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KONGRESS ZUM 50. TODESTAG DES DIENERS GOTTES PIUS XII.

ERÖFFNUNGSVORTRAG VON TARCISIO BERTONE,
KARDINALSTAATSSEKRETÄR

Päpstliche Universität Gregoriana
Donnerstag, 6. November 2008

     

EUGENIO PACELLI
STAATSSEKRETÄR UND OBERHAUPT DER RÖMISCHEN KIRCHE

 

Vorbemerkung

Als Vorbemerkung zu den Arbeiten des Konresses bietet sich ein Überblick über das Wirken von Eugenio Pacelli als Kardinalstaatssekretär Pius’ XI. und Camerlengo der Heiligen Römischen Kirche an, und mir persönlich ist es eine Freude und Ehre, diesen Überblick als sein gegenwärtiger Nachfolger in diesen Ämtern geben zu dürfen. So werde ich, wenn auch in groben Zügen, Kardinal Pacellis Dienst in Erinnerung rufen, wobei sich mein Augenmerk vor allem auf zwei Tatsachen richten wird: Das Wirken des römischen Purpurträgers ist der letzte Abschnitt eines Weges im Dienst des Heiligen Stuhls, der Universalkirche und jedes Menschen ohne Unterschied. Dieser Weg fand seinen Höhepunkt in einem außergewöhnlichen Pontifikat, das am Vorabend des schrecklichsten Krieges begann, den die Menschheit je erlebt hat. Sein Pontifikat erwies sich tatsächlich als Werk des Friedens – jenes Friedens, der Frucht der Gerechtigkeit ist. »Opus iustitiae pax«: so lautete Pacellis Motto, das die Wurzel seines Familiennamens aufgriff. Und es gibt viele Anzeichen dafür, daß die Diskussion um seine Person und sein Wirken – sie ist so kontrovers, daß sie zu einem wirklichen historiographischen »Fall« geworden ist – seit einiger Zeit endlich ruhiger und ausgewogener wird, daß die Bedeutung und Größe seines Pontifikats erkannt wird, jenseits aller interessengebundenen Polemiken, die immer weniger begreiflich sind und die vor allem mit der Geschichte recht wenig zu tun haben.

Diplomat in Rom und in Deutschland

Am 2. März 1876 in Rom in einer Familie niederen päpstlichen Adels geboren und am 2. April 1899 zum Priester geweiht, trat der junge Pacelli 1901 in den Dienst des Heiligen Stuhls, gegen Ende des Pontifikats von Leo XIII. Es war für ihn der Beginn einer glänzenden Karriere, die ihn bereits vor Kriegsausbruch in die höchsten Ränge der päpstlichen Diplomatie führte. Kardinal Pietro Gasparri wählte ihn 1904 als Sekretär der Kommission zur Abfassung des Codex des Kanonischen Rechtes, und im folgenden Jahr wurde er Mitglied der Kongregation für die Außerordentlichen Kirchlichen Angelegenheiten. Pius X. ernannte ihn 1911 zum Untersekretär, 1912 zum beigeordneten Sekretär und 1914, unmittelbar vor dem Krieg, zum Sekretär der Kongregation. Auf diesen immer verantwortungsvolleren Posten befaßte sich Msgr. Pacelli insbesondere mit dem Bruch der diplomatischen Beziehungen zu Frankreich. Während der Katastrophe des Krieges war er mit zwei schwierigen Missionen betraut, im Rahmen wiederholter, aber vergeblicher Vermittlungsversuche des Heiligen Stuhls, der sich bereits seit über 40 Jahren verstärkt für den Frieden einsetzte, wie Dokumente und Studien belegen.

1917 ernannte Benedikt XV. Msgr. Pacelli zum Päpstlichen Nuntius in München und spendete ihm am 13. Mai desselben Jahres in der Sixtinischen Kapelle persönlich die Bischofsweihe. In seiner Eigenschaft als einziger Päpstlicher Vertreter in den deutschen Gebieten traf er mit dem Kaiser zusammen, um die wirklichen Absichten Deutschlands auszuloten. Die sehr feierliche, aber ergebnislose Begegnung mit Wilhelm II. beschrieb der päpstliche Diplomat gleich danach in einem klaren Bericht an Gasparri, der seit 1914 Staatssekretär war: »Als ich vor den Kaiser geführt wurde…, sagte ich ihm, den mir erteilten Anweisungen folgend, daß der Heilige Vater tief besorgt sei über den anhaltenden Krieg, den zunehmenden Haß und die immer größere Anhäufung materieller und moralischer Ruinen, die einem Selbstmord des zivilen Europas gleichkommen und den Weg der Menschheit um viele Jahrhunderte zurückwerfen… Seine Majestät hörte mir aufmerksam, respektvoll und mit großem Ernst zu. Ich muß jedoch offen gestehen, daß er mir in seiner Art, dem Gesprächspartner lange in die Augen zu schauen, in seiner Gestik und in seiner Stimme etwas exaltiert und nicht ganz normal erschien, wobei ich nicht sagen kann, ob dies seine Natur ist oder eine Folge dieser drei langen und sorgenvollen Kriegsjahre. Er antwortete mir, daß Deutschland diesen Krieg nicht provoziert habe, sondern gezwungen gewesen sei, sich gegen die zerstörerischen Absichten Englands zu verteidigen, dessen Streitkräfte (an diesem Punkt erhob der Kaiser drohend seine Faust) zerschlagen werden müßten. « Fünf Jahre später dementierte der Heilige Stuhl eine andere, weniger glaubwürdige Version der Begegnung, die der inzwischen abgesetzte Herrscher seinen Memoiren anvertraute.

