The Holy See
back up
Search
riga
KONGRESS DES "ISTITUTO SUPERIORE
DI STUDI RELIGIOSI - FONDAZIONE AMBROSIANA PAOLO VI"
ÜBER "DIE RELIGIONSFREIHEIT : MEILENSTEIN DES NEUEN EUROPA"

ANSPRACHE VON KARDINAL TARCISIO BERTONE

Villa Cagnola (Gazzada - Varese)
Freitag, 19. Oktober 2007

 

Exzellenzen,
verehrte Obrigkeiten,
sehr geehrte Damen und Herren!

Ich freue mich, einen Beitrag zu leisten zu diesem Kongreß, der unter dem Thema steht: »Die Religionsfreiheit: Meilenstein des neuen Europa«. Durch ihn sollen zwei Jahrestage begangen werden, welche die Geschichte von Villa Cagnola auf besondere Weise mit der Geschichte des Apostolischen Stuhls verbunden haben: der 60. Jahrestag der Schenkung der Villa an den Heiligen Stuhl und der 30. Gründungstag der »Fondazione Ambrosiana Paolo VI«. Ich danke daher Msgr. Luigi Mistò und den lombardischen Bischöfen für die freundliche Einladung und grüße ehrerbietig die verehrten Persönlichkeiten und alle Anwesenden.

1. Die Religionsfreiheit im Lehramt der Kirche und im europäischen Kontext

Mit der Erklärung Dignitatis Humanae des Zweiten Ökumenischen Vatikanischen Konzils hat das kirchliche Lehramt das Thema der Religionsfreiheit in ein neues Licht gerückt. Es ging in Wirklichkeit nicht darum, die vorherige Lehre zu »revolutionieren« oder zu korrigieren, sondern vielmehr darum, sie zu entfalten. Bereits im Jahre 300 n. Chr. sagte nämlich Lactantius: »Religio sola est, in qua libertas domicilium conlocavit«,(1) und der Codex des kanonischen Rechts von 1917 schrieb schlicht und einfach vor: »Ad amplexandam fidem catholicam nemo invitus cogatur« (Can. 1351).

Ich weiß, daß Msgr. Mistò später etwas zur Erklärung Dignitatis Humanae sagen wird. Daher beschränke ich mich darauf, in Erinnerung zu rufen, daß sie die Verankerung der Religionsfreiheit in der Würde und damit in der Natur der menschlichen Person selbst hervorhebt.(2) Infolgedessen ist sie ein unaufhebbares, unveräußerliches und unverletzliches subjektives Recht, das eine private und eine öffentliche, eine individuelle und eine kollektive und auch eine institutionelle Dimension besitzt.(3)

Ich möchte außerdem hervorheben, daß die Religionsfreiheit nicht nur »eines« der Grundrechte des Menschen ist. Vielmehr ist sie »vorrangig« unter diesen Rechten. Sie ist vorrangig, weil »die Verteidigung dieses Rechts eine Art ›Lackmustest‹ für die Achtung aller weiteren Menschenrechte« ist, wie Papst Johannes Paul II. am 10. Oktober 2003 in Erinnerung rief.(4) Vorrangig ist sie auch, weil sie historisch betrachtet eines der ersten Menschenrechte war, das geltend gemacht wurde. Vorrangig ist sie schließlich, weil andere Grundrechte auf einzigartige Weise mit ihr verbunden sind. Wo die Religionsfreiheit in Blüte steht, dort keimen auch alle anderen Rechte auf und entfalten sich; wenn sie in Gefahr ist, dann geraten auch diese ins Wanken. Gerade deshalb sollte sie ein Meilenstein des neuen Europa schlechthin sein!

