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TOTENMESSE FÜR CHIARA LUBICH

PREDIGT VON KARD. TARCISIO BERTONE

Basilika St. Paul vor den Mauern
Dienstag, 18. März 2008

 

Eminenzen,
Exzellenzen,
ehrenwerte Obrigkeiten,
liebe Mitglieder der Fokolar-Bewegung,
liebe Brüder und Schwestern!

Die erste Lesung hat uns erneut die bekannte Stelle aus dem Buch Ijob zur Betrachtung vorgelegt. Der schwergeprüfte Rechtschaffene erklärt, ja er schreit fast: »Doch ich, ich weiß: mein Erlöser lebt … Ihn selber werde ich dann für mich schauen; meine Augen werden ihn sehen, nicht mehr fremd.« Während wir Chiara Lubich die letzte Ehre erweisen, erinnern uns die Worte des Ijobs, des Gerechten, an den innigen Wunsch nach der Begegnung mit Christus, der ihr gesamtes Leben geprägt hat, insbesondere die letzten harten Monate und Tage, als die zunehmende Verschlechterung des Gesundheitszustandes sie all ihrer physischen Kraft beraubt hatte und sie, langsam dem Höhepunkt ihres Leidenswegs entgegengehend, sanft in den Schoß des Vaters zurückkehrte.

Den letzten Abschnitt ihrer Pilgerschaft auf Erden ging Chiara begleitet vom Gebet und der Zuneigung der Ihren, die ihr in großer unablässiger Umarmung beigestanden haben. Schwach aber entschlossen war, mitten in der Nacht, das letzte »Ja« zum mystischen Bräutigam ihrer Seele, zu Jesus, dem »Verlassenen und Auferstandenen«. Nun ist wirklich alles vollbracht: der anfängliche Traum ist Wahrheit geworden, das leidenschaftliche Verlangen ist erfüllt. Chiara begegnet dem, den sie geliebt hat, ohne ihn zu sehen, voll Freude kann sie nun rufen: »Ja, mein Erlöser lebt!«

Die Nachricht von ihrem Tod hat in allen Bereichen, unter Tausenden von Männern und Frauen der fünf Kontinente, unter Glaubenden und Nichtglaubenden, unter den Mächtigen und den Armen der Erde ein breites Echo der Trauer hervorgerufen. Benedikt XVI., der umgehend seinen trostspendenden Segen gesandt hat, versichert nun durch mich erneut seine Anteilnahme am großen Schmerz ihrer geistigen Familie.

Vertreter anderer christlicher Kirchen und verschiedener Religionen haben sich dem Chor der Bewunderung und Hochachtung wie der tiefen Anteilnahme angeschlossen. Auch die Medien haben die von ihr geleistete Arbeit zur Verbreitung evangeliumsgemäßer Liebe unter Menschen verschiedener Kulturen, Glaubensrichtungen und Bildung hervorgehoben. Wir können durchaus sagen, daß Chiara Lubichs Leben ein Lied der Liebe Gottes war, ein Loblied auf Gott, der Liebe ist.

»Wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.« Wie oft hat Chiara über diese Worte nachgedacht, und wie oft hat sie sie in ihren Werken aufgegriffen, wie beispielsweise in den »Worten des Lebens«, aus denen Hunderttausende von Menschen für ihre spirituelle Formung geschöpft haben! Es gibt keinen anderen Weg, um Gott kennenzulernen und dem menschlichen Leben Sinn und Wert zu verleihen. Allein die Liebe, die Liebe Gottes ermöglicht uns, Liebe hervorzubringen, ja selbst die Feinde zu lieben. Das ist das Neue der christlichen Botschaft, hierin liegt das gesamte Evangelium.