Der katastrophalen Lage im Land begegnete die päpstliche Vertretung auch durch die sogenannte »Diplomatie der Hilfeleistung«. Pacelli war an ihr maßgebend beteiligt im Rahmen humanitärer Maßnahmen zugunsten der Kriegsgefangenen, die der Heilige Stuhl ab 1915 durchführte. Als Zeuge des Zusammenbruchs, der auf den Krieg folgte, sah der Nuntius in München – dem seit 1920 auch die Nuntiatur in Berlin anvertraut war, während aus dem Konklave von 1922 Pius XI. als Papst hervorging – sehr deutlich die Gefahren, die von der neuen Situation ausgingen und die hervorgerufen wurden vom Zusammenbruch des wilhelminischen Reiches, von der Verantwortung der Siegermächte gegenüber Deutschland, von den kommunistischen Umsturzversuchen, von der möglichen Gefahr eines russisch-germanischen Militärbündnisses gegen die westlichen Länder, vom Anwachsen des deutschen Nationalismus unter den Katholiken – auch wenn er protestantischen Ursprungs war – und von der Verbreitung der Hitler-Bewegung. Daher unterstützte Erzbischof Pacelli die Weimarer Republik, die Zusammenarbeit zwischen der katholischen Zentrumspartei und den Sozialisten sowie die staatliche Einheit des Landes, und er arbeitete auf Konkordate hin, die er 1924 mit Bayern und 1929 mit Preußen schließen und mit Baden und dem Deutschen Reich in die Wege leiten konnte. Zu einem negativen Ergebnis führten dagegen die Verhandlungen des Nuntius in Berlin mit den sowjetischen Abgesandten, die darauf ausgerichtet waren, die Bedingungen für ein Überleben der katholischen Kirche zu gewährleisten. Sie waren 1924 in die Wege geleitet worden und dauerten über drei Jahre.

Staatssekretär von Pius XI.

Am 16. Dezember 1929 kreierte Pius XI. Pacelli, seinen Vertreter in Berlin, zum Kardinal. Als er Berlin verließ, erhielt er Anerkennungen – auch in der »gegnerischen Presse«, wie in einem Bericht, den die Nuntiatur an den Vatikan sandte, hervorgehoben wird – für seine Fähigkeiten und seine Verdienste. Wenige Wochen später ernannte Papst Pius XI. den neuen Purpurträger zu seinem Staatssekretär, durch ein kurzes Dokument, welches das Datum des 7. Februar 1930 trägt und das er eigenhändig aufsetzte und schrieb. Es ist in der äußerst interessanten Ausstellung zu sehen, die das Päpstliche Komitee für Geschichtswissenschaften im »Braccio di Carlo Magno« beim Petersplatz eingerichtet hat, im Gedenken an Pacelli und sein Pontifikat in seinem 50. Todesjahr; ich durfte vor zwei Tagen diese Ausstellung eröffnen. In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, das päpstliche Schreiben in ganzer Länge zu zitieren: »Herr Kardinal, da Wir es für richtig erachtet haben, das Rücktrittsgesuch von Herrn Kardinal Pietro Gasparri von seinem Amt als Staatssekretär anzunehmen, – wir haben diesem Gesuch heute nicht ohne tiefes Bedauern stattgegeben –, haben Wir coram Domino entschieden, Sie, Herr Kardinal, in die gewiß nicht einfache und mit vielen Mühen verbundene Nachfolge in diesem hohen und schwierigen Amt zu berufen und zum Staatssekretär zu ernennen. Wir berufen und ernennen Sie daher durch diesen unseren Chirograph. Vor allem Ihr Geist der Frömmigkeit und des Gebets, der ihnen reichen göttlichen Beistand zusichern wird, veranlaßt uns zu dieser Ernennung und schenkt uns volles und sicheres Vertrauen, aber auch die Eigenschaften und Fähigkeiten, mit denen Gott Sie in seiner Güte beschenkt hat und die Sie in allen hohen Ämtern, die Ihnen bisher anvertraut wurden – besonders in den Nuntiaturen in Bayern und Deutschland –, sehr gut zu gebrauchen wußten zur Ehre des göttlichen Gebers und im Dienste seiner Kirche. Mit herzlichem Segen.«