Letzteres hat Umbrüche von großer Tragweite erlebt: den Zusammenbruch der kommunistischen Regime, das Anwachsen der Immigration und die Hervorhebung der Multikulturalität, die Schwächung der Systeme der sozialen Absicherung, das Schwinden konsolidierter Lebensstile und Kulturmodelle durch das Einwirken der Globalisierung und der Konfrontation mit einer »vernetzten« Welt – einer Welt der gegenseitigen Abhängigkeiten, der Integrationen und Wechselwirkungen, die die verschiedenen Systeme in einem globalen Mosaik miteinander verbinden.

Auf der Ebene der europäischen Gemeinschaft ist die Religionsfreiheit von der Europäischen Menschenrechtskonvention und von der Charta der Grundrechte anerkannt. In institutioneller Hinsicht gründen die Beziehungen zwischen Staaten und Religionsgemeinschaften auf der Voraussetzung – die in einigen Gesetzestexten und im zukünftigen »Reformvertrag« der Europäischen Union deutlich gemacht wird –, daß besagte Beziehungen innerhalb der Zuständigkeit der einzelnen Staaten liegen. Im übrigen ist die europäische Situation sehr vielgestaltig: von der Staatskirche der griechischen Orthodoxie bis hin zu den »Nationalkirchen« einiger nordischer Länder, vom französischen »Separatismus« bis hin zu den Konkordats- und Vertragssystemen zahlreicher Staaten, einschließlich der lateinischen. Das bedeutet nicht, daß in der europäischen Gesetzgebung und Rechtsprechung keine Stellungnahmen vorhanden sind, die die Religionsfreiheit betreffen. Gegenwärtig finden sich diese vor allem in einigen ethisch heiklen Bereichen, wo das Christentum Verhaltensweisen vorgibt, die anders sind als die vom veränderten europäischen Rechtssystem vorgeschriebenen oder gestatteten. Aufs Ganze gesehen gibt es im europäischen Umgang mit der Religionsfreiheit nicht wenige Wunden, die geheilt, Verkrustungen, die entfernt, und Garantien, die geleistet werden müssen. Die Förderung dieses Grundrechts muß noch mehr gepflegt, gefestigt und verstärkt werden.

Ich glaube, daß es in diesem Zusammenhang nützlich ist, bei einigen Herausforderungen von größerer Tragweite zu verweilen.

2. Öffnung zur Transzendenz

Die vielleicht radikalste Herausforderung besteht in der Leugnung der Grundlage der Religionsfreiheit, genauer gesagt der Öffnung der Person zur Transzendenz. Die gegenwärtige Kultur betrachtet gewöhnlich das Freiheitsbedürfnis als das Grundbedürfnis des Menschen. Infolgedessen ist die Kultur mehr auf Forderungen nach Freiheit als nach Wahrheit und Gerechtigkeit aufgebaut worden. Es wird jedoch immer deutlicher ersichtlich, daß die kantische Lösung, allen dieselbe Freiheit zu garantieren, unter der Bedingung, daß man dem anderen keinen Schaden zufügt, eine unzulängliche und vage Formel ist, weil es immer umstrittener und schwieriger wird festzulegen, wer der »andere« ist, oder wer der »andere« wird, weil man ihn als solchen festlegt.

Die Freiheit braucht daher eine Grundlage, auf der sie sich entfalten kann, ohne jedoch die Würde des Menschen und den sozialen Zusammenhalt zu gefährden. Diese Grundlage kann nur transzendent sein, denn nur sie ist so »groß«, daß die Freiheit auf ihr das größte Ausmaß erreichen kann, und gleichzeitig so »fest«, daß sie der Freiheit in jeder Lage Orientierung geben und sie qualifizieren kann. Wo hingegen die Transzendenz verleugnet oder relativiert wird – wo Gott also als sekundäre Größe betrachtet wird, die man vorübergehend oder für immer beiseite legen kann im Namen von Werten, die irrtümlich als wichtiger angesehen werden –, dort scheitern, eben diese angeblich wichtigeren Werte. Das zeigt der tragische Ausgang der politischen Ideologien des vergangenen Jahrhunderts, die Gott verleugnet und so die Wahrheit des Menschen verletzt und seine Freiheit »in Ketten gelegt« haben.