Wie aber kann die Liebe gelebt werden? Nach dem Letzten Abendmahl, bei dem bewegenden Abschied von den Aposteln, – von dem wir soeben gehört haben – betet Jesus: »alle sollen eins sein«. Demnach ist es das Gebet Christi, das den Weg seiner Freunde zu allen Zeiten stützt. Sein Geist ist es, der in der Kirche Zeugen seines lebendigen Evangeliums hervorruft, und wiederum er, der lebendige Gott, ist es, der uns in Stunden der Trauer und des Zweifels, der Not und des Leids führt. Wer sich ihm anvertraut, fürchtet nichts, weder das mühevolle Überqueren stürmischer Meere noch Hindernisse und Widrigkeiten jeder Art. Wer sein Haus auf Christus baut, baut auf dem Fels der Liebe, die alles auf sich nimmt, alles überwindet, alles besiegt.

Das 20. Jahrhundert ist mit leuchtenden Sternen dieser göttlichen Liebe übersät. Doch darf es nicht allein aufgrund der wunderbaren Errungenschaften im Bereich der Technik und der Wissenschaft oder des wirtschaftlichen Fortschritts in Erinnerung bleiben, zumal die ungerechte Verteilung der Ressourcen und Güter unter den Völkern nicht beseitigt, sondern gelegentlich sogar intensiviert worden ist. Es wird nicht allein aufgrund der Bemühungen zum Aufbau des Friedens in die Geschichte eingehen, die bedauerlicherweise grauenvolle Verbrechen an der Menschheit und jene Konflikte und Kriege nicht verhindert haben, die ununterbrochen weite Gebiete der Erde mit Blut tränken. Trotz zahlreicher Widersprüche ist das vergangene Jahrhundert eine Epoche, in der Gott unzählige heroische Männer und Frauen inspiriert hat, die, die Not der Kranken und Leidenden lindernd und das Schicksal der Geringen, der Armen und Letzten teilend, jenes Brot der Barmherzigkeit austeilten, das die Herzen heilt, den Geist der Wahrheit öffnet und dem durch Gewalt, Ungerechtigkeit und Sünde zerbrochenen Leben Vertrauen und neue Kraft zurückgibt. Auf einige dieser Pioniere der Barmherzigkeit weist die Kirche bereits als Heilige und Selige: Don Guanella, Don Orione, Don Calabria, Mutter Teresa von Kalkutta und andere mehr.

Auch handelt es sich um das Jahrhundert, in dem neue kirchliche Bewegungen entstanden sind, und in dieser Konstellation findet Chiara Lubich Platz mit einem ihr eigenen Charisma, das ihre Physiognomie und ihr apostolisches Wirken kennzeichnet. In ihrem stillen und demütigen Stil schafft die Gründerin der Fokolar-Bewegung keine Einrichtungen zur Unterstützung und Förderung der Menschen, sondern ist vielmehr bemüht, das Feuer der Liebe Gottes in den Herzen zu entfachen. Sie ruft die Personen auf, selbst Liebe zu sein, das Charisma der Einheit und der Gemeinschaft mit Gott und dem Nächsten zu leben, das Ideal »Liebe-Einheit« zu verbreiten, indem sie selbst, ihr Heim, ihre Arbeit zu jenem »Fokolar« werden, in dem die brennende Liebe ansteckend sein und alles in ihrer Nähe entzünden möge. Eine Mission, die allen möglich ist, denn das Evangelium ist für jeden erreichbar, für Bischöfe und Priester, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, geweihte Personen und Laien, Eheleute, Familien und Gemeinschaften, alle sind aufgerufen, das Ideal der Einheit zu leben: »Alle sollen eins sein!« In dem wenige Tage vor ihrem Tod gegebenen und übertragenen letzten Interview betont Chiara: »Das Wunder gegenseitiger Liebe ist der Lebenssaft des mystischen Leibes Christi«.