So begann für Pacelli die letzte entscheidende Etappe vor dem sehr kurzen Konklave, in dem er neun Jahre später, am 2. März 1939, genau an seinem 63. Geburtstag, als erster Römer und erster Staatssekretär seit über zwei Jahrhunderten zum Papst gewählt werden sollte. Den Zeitabschnitt, in dem der Kardinal der erste Mitarbeiter Pius’ XI. war – einen der schwierigsten und tragischsten des 20. Jahrhunderts –, hat P. Pierre Blet, ein großer Fachmann auf diesem Gebiet, den ich an dieser Stelle grüßen möchte, als erster eingehend erforscht. Der internationale Kontext war sehr schwierig aufgrund der Weltwirtschaftskrise und der steigenden Welle jener totalitären Flut, die Europa zu überrollen schien, während in der Kirche von Rom – nachdem die »Römische Frage« durch die Lateranverträge zwischen Italien und dem Heiligen Stuhl endlich gelöst worden war – jene Universalität, die für ihre Berufung bezeichnend ist, immer mehr zum Tragen kam. Gerade die Pontifikate Pius’ XI. und Pius’ XII. sollten sie stark entfalten und hervorheben, in Vorbereitung der Jahre des Zweiten Vatikanischen Konzils und ihrer Nachfolger in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Grundlegend war dabei die Arbeit von Staatssekretär Pacelli, dem erstklassige Mitarbeiter zur Seite standen. Zwei sehr unterschiedliche, aber einander ergänzende Persönlichkeiten stachen unter ihnen hervor: Domenico Tardini und Giovanni Battista Montini. 1937 wurde der eine zum Sekretär für die außerordentlichen kirchlichen Angelegenheiten und der andere zum Substitut im Staatssekretariat ernannt. Nach der Wahl Pacellis zum Papst wurden sie in diesen Ämtern bestätigt bis beide Ende 1952 Pro-Staatssekretäre wurden.

Mit Pacelli übernahm ein außergewöhnlich gebildeter Kleriker die Leitung des Staatssekretariats, der die beim Heiligen Stuhl akkreditierten Diplomaten sofort beeindruckte. Der französische Botschafter beim Vatikan, François Charles-Roux, schrieb etwa 15 Jahre später über ihn: »Er war ein perfekter und gewissenhafter Verhandlungspartner. Er versuchte beharrlich, den wesentlichen Gesichtspunkten des Heiligen Stuhls Geltung zu verschaffen, war aber gleichzeitig konziliant, gerecht, unvoreingenommen und äußerst korrekt. Wenn er gezwungen war, unnachgiebig oder energisch zu sein, etwas abzulehnen oder Beschwerde einzulegen, so konnte er dies tun, ohne beleidigend zu sein. Der Umgang mit ihm ließ an ein Wort des französischen Diplomaten und Staatsmannes Choiseul denken: Wahre Vornehmheit ist Wahrheit, die manchmal mit Nachdruck, stets aber mit Anmut zum Ausdruck gebracht wird.« Und diese Eigenschaften konnte der Heilige Stuhl sich sofort zunutze machen in den dunklen Jahren, die dem Zweiten Weltkrieg vorausgingen.

Die Nähe zu Pius XI.

Es ist nicht möglich, hier auf eine so ereignisreiche und vom historischen Standpunkt her so komplexe Periode näher einzugehen, aber um das Wirken des Apostolischen Stuhls, des Papstes und seines Staatssekretärs darzulegen, genügt es, mit einigen wenigen Worten Tatsachen ins Gedächtnis zu rufen, die zwar bekannt sind, aber nicht immer in ihrem historischen Kontext interpretiert und manchmal verfälscht werden. In Italien nahmen trotz der Lateranverträge die Polemiken und Spannungen zwischen dem Heiligen Stuhl und dem faschistischen Regime zu, bis es 1931 zu einer Krise kam, als das Regierungsoberhaupt Mussolini anordnete, die katholischen Jugendverbände aufzulösen. Pius XI. reagierte sehr heftig und ließ die berühmte Enzyklika Non abbiamo bisogno veröffentlichen. Diese wandte sich in so scharfer Weise gegen den Regierungsentscheid, daß Msgr. Montini den Auftrag erhielt, für ihre Verbreitung außerhalb von Italien den Text inkognito in die Nuntiaturen von München und von Bern zu bringen, da man fürchtete, daß die Veröffentlichung im Inland untersagt würde. In dem auf Italienisch verfaßten Text sagte der Papst: »Es wurde versucht, dem, was Uns als Vater und Seelenhirt am meisten am Herzen lag und immer liegen wird, einen tödlichen Schlag zu versetzen.« Die Krise konnte beigelegt werden, aber es kam in den nachfolgenden Jahren immer wieder zu Spannungen – in einem Land, in dem die einzige noch wirklich freie Pressestimme die Zeitung des Papstes war, wie Piero Calamandrei, ein Vertreter der Laizität, später vor der Verfassunggebenden Versammlung in Erinnerung rief: »Weil wir an einem bestimmten Punkt, in den Jahren der größten Unterdrückung, gemerkt haben, daß die einzige Zeitung, in der sich noch eine Spur von Freiheit fand – unserer Freiheit, der gemeinsamen Freiheit aller freien Menschen –, der ›L‘Osservatore Romano‹ war; weil wir die Erfahrung gemacht haben, daß jene, die den ›L’Osservatore Romano‹ kauften, Übergriffen ausgesetzt waren; weil sich in den ›Acta diurna‹ unseres Freundes Gonella eine freie Stimme fand«.