Oftmals leugnet man Gott nicht direkt, sondern im Namen eines absoluten Verständnisses von Toleranz oder einer privatistischen Sichtweise der Religionsfreiheit oder auch, indem man die Religion von der Vernunft trennt und sie ausschließlich in die Welt der Gefühle verbannt. Ich meine daher, daß es angebracht ist, auch einige Worte zu diesen Herausforderungen zu sagen.

3. Der Begriff der Toleranz

Das, was der Toleranz ihren Wert verleiht, ist die Sakralität des Gewissens. Dieses strebt immer zum Guten und zur Wahrheit, gegenüber denen die Toleranz daher ein zweitrangiger Wert ist. Wenn die Toleranz dagegen zum höchsten Wert wird, dann ist jede wirklich glaubhafte Überzeugung, die andere Überzeugungen ausschließt, Intoleranz. Wenn jede Überzeugung ebenso gut ist wie jede andere, ist man überdies am Ende auch tolerant gegenüber der Immoralität. Engelhardt hat diese Aporie bis zu den äußersten Konsequenzen weitergeführt und konnte folgendes Paradoxon aufzeigen: »Wenn man die Immoralität bestimmter Verhaltensweisen nicht beweisen kann, dann lassen sich die ärztliche Betreuung, die Albert Schweitzer geleistet hat, und das, was in den nazistischen Konzentrationslagern durchgeführt wurde, gleichermaßen verteidigen. […] Das Verhalten moralisch abstoßender Individuen läßt sich dann rechtfertigen oder nicht rechtfertigen, nicht mehr und nicht weniger als das der Heiligen«.(5)

Die Würde des Menschen gründet in seiner Fähigkeit zur Wahrheit. Die Toleranz zu verabsolutieren bedeutet dagegen, sich von dieser Würde zurückzuziehen. Dort, wo die Überzeugungen unter einen Bann gestellt werden und derjenige, der sie besitzt und nicht bereit ist, sie in einfache Hypothesen umzuwandeln, als unfähig zum Dialog betrachtet wird, dort wird der Dialog selbst unmöglich. Er kann nämlich nicht stattfinden und wirksam sein, wenn auf die Wahrheit verzichtet wird oder wenn man sie relativiert, im Namen einer angeblichen Achtung der Überzeugungen anderer. Der Verzicht auf die Wahrheit und auf die Überzeugung vereint und erhöht die Menschen nicht. Er überläßt den Menschen vielmehr der Berechnung des Nutzens oder des Unmittelbaren und beraubt ihn seiner Größe.

Der interreligiöse Dialog muß daher die tiefe Achtung vor dem Glauben des anderen ermutigen sowie die Bereitschaft, in dem, was fremd und anders ist, die Wahrheit zu suchen, die jeder Person helfen kann, Fortschritte zu machen. Andererseits kann es nicht darum gehen, »einander zu besseren Christen, Juden, Moslems, Hindus oder Buddhisten zu machen … Denn das wäre nun doch wieder die völlige Überzeugungslosigkeit, in der wir – unter dem Vorwand, uns je in unserem Besten zu bestärken – weder uns noch die anderen ernstnehmen und auf Wahrheit endgültig verzichten würden«.(6)

4. Der Dialog mit der Vernunft

Die höchste Toleranz ist daher die Achtung der Wahrheit; die Religionsfreiheit gründet auf dieser Achtung und öffnet sich so den Anforderungen der menschlichen Vernunft, die zur Wahrheit fähig ist. Die Religionsfreiheit erfordert also Unterscheidungsfindung, und zwar sowohl zwischen den einzelnen Formen der Religion, um diejenigen zu ermitteln, die dem Durst nach Wahrheit jedes Menschen vollkommen entsprechen, als auch innerhalb der Religion selbst, in Richtung auf ihre wahre Größe hin. Man darf nämlich nicht die Augen davor verschließen, daß der heutige Mensch oft nicht der Vernunft folgt, sondern nach Instinkten lebt. Das stellt für jede Religion eine Herausforderung dar, weil es sie dazu verleiten könnte, diesen Schwächen nachzugeben, um die Launen oder schlimmer noch die Egoismen ihrer Gläubigen zu befriedigen. Eine »säkularisierte« Religion hat jedoch am Ende ein »Antlitz«, das so gezeichnet ist von den »Furchen« der menschlichen Inkonsequenz, daß es ihm nicht mehr gelingt, das Göttliche durchscheinen zu lassen.

