdrücken, mit Musik und Tanz. Das nutzen die Sekten aus – organisieren Missionen mit großen Campinglagern, Musik, Tanz und Predigten (oft ganz gegen die katholische Lehre und Kirche), begeistern die Jugendlichen und zerstören die klassische Familienstruktur der Sippen. Die Alten haben sich nicht einmal beschwert: „Die klauen unsere Kinder!“ Die Jugendlichen, unter dem Einfluss der Sekten, missachten oft die Traditionen der Familie, „befreien sich von Sippenrechten“, zerstören klassische Bindungen und Sicherheiten der Zigeunergesellschaft – und komischer Weise öffnen sie dadurch den Weg in die Gadji-Gesellschaft und zur Ausbildung. Einige sind sogar Prediger geworden, aber es ist mir nicht bekannt, dass einer von dieser Gruppe ein katholischer Priester wäre.

Die andere Entwicklungslinie ist von den „Nicht-Einheimischen“ ganz nach ihrer Art konstituiert. Mehrere „Balkanzigeuner“ sind Moslems, oder Orthodoxe, aber es stört sie überhaupt nicht, an den katholischen Wallfahrten, oder Zeltmissionen der „Hallelujas“ teilzunehmen. Alle wollen von dem Rashai gesegnet werden, ihre Kinder, Ausweise, Aufenthalterlaubnisse der Mutter Gottes anvertrauenÂ… Bei dem Segen sagen sie: „Wir sind Moslems, segne uns, Rashai, aber nicht mit Kreuz, nur wie Abraham, mit Handauflegen!“ Auch wenn diese Gruppe ärmer ist als die Einheimischen, sind diese Leute der Gesellschaft und der Kirche offener. Es gibt mehrere Pfarrgemeinschaften, die durch Sammlungen und Sozialarbeit in verschiedener Weise versuchen, diesen Menschen zu helfen. So entstehen bestimmte Formen von Kontakten, Austausch der Ideen und Erfahrungen und auch ein Weg zur Eingliederung und Weiterentwicklung. Durch ihren tiefen Glauben und ihre Frömmigkeit können diese sogar den Pfarrgemeinschaften helfen, ihren eigenen Glauben neu zu entdecken und zu vertiefen. Leider hat ihre Armut und unsichere Lebenslage auch negativen Einfluss und KonsequenzenÂ… Von denen sind die Polizeistatistiken und Boulevardpresse voll, und das erschwert noch mehr den Kampf junger Menschen um ein besseres Leben.

So sehen wir – Gadji – die Situation und die Lage der jungen Zigeuner und ich bin sehr gespannt, was sie selbst uns dazu sagen. Wie sie ihre Chancen sehen und erleben.

Bitte, das empfehle ich euch liebe Kollegen, jetzt und auch ganz allgemein – ihnen mehr und aufmerksam zuzuhören.                                               

 

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