Im selben Jahr 1931 kam eine weitere Enzyklika heraus, die Enzyklika Nova impendet über die Schwere der Wirtschaftskrise und über das zunehmende Wettrüsten. Sie folgte im Oktober auf die zweite große Sozialenzyklika, Quadragesimo anno, die anläßlich des Jahrestages der Sozialenzyklika Papst Leos XIII. im Mai veröffentlicht worden war. Die schwierige soziale Lage war im folgenden Jahr auch das Thema der Enzyklika Caritate Christi, auf die ebenfalls 1932 die Enzyklika Acerba animi folgte, über die antikatholische Verfolgung in Mexiko, das die diplomatischen Beziehungen zum Heiligen Stuhl abbrach. Aber die Krise kam auch in Spanien zum Ausbruch, wo die erst seit kurzem ausgerufene Republik eine stark kirchenfeindliche Politik führte und Maßnahmen ergriff, die 1933 energische Proteste des Heiligen Stuhls hervorriefen, begonnen bei der Enzyklika Dilectissima nobis, gegen die »ernsthafte Beleidigung nicht nur der Religion und der Kirche, sondern auch der zivilen freiheitlichen Prinzipien, die dem neuen spanischen Regime angeblich zugrundeliegen«. Weiter heißt es in dem päpstlichen Rundschreiben: »Und man glaube nicht, daß Unser Wort vom Widerwillen gegen die neue Regierungsform oder gegen andere der jüngsten Veränderungen in Spanien, die rein politischer Natur sind, inspiriert sei. Bekanntlich hat nämlich die katholische Kirche, die keineswegs an die eine oder andere Regierungsform gebunden ist, solange die Rechte Gottes und des christlichen Gewissens gewahrt bleiben, keine Schwierigkeiten, sich mit den verschiedenen zivilen Institutionen zu verständigen, ganz gleich, ob diese monarchisch oder republikanisch, aristokratisch oder demokratisch geprägt sind. Ein Beweis dafür, um nur von der jüngeren Zeit zu sprechen, sind die zahlreichen Konkordate und Verträge, die in den letzten Jahren geschlossen wurden, sowie die diplomatischen Beziehungen, die der Heilige Stuhl mit verschiedenen Staaten geknüpft hat, in denen nach dem letzten großen Krieg republikanische Regierungen an die Stelle der monarchischen getreten sind.« Ebenso äußerte sich auch Staatssekretär Pacelli in bezug auf die Haltung der Kirche gegenüber der Staatsgewalt: »Ihre 2000jährige Erfahrung verbietet es ihr, der Frage nach der Staatsform und ihren Strukturen übertriebene Bedeutung beizumessen.« Ein Beweis für die Mäßigung und den Realismus der Kirche von Rom in der Tragödie, die drei Jahre später in den spanischen Bürgerkrieg einmünden sollte, ist die Haltung des Heiligen Stuhls und Pius’ XI. selbst: Sie standen bekanntlich viele Monate lang den Aufrührern unter General Franco nicht positiv gegenüber.