Im allgemeinen sollten daher die Protagonisten des neuen Europa und all seine Bürger die Religion als das ansehen, was sie ist, und jeden Druck vermeiden, sie in eine »Zivilreligion« umzuwandeln oder die Kirchen auf einfache Einrichtungen der sozialen Solidarität zu reduzieren. Solowjew schreibt dem Antichristen ein Buch mit dem Titel »Der offene Weg zum Frieden und zum Wohlstand der Welt« zu, dessen wesentlicher Inhalt die Anbetung des Wohlstands und der rationalen Planung ist. Gewiß muß die Religion eine soziale Funktion ausüben. Das geschieht jedoch vor allem, indem man den Sinn für Gott und für die Transzendenz lebendig erhält. Die Solidarität, die Annahme des anderen und die bürgerlichen Werte sind also wesentliche Faktoren, die die Religion stets gefördert hat, eben weil sie vom Sinn für Gott lebt. Mit Bezug auf die katholische Kirche hat Papst Benedikt XVI. geschrieben: »Die Kirche kann nicht und darf nicht den politischen Kampf an sich reißen, um die möglichst gerechte Gesellschaft zu verwirklichen. … Aber sie kann und darf im Ringen um Gerechtigkeit auch nicht abseits bleiben. Sie muß auf dem Weg der Argumentation in das Ringen der Vernunft eintreten, und sie muß die seelischen Kräfte wecken, ohne die Gerechtigkeit, die immer auch Verzichte verlangt, sich nicht durchsetzen und nicht gedeihen kann«.(7)

5. Die öffentliche Dimension der Religionsfreiheit

Ein derartiger Beitrag der Religion setzt natürlich die Anerkennung der öffentlichen Dimension der Religionsfreiheit voraus. Dieser Punkt wurde in den letzten Jahren von den Päpsten und ihren Mitarbeitern ebenso wie von bedeutenden Intellektuellen, auch nichtgläubigen, mehrmals behandelt.

Eine gesunde Laizität bringt die Unterscheidung zwischen Religion und Politik, zwischen Kirche und Staat mit sich, ohne daß Gott dadurch zu einer privaten Hypothese gemacht oder die Religion und die kirchliche Gemeinschaft vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden. Eine gesunde Laizität geht daher auf öffentlicher Ebene nicht systematisch so vor, »etsi Deus non daretur«. Es wäre, wie der damalige Kardinal Ratzinger mehrmals gesagt hat, im Gegenteil vernünftiger, wenn sie sich so gestaltete, »etsi Deus daretur«. Zur Zeit der Aufklärung versuchte man, die Grundlagen des Zusammenlebens dadurch zu gewährleisten, daß man die wesentlichen Werte der Moral von der Religion unabhängig hielt. Das schien umsetzbar zu sein, da die großen Grundüberzeugungen, die das Christentum geschaffen hatte, bestehen blieben und unleugbar erschienen. Aber so ist es nicht mehr. Überdies ist die Suche nach einer Gewißheit, die über die religiösen Überzeugungen hinaus unangefochten bestehen bliebe, gescheitert.