So bemüht sich die Fokolar-Bewegung, das Evangelium, jene »mächtigste und wirkungsvollste soziale Revolution«, vorbehaltlos zu leben. Aus ihr entstehen die Bewegungen »Neue Familien« und »New Humanity«, der Verlag »Neue Stadt«, die Siedlung von Loppiano wie weitere Modellsiedlungen auf den verschiedenen Kontinenten und Zweigorganisationen wie beispielsweise die Laienbruderschaft »Freiwillige Gottes«. In dem durch den Pontifikat des sel. Johannes XXIII. und das Zweite Vatikanische Konzil bewirkten Klima der Erneuerung fanden ihre mutige ökumenische Öffnung und ihre Bemühungen um einen Dialog mit den Religionen fruchtbaren Boden. In den Jahren der Jugendproteste zog die GEN-Bewegung Tausende Jugendliche an und begeisterte sie für das Ideal der Liebe im Geiste des Evangeliums. Mit »Kinder und Jugendliche für eine geeinte Welt« konnte sie später ihren Aktionsradius ausweiten. Ihren Vorschlag des bedingungslos gelebten Evangeliums wollte Chiara auch an Kinder und Jugendliche richten, für die die Bewegung »Teens for unity« gegründet wurde. Um in Brasilien der Situation derer entgegenzuwirken, die in den Randbezirken der Großstädte leben, startete sie das Projekt »Wirtschaft in Gemeinschaft«, mit einer auf Brüderlichkeit gründenden neuen wirtschaftlichen Theorie und Praxis für tragbare Entwicklung und zum Vorteil aller. Möge diese Ökonomie der Gemeinschaft für viele Wissenschaftler und Fachleute auf dem Wirtschaftssektor eine wahre Ressource sein, um eine von allen geteilte neue Weltordnung zu planen! Und wie viele andere Treffen mit Vertretern der verschiedenen Religionen, der Politik und der Welt der Kultur!

Mariapoli, Stadt Mariens, so nannte sie die Treffen und die Vorschläge einer durch evangeliumsgemäße Liebe erneuerten Gesellschaft. Warum Stadt Mariens? Weil für Chiara die Mutter Gottes »der wertvollste Schlüssel zum Evangelium « ist. Und möglicherweise war sie gerade deshalb in der Lage, ihr »marianisches Profil« auf wirksame und konstruktive Art und Weise in der Kirche hervorzuheben. Maria wollte sie ihr Werk anvertrauen, nach ihr hat sie es benannt: Werk Mariens. Das Werk wird, wie Chiara betont, als andere Maria auf Erden bleiben: ganz Evangelium, nichts als Evangelium, das, da Evangelium, nicht sterben wird«. Und sicherlich ist es die heilige Jungfrau, die Chiara zu ihrem endgültigen Ziel in der Ewigkeit begleitet!

Liebe Brüder und Schwestern, wir wollen nun die Eucharistiefeier fortsetzen und dem Herrn für das Zeugnis danken, das diese Schwester in Christus uns hinterlassen hat, für ihre prophetischen Eingebungen, die den großen Wandlungen der Geschichte und den außerordentlichen Ereignissen vorangegangen sind, die die Kirche im zwanzigsten Jahrhundert durchlebt hat. Unser Dank vereint sich mit dem Chiaras. Eingedenk der zahlreichen Gaben und Gnaden, die sie erhalten hat, sagte Chiara, daß sie, wenn sie vor Gott treten und der Herr sie nach ihrem Namen fragen werde, einfach antworten würde: »Mein Name ist Danke. Danke, Herr, für alles und immer.«

Wir, insbesondere ihre geistlichen Kinder, haben die Aufgabe, die von ihr begonnene Mission fortzusetzen. Vom Himmel aus, wo sie von Jesus, ihrem Bräutigam, aufgenommen worden ist, wird sie weiterhin an unserer Seite sein und uns helfen. Während wir uns heute in tiefer Zuneigung von ihr verabschieden, hören wir mit ihrer eigenen Stimme jene Worte, die sie so oft zu wiederholen pflegte: »Wenn am Ende der Zeit das ›Werk Mariens‹ geschlossen vor den verlassenen und auferstandenen Jesus treten wird, möge es die Worte des belgischen Theologen Jacques Leclercq, die mich immer bewegen, wiederholen: ›…an deinem Tag, Herr, komme ich zu Dir. Ich komme zu Dir, Herr, … und mit meinem kühnsten Traum: dir die Welt in die Arme zu legen‹«. Das ist der Traum Chiaras, möge es auch unablässig unser Verlangen sein: »Vater, alle sollen eins sein, damit die Welt glaubt«. Amen!

     

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