Unter den vom Heiligen Stuhl unterzeichneten Konkordaten sticht natürlich das Konkordat mit dem Deutschen Reich besonders hervor. Es wurde 1933 geschlossen – die Situation war jetzt jedoch ganz anders als die, die Pacelli drei Jahre zuvor verlassen hatte, da der Nationalsozialismus immer mehr Zuspruch bekam. Der Heilige Stuhl und die Mehrheit der deutschen Bischöfe stand ihm – im Gegensatz zu vielen Katholiken und zur überwältigenden Mehrheit der Protestanten – ablehnend gegenüber, auch wenn die anfängliche Opposition des Episkopats den Aufstieg Hitlers an die Macht und den Zuspruch, den das neue Regime fand, in Rechnung stellen mußte. Um nur eine Zahl zu nennen: Gut 11.000 katholische Priester (fast die Hälfte des deutschen Klerus) »waren von politisch oder religiös motivierten Strafmaßnahmen durch das Naziregime betroffen«; viele von ihnen endeten im Konzentrationslager. Eine der Folgen des Konkordats war das Verschwinden der katholischen Zentrumspartei aus dem politischen Geschehen, aber die Gegensätze zwischen der katholischen Kirche und dem Nationalsozialismus verschärften sich – trotz der wachsenden Besorgnis um das Erstarken des kommunistischen Totalitarismus und trotz des traditionellen katholischen Antijudaismus – mit dem Beginn der antisemitischen Gesetzgebung und den Bestimmungen über die Zwangssterilisierung, gegen die sich bereits 1934 vor allem der Bischof von Münster, Clemens von Galen, mit Nachdruck aussprach. Es entstand eine deutliche Opposition gegen den Nationalsozialismus, und 1936 baten die Bischöfe in einem gemeinsamen Brief den Papst um eine Enzyklika. Pius XI. rief die drei deutschen Kardinäle (Adolf Bertram, Michael von Faulhaber und Karl Joseph Schulte) sowie die beiden stärksten Regimegegner unter den Bischöfen – den eben erwähnten von Galen und Konrad von Preysing – in Rom zusammen. Mit der maßgebenden Hilfe Kardinal Pacellis und seiner engen deutschen Mitarbeiter (Msgr. Ludwig Kaas und die Jesuiten Robert Leiber und Augustin Bea) kam es so 1937 zur Enzyklika Mit brennender Sorge, die die rassistische und heidnische Ideologie verurteilte, die im Deutschen Reich die Oberhand gewonnen hatte. Wenige Tage später folgten die Enzykliken gegen den atheistischen Kommunismus (Divini redemptoris) und über die blutigen Verfolgungen der mexikanischen Katholiken durch den freimaurerischen Laizismus (Firmissimam constantiam).

Eine eingehende Untersuchung der Beziehung zwischen Pius XI. und seinem Staatssekretär steht noch aus. Sie kann im Laufe der Zeit durch die fortschreitende Erforschung der vatikanischen Archivbestände erfolgen. Diese sind seit über zwei Jahren für das Pontifikat Pius’ XI., also bis Anfang 1939, vollständig geöffnet, werden aber von den Fachleuten recht wenig konsultiert. Bekanntlich brachte der Papst Pacelli große Wertschätzung entgegen. Bereits bei seiner Kreierung zum Kardinal gebrauchte er ein Wort aus dem Evangelium (Joh 1,26), das später als prophetisch betrachtet wurde: »Medius vestrum stat quem vos non scitis«. Seine Wertschätzung wuchs ständig und veranlaßte Pius XI., seinen Staatssekretär wiederholt auf Missionen ins Ausland zu senden, was eine nie dagewesene Neuerung bedeutete. 1934 überquerte Kardinal Pacelli den Atlantik – wie ein Jahrhundert vor ihm bereits ein anderer zukünftiger Papst, der junge Mastai Ferretti, den eine diplomatische Mission nach Chile geführt hatte. So war der Staatssekretär und päpstliche Legat auf dem Internationalen Eucharistischen Kongreß in Buenos Aires, und auf der langen Reise besuchte er dann Montevideo und Rio de Janeiro und anschließend Las Palmas de Gran Canaria und Barcelona, bevor er Anfang 1935 wieder im Vatikan eintraf.

Wenige Monate später hielt sich der Purpurträger in Lourdes auf, wo er in der Abschlußpredigt seiner Reise die Erlösung Christi der »Fahne der sozialen Revolution«, der »falschen Auffassung von der Welt und vom Leben« und dem »Aberglauben von Rasse und Blut« entgegenstellte und so den »Götzenkult der Rasse« verurteilte. Dieses Urteil wiederholte Kardinal Pacelli mit ebenso deutlichen Worten auch zwei Jahre später, als der Papst ihn noch einmal nach Frankreich sandte, diesmal nach Lisieux, um dort die Basilika einzuweihen, und dann nach Paris, wo der Purpurträger mit Vertretern der französischen Volksfrontregierung zusammentraf. Und 1938 führte ein weiterer Internationaler Eucharistischer Kongreß den Staatssekretär nach Ungarn, wo er das traditionelle Prinzip der Kirche bekräftigte, sich aus der Bestimmung der Regierungsform herauszuhalten, und wo er vor allem das Wettrüsten anklagte, das »zur Hauptbeschäftigung der Menschheit des 20. Jahrhunderts geworden war«. Er mahnte, daß die »Zerstörungswut« neuer Kriege »die größten Schrecken der Vergangenheit« in den Schatten stellen würde. Pacellis vielleicht wichtigste Reise war jedoch sein langer Privatbesuch in den Vereinigten Staaten im Herbst 1936. Er legte dafür Tausende von Kilometern auch mit dem Flugzeug zurück, wie er es im übrigen auch schon in Deutschland getan hatte – ein weiterer Beweis für seine moderne Einstellung. Anläßlich dieser Reise traf der Kardinal mit etwa 80 Bischöfen und mit den wichtigsten Politikern zusammen, unter ihnen der soeben wiedergewählte Präsident Roosevelt. Bei seiner Rückkehr in den Vatikan ließ der Papst ihn ein Porträt vorfinden mit der handschriftlichen Widmung »Carissimo Cardinali suo Transatlantico Panamerico Eugenio Pacelli feliciter redeunti«. Nur wenige Tage zuvor hatte Pius XI. Msgr. Tardini sehr überrascht, als er seinen noch auf Reisen befindlichen Staatssekretär lobte und am Ende bedenkenlos sagte: »Er wird ein guter Papst sein«.