Daher sagte Kardinal Ratzinger in dem berühmten Vortrag, den er in Subiaco hielt, am Vorabend des Todes des Dieners Gottes Papst Johannes Paul II.: »Der zu Ende geführte Versuch, die menschlichen Dinge unter gänzlicher Absehung von Gott zu gestalten, führt uns immer näher an den Rand des Abgrunds – zur Abschaffung des Menschen hin. Sollten wir da nicht das Axiom der Aufklärer umkehren und sagen: Auch wer den Weg zur Bejahung Gottes nicht finden kann, sollte zu leben und das Leben zu gestalten versuchen ›veluti si Deus daretur‹ – als ob es Gott gäbe. Das ist schon der Rat, den Pascal dem ungläubigen Freund gegeben hatte; es ist der Rat, den wir auch heute unseren ungläubigen Freunden geben werden. Da wird niemand in seiner Freiheit beeinträchtigt, aber unser aller Dinge finden einen Anhalt und ein Maß, deren wir dringend bedürfen«.(8)

Auf einem kürzlich stattgefundenen Symposium der »Società Italiana di Filosofia Politica« zum Thema »Religion und Politik in der postsäkularen Gesellschaft« hat auch der bekannte Philosoph Habermas hervorgehoben, daß es ein Irrtum ist, wenn man meint, daß die Tendenz zur Privatisierung des »religiösen Faktums« bedeutet, daß dieses an Bedeutung und Einfluß verloren hat, sowohl in der Politik und in der Kultur einer Gesellschaft als auch im persönlichen Leben.

Es muß auch hinzugefügt werden, daß die bürgerliche Gleichheit dort nicht geachtet wird, wo man den Gläubigen die zusätzliche Last auferlegt, so zu argumentieren, »etsi Deus non daretur«. Wenn man sich öffentlich nicht auf theistische, wohl aber auf rationalistische und säkulare Argumente berufen darf, dann ist das eine klare Verletzung des Kriteriums der Gleichheit und der Gegenseitigkeit, das die Grundlage der politischen Gerechtigkeit ist.

Im positiven Sinne scheint mir, daß eine offenere und modernere Auffassung von Laizität, die alle Instanzen einschließt und achtet, durch den Art. 52 des Vertrags über eine Verfassung für Europa zum Ausdruck kommt, der sich im gegenwärtigen »Reformvertrag« der Europäischen Union erhalten hat. Diese Bestimmung sieht einen ständigen Dialog zwischen den Institutionen in Brüssel und den religiösen Gemeinschaften vor, in Anerkennung der Identität und des besonderen Beitrags letzterer. Ein solcher Dialog ist unter anderem notwendig, um die Grundsätze eines echten Pluralismus zu achten und eine wahre Demokratie aufzubauen. Hat nicht im Übrigen de Tocqueville hervorgehoben, daß der Despotismus keine Religion braucht, die Freiheit und die Demokratie dagegen schon? (9) Um die Öffnung des besagten Artikels gegenüber der Rolle der religiösen Bekenntnisse zu wahren, ist es natürlich wichtig, daß diese weiterhin auch individuell stets die eigenen Positionen den Einrichtungen der europäischen Gemeinschaft darlegen. Darüber hinaus muß ihre unterschiedliche Beschaffenheit angemessen beachtet werden, auf dieselbe Weise, in der man die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern der Union im Stimmsystem der Einrichtungen berücksichtigt.

6. Die Erziehungsfreiheit

Im Hinblick auf den sozialen Beitrag der Religion möchte ich das Thema der Erziehung erwähnen, das auch auf diesem Kongreß behandelt wird. Die privatistische Auffassung der Religionsfreiheit erklärt, zumindest teilweise, die Feindseligkeit einiger Strömungen des laizistischen Denkens gegenüber den schulischen Einrichtungen der Katholiken, die als Werkzeug betrachtet werden, durch das die Kirche ihren Einfluß in der Gesellschaft behält. Für diese Feindseligkeit gibt es in Wirklichkeit keine wahren Argumente, vor allem seit das schulische Netz sich in allen europäischen Ländern stark ausgeweitet hat und diese allgemeine Normen festgelegt haben, denen sich die öffentlichen nichtstaatlichen Schulen und daher auch die katholischen Schulen anpassen müssen, um mit den staatlichen gleichgestellt zu sein.

Die privatistische Auffassung von der Religionsfreiheit beeinflußt außerdem die Feindseligkeit gegenüber dem Religionsunterricht in der öffentlichen staatlichen Schule, obgleich dieser unter Achtung des Willens der Familien und der Jugendlichen erteilt wird.(10) Wenn man jedoch die Erziehung als Fähigkeit auffaßt, die Person in eine bewußte Beziehung zur Wirklichkeit zu stellen, oder auch als »Provokation« der Freiheit durch die Wahrheit, dann wird deutlich, daß die Erziehungsfreiheit unverzichtbar ist – sowohl für eine wirklich freie Gesellschaft als auch für die religiösen Einrichtungen, die ihrem Wesen nach eine allumfassende und transzendente Sichtweise der Wirklichkeit aufzeigen.

7. Die Multikulturalität

Unter den Phänomenen, die heute die privatistische Auffassung von der Religionsfreiheit in Schwierigkeiten bringen, muß schließlich auch die sogenannte Multikulturalität erwähnt werden.

Es ist bekannt, daß die Globalisierung die Menschen drängt, sich einander zu nähern und sich zu vermischen. Insbesondere in Europa begegnen verschiedene Kulturen und Religionen einander, und das stellt auch für die Religionsfreiheit eine neue Herausforderung dar. Dieser Kontinent muß es nämlich vermeiden, daß sich Glaubensgemeinschaften bilden, in die man eintreten, aber aus denen man nicht austreten kann, und es muß verhindert werden, daß nur einige Religionen sich frei verbreiten können, während anderen nicht dieselben Rechte zuerkannt werden. Jede festgefügte religiöse Tradition will ihre eigene Identität offen darlegen; das heißt, sie will nicht versteckt oder getarnt werden. Andererseits ist die Ausprägung der Laizität in der Lage, den Reichtum der Spiritualität und des Humanismus, der in den verschiedenen Religionen vorhanden ist, anzunehmen und zu schützen, und das zurückzuweisen, was in ihnen der Würde des Menschen widerspricht.

Das neue Europa muß daher die notwendigen Maßnahmen zur Aufnahme der Immigranten und zur vollen Achtung für die Ausübung ihrer Religionsfreiheit von ungerechtfertigten Zugeständnissen unterscheiden, die die kulturelle und religiöse Identität der Gesellschaften, die sie aufnehmen, in Gefahr bringen. Es wäre nämlich seltsam und widersprüchlich, für Symbole und Praktiken von Minderheitenreligionen Sichtbarkeit zu verlangen und gleichzeitig zu versuchen, die Symbole und die Praktiken des Christentums, der traditionellen Religion der Mehrheit dieses Kontinents, zu verstecken oder zu relativieren.

Ich möchte außerdem hinzufügen, daß ohne pluralistische Gesellschaften, die kraft einer gesunden Laizität einen inneren Zusammenhalt besitzen, ganze Bevölkerungsschichten zu der Überzeugung gelangen könnten, daß es keine wirksame Alternative zum Konflikt der Zivilisationen gibt. Der Schutz der Religionsfreiheit dagegen ist eine Garantie für den Frieden und eine Voraussetzung für eine solidarische Entwicklung. Sie entkräftet nämlich die Logik des Zusammenstoßes, indem sie den Dialog fördert und vorher noch die Achtung jeder Person und ihrer religiösen Überzeugungen.

8. Das Christentum und das neue Europa

Abschließend möchte ich Bezug nehmen auf die Überzeugung einiger europäischer Bürger, für die die katholische Kirche mit ihrem Wahrheitsanspruch unfähig zum Dialog und sogar von einer gewissen Portion Fanatismus gekennzeichnet ist. In Wirklichkeit hat die Kirche feste Grundsätze, weil sie glaubt; in der Praxis ist sie stets tolerant und wohlwollend, denn trotz der Fehler ihrer Mitglieder liebt sie jeden Menschen. Umgekehrt sind die Anhänger der Säkularisierung oft aus Prinzip tolerant, weil sie nicht an unverzichtbare Werte glauben; andererseits kommt es vor, daß sie in der Praxis inkonsequent sind, weil sie nicht immer zu lieben wissen.