Die Vorhersage traf weniger als drei Jahre später ein, als der Krieg sich bereits näherte. Der neue Papst, der den Namen Pius XII. angenommen hatte, versuchte den Krieg noch in letzter Minute abzuwenden durch einen Appell, den er mit Hilfe des Substituts Montini verfaßt hatte und den er eine Woche vor dem Einfall der deutschen Truppen in Polen aussprach: »Eine ernste Stunde schlägt augenblicklich für die ganze Menschheitsfamilie. Eine Stunde größter Entscheidungen, denen sich Unser Herz und Unsere geistliche Autorität nicht verschließen kann und darf; jene Autorität die von Gott stammt, um die Seelen auf den Weg des Friedens und der Gerechtigkeit zu führen. (…) Wir, nur mit dem Wort der Wahrheit bewaffnet, und über allen Streitigkeiten und Leidenschaften stehend, sprechen zu euch im Namen Gottes, von dem alle Vaterschaft im Himmel und auf Erden ihren Namen hat. (…) Mit Hilfe der Vernunft, nicht mit jener der Waffen, bricht sich die Gerechtigkeit Bahn. Reiche, die nicht auf Gerechtigkeit gründen, werden von Gott nicht gesegnet. Die Loslösung von der moralischen Ordnung verrät jene, die sie selbst verraten. Drohend wächst die Gefahr, noch ist es Zeit. Nichts ist verloren mit einem Frieden, aber alles kann es sein mit einem Kriege! Möge man das doch begreifen! Möge man doch die Verhandlungen wieder aufnehmen! (…) Wir flehen sie an beim Blute Christi, dessen Sanftmut im Leben und Tod von siegreicher Kraft über die Welt war. Wir wissen und fühlen, daß alle rechten Herzens auf Unserer Seite stehen; alle, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit; alle, die an der Not des Lebens leiden. (…) Es steht auf Unserer Seite jenes alte Europa, welches das Werk des Glaubens und des christlichen Geistes ist. Endlich die gesamte Menschheit, die nach Gerechtigkeit, Brot und Frieden ausschaut, nicht nach dem todbringenden und zerstörenden Schwert.«

Der Appell Pius’ XII. war erfolglos, und ebenso erfolglos blieben die Anklagen, die in seiner ersten Enzyklika, Summi pontificatus, enthalten waren. Sie wurde im ersten Kriegsherbst veröffentlicht und prangerte an, »daß man das Gesetz der Solidarität und Liebe zwischen den Menschen in Vergessenheit geraten läßt; jenes Gesetz, das sowohl durch den gemeinsamen Ursprung und durch die nämliche Vernunftnatur aller Menschen, gleichviel welchen Volkes, vorgeschrieben und auferlegt ist, wie auch durch das Opfer der Erlösung, das Jesus Christus … darbrachte«. Sie bekräftigte mit Nachdruck jene »Einheit des Menschengeschlechts«, die im Mittelpunkt und im Titel der letzten geplanten Enzyklika seines Vorgängers stand, zu dem Pius XII. manchmal ohne triftigen Grund in Gegensatz gebracht wird. Es gab also keine »versteckte Enzyklika«, und der Kardinal-Camerlengo Pacelli zensierte auch nicht die letzte Ansprache Pius’ XI. zum 10. Jahrestag der Lateranverträge, die Johannes XXIII. 20 Jahre später im »L’Osservatore Romano« veröffentlichen ließ.

Die Enzyklika Summi pontificatus verurteilte auch die »Auffassung von der schrankenlosen Autorität des Staates«, die in der Enzyklika als »falsch« und »verderblich« bezeichnet wird, sowohl für »das innere Leben der Nationen«, als auch für die »Beziehungen der Völker untereinander, weil sie die übernationale Gemeinschaft zerstört, dem Völkerrecht seine Grundlage und seine Bedeutung entzieht, zur Verletzung fremder Rechte führt und jedes Verstehen und friedliche Zusammenleben erschwert«. Schließlich klagte sie mit sehr harten Worten die »Stunde der Finsternis« an, in der »die Geister der Gewalt und des Unfriedens die blutige Schale namenlosen Leidens über die Menschheit ausgießen«, und mahnte: »Schon sind die Völker in den mörderischen Strudel des Krieges hineingezogen, und vielleicht stehen sie erst am ›Anfang der Leiden‹ (Mt 24,8); und doch ist bereits in Tausenden von Familien Tod und Verwaisung, Trauer und Elend bitterer Hausgeist geworden. Das Blut ungezählter Menschen, auch von Nichtkämpfern, erhebt eine erschütternde Klage, insbesondere auch über ein so geliebtes Volk wie das polnische, dessen kirchliche Treue und Verdienste um die Rettung der christlichen Kultur mit unauslöschlichen Lettern in das Buch der Geschichte geschrieben sind und ihm ein Recht geben auf das menschlich-bürgerliche Mitgefühl der Welt.« Weiter sagte Pius XII., »daß das Grundgesetz des Reiches Christi, die katholische Bruderliebe, nicht ein leeres Wort ist, sondern lebendige Wirklichkeit. Ein unübersehbares Arbeitsfeld eröffnet sich der christlichen Caritas in all ihren Formen. Wir haben das Vertrauen zu Unsern Söhnen und Töchtern, deren Boden noch nicht von der Geißel des Krieges heimgesucht ward, daß sie im Geiste des göttlichen Samariters sich derer erinnern, die als Opfer des Krieges ein Recht auf Mitleid und Hilfe haben.«

Die Stellungnahme Pius’ XII.

In der ersten Enzyklika Pius’ XII. warfen also nicht nur die Schrecken des Krieges ihre Schatten voraus, sondern es kündigte sich auch das gigantische Liebeswerk an, das die katholische Kirche in den Kriegsjahren gegenüber allen Menschen ohne Ausnahme entfalten sollte. Es wird unter anderem durch die dreieinhalb Millionen Dokumente des Vatikanischen Informationsbüros für die Kriegsgefangenen belegt, das auf Wunsch Pius’ XII. sofort nach Kriegsbeginn eingerichtet wurde. Im Bestand der Vatikanischen Archive reicht es bis 1947 und ist vollkommen geöffnet, aber dennoch beinahe ungenutzt. Es genügt scheinbar, ein Archiv zu öffnen, dessen Öffnung vielleicht sogar lautstark gefordert wird, damit die darin enthaltenen Dokumente vernachlässigt werden: Offenbar ist vielen Menschen die Geschichte nur dann wichtig, wenn sie als Waffe eingesetzt werden kann. Wie bekannt sein dürfte, sind die Archive des Heiligen Stuhls bis Anfang 1939 vollkommen geöffnet. Für die Zeit des Krieges und der Shoah wurde ihr Inhalt im Wesentlichen schon in den Actes et documents du Saint-Siège relatifs à la seconde guerre mondiale vorausgenommen, die auf Wunsch Pauls VI. ab 1965 veröffentlicht wurden. Diese gewaltige Dokumentation – zu der noch unzählige Dokumente anderer nationaler und privater Archive sowie zahlreiche Zeugnisse und historische Rekonstruktionen dieser Zeit hinzukommen – bestätigt, daß die Polemik über das sogenannte Schweigen Pius’ XII, dem Gleichgültigkeit gegenüber der Shoah oder sogar die Zustimmung zu ihr vorgeworfen wird, interessengebunden ist. Das wird im übrigen auch durch die Ursprünge dieser Polemik deutlich: Sie ist in der sowjetischen Propaganda der Kriegszeit verwurzelt, die dann einfloß in die kommunistische Propaganda zur Zeit des Kalten Krieges. Schließlich wurde sie von ihren Epigonen erneut in Umlauf gebracht.

Als Diplomat im Dienste Benedikts XV. hatte sich Pacelli bereits 1915 für die Verurteilung antisemitischer Gewalt eingesetzt, die in Polen zum Ausbruch gekommen war, und in den Dreißigerjahren machte er als Staatssekretär Pius’ XI. der antijüdischen Rundfunkpropaganda eines katholischen Priesters in den Vereinigten Staaten, Charles Coughlin, ein Ende. Durch seine Zeit in Deutschland kannte der Purpurträger auch den Nationalsozialismus und seine krankhafte Ideologie sehr gut und warnte zwischen 1937 und 1939 US-Amerikaner und Briten mehrmals vor der Gefahr, die das Dritte Reich darstellte. Darüber hinaus unterstützte der Papst zwischen Herbst 1939 und Frühjahr 1940 den – schnell fehlgeschlagenen – Versuch einiger Kreise des deutschen Militärs, die mit den Briten in Kontakt standen, das Hitlerregime zu stürzen. Und nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion weigerte sich Pius XII., sich und die katholische Kirche dem anzuschließen, was als »Kreuzzug gegen den Kommunismus« ausgegeben wurde und setzte sich vielmehr dafür ein, die Widerstände vieler US-amerikanischer Katholiken gegen ein Bündnis mit den Sowjets zu überwinden, auch wenn das Urteil des Papstes und seiner engsten Mitarbeiter in bezug auf den Kommunismus stets äußerst negativ blieb. Zu behaupten, Pius XII. sei das Schicksal der Opfer des Nationalsozialismus – der Polen und vor allem der Juden – gleichgültig gewesen, oder ihn gar als »Hitlers Papst« darzustellen ist daher nicht nur beleidigend, sondern vor allem vom historischen Gesichtspunkt her unhaltbar. Ebenso entbehrt das Bild eines Papstes, der den Amerikanern hörig und der »geistliche Wächter des Westens« ist, das von den Sowjets und ihren Anhängern in den europäischen Demokratien während des Kalten Krieges verbreitet und stets verteidigt wurde, jeder historischen Grundlage.

Im Angesicht der Shoah

Angesichts der Schrecken des Krieges und dessen, was später als Shoah bezeichnet wurde, nahm Papst Pius XII. keine neutrale oder gleichgültige Haltung ein. Das, was damals wie auch heute noch als Schweigen abgestempelt wird, war vielmehr eine bewußte und schwere Entscheidung, die auf einem glasklaren moralischen und religiösen Urteil gründete. Es gab und gibt sehr viele Stimmen, die das erkannt haben, auch außerhalb der katholischen Welt. Beispielsweise schrieb Albert Einstein bereits 1940 in der Zeitschrift »Time«: »Nur die Kirche hat es gewagt, sich Hitlers Unterdrückungskampagne gegen die Wahrheit zu widersetzen. Früher hat mich die Kirche nie besonders interessiert, jetzt aber empfinde ich ihr gegenüber große Zuneigung und Bewunderung, denn nur die Kirche hatte konstant den Mut und die Kraft, sich auf die Seite der intellektuellen Wahrheit und der moralischen Freiheit zu stellen«. Der Dominikaner und spätere Kardinal Yves Congar gibt seinerseits in seinem Konzilstagebuch die Aussagen eines Zeitzeugen, seines Mitbruders Rosaire Gagnebet, wieder. Nach dem Massaker der »Fosse Ardeatine« fragte sich der Papst »mit großer Besorgnis«, ob er seine Stimme dagegen erheben sollte: »Aber alle Klöster, alle Ordenshäuser in Rom waren voll von Menschen, die dort Zuflucht suchten: Kommunisten, Juden, Demokraten und Antifaschisten, ehemalige Generäle usw. Pius XII. hatte die Klausur aufgehoben. Wenn Pius XII. öffentlich und feierlich protestiert hätte, hätte es eine Durchsuchung dieser Häuser gegeben, und das wäre katastrophal gewesen. « So wählte der Papst den diplomatischen Protest. Als ihm die Deportation angedroht wurde, teilte er dem Erzbischof von Palermo, Kardinal Luigi Lavitrano, mit, daß er »die Machtbefugnisse an seiner Stelle« erhalten würde, und zum deutschen Botschafter sagte er, ohne zu zögern: Verhaften wird man »Bischof Pacelli, aber nicht den Papst«!

Die Hilfeleistungen, die Pius XII. für die Verfolgten in die Wege leitete – unter anderem für sehr viele Juden in Rom, in Italien und in verschiedenen anderen Ländern –, waren enorm und werden immer häufiger dokumentiert, auch von seiten namhafter Historiker und Intellektueller, die sich gewiß nicht verpflichtet fühlen, das Papsttum zu verteidigen, wie Ernesto Galli della Loggia, Arrigo Levi und Piero Melograni. Aus dieser nie vergehenden Vergangenheit kommen langsam immer mehr Fakten und Dokumente ans Tageslicht. Diese Dokumentation läßt dem Wirken Papst Pius’ XII. und seiner Kirche angesichts der kriminellen Verfolgung der Juden Gerechtigkeit widerfahren. Sie macht es dringend erforderlich, zahllose Geschichtsbücher neu zu schreiben und die diffamatorische Legende eines nazifreundlichen Papstes für immer aus dem Gedächtnis zu tilgen. Diese Legende entstand in den Jahren des Krieges und fand ihren Höhepunkt 1963 in der Aufführung des Dramas »Der Stellvertreter« von Rolf Hochhuth. 2002 wurde sie durch den Film »Amen« von Constantin Costa- Gavras noch einmal in Umlauf gebracht. Daß es sich dabei um einen organisierten Feldzug handelte, hatte Giovanni Spadolini in Italien bereits 1965 angeprangert. Der Historiker sprach damals von »systematischen Angriffen der kommunistischen Welt, die auch in katholischen Herzen auf ein gewisses Einverständnis oder Entgegenkommen stoßen – zumindest bei einigen Katholiken, die auch Italien nicht ganz unbekannt sind«. Das bestätigte 40 Jahre später ein ganzes Dossier, aus dem hervorgeht, daß die Führungspersönlichkeiten des Dritten Reiches Papst Pius XII. als Feind betrachteten. Es handelt sich dabei um bisher unveröffentlichte nationalsozialistische Dokumente, die in die Hände der Leiter des Geheimdienstes im kommunistischen Teil Deutschlands gelangt und dort in der Versenkung verschwunden waren bis Nachforschungen der Tageszeitung »La Repubblica« sie wieder ans Tageslicht brachten. Und diese Zeitung kann man wahrhaftig nicht als Pacelli-freundlich bezeichnen.

Die historiographische Debatte um Pius XII. wurde in einem langen und wichtigen Interview auf den Punkt gebracht, das der »L’Osservatore Romano« anläßlich