Wenn die Bürger des neuen Europa verantwortungsbewußt leben wollen, dann dürfen sie sich nicht dem Bemühen entziehen, die Wahrheit zu suchen, insbesondere die Wahrheit über sich selbst und daher über Gott als das Endziel der Existenz. Von seinen Anfängen an hat das Christentum das Beste der griechischen und römischen Weisheit angenommen, ausgearbeitet und vertieft und hat sich so als Sieg des menschlichen Denkens über die Welt der Mythologien und der religiösen Fanatismen offenbart. In gewisser Weise ist die Vernünftigkeit daher im Christentum Religion geworden: Gott hat die philosophische Erkenntnis nicht zurückgewiesen, sondern angenommen. Der hl. Justinus zum Beispiel hat, nachdem er alle Denksysteme studiert hatte, das Christentum als die wahre »philosophia« erkannt. Er war überzeugt, daß er, indem er Christ geworden war, die Philosophie nicht verleugnet hatte, sondern im Gegenteil erst durch diesen Schritt ganz Philosoph geworden war. Die Kraft, die das Christentum in eine Weltreligion verwandelt hat, liegt eben in seiner Synthese von Vernunft, Glauben und Leben. Diese Kombination, die so mächtig ist, daß sie die Religion, die sie aufzeigt, wahr macht, kann die Wahrheit des Christentums auch erglänzen lassen – nicht nur im neuen Europa, sondern ganz allgemein in der heutigen globalisierten Welt.

In der Tat gibt das Christentum sich nicht damit zufrieden, »jenen Teil des Antlitzes zu zeigen, den Gott Europa zugewandt hat«; das heißt, daß es sich nicht als die »Religion der Europäer«, sondern der Welt versteht, weil es eine vollkommene Antwort gibt auf das Verlangen nach Wahrheit, das im Herzen jedes Menschen wohnt, ganz gleich auf welchem Breitengrad er lebt. Die Religionsfreiheit ist also nicht nur der »Meilenstein« des neuen Europa, sondern ich möchte zum Schluß hinzufügen, daß das Christentum der »Weg« ist, auf dem Europa wirklich »neu« werden kann. Das Christentum hat nämlich Europa die Förderung der Religionsfreiheit als Maßnahme der Zivilisation und der Entwicklung angeboten, die unseren geliebten Kontinent einem »Dickicht« von Egoismen entreißen kann, das beinahe undurchdringlich ist, weil das Licht der Würde des Menschen nicht in es eindringen kann. Der christliche »Weg« gewährleistet also die Achtung der Religionsfreiheit und hilft beim Aufbau eines neuen Europa.


Anmerkungen

1) Lactantius, Epitome Divinarum Institutionum, 54.

2) Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis Humanae, 2.

3) Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, ebd., 3 und 4

4) Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer der OSZE-Konferenz über Religionsfreiheit, 10. Oktober 2003, in O.R. dt., Nr. 46, 14.11.2007, S. 11

5) H. T. Engelhardt, Manuale di bioetica, Il Saggiatore, Mailand 1999, S. 22.

6) Joseph Ratzinger, Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund, Verlag Urfeld, Bad Tölz 1998 (2), S. 119–120.

7) Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, 28.

8) Joseph Ratzinger, Europa in der Krise der Kulturen (Subiaco, 1. April 2005), in: M. Pera, J. Ratzinger, Ohne Wurzeln. Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur, St. Ulrich Verlag, Augsburg 2005, S. 82.

9) Vgl. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, hg. v. J. P. Mayer, Reclam, Stuttgart, I, S. 9.

10) Vgl. Carlo Cardia, Le sfide della laicità: etica, multiculturalismo, islam, Edizioni San Paolo, Mailand 2007, S. 92–100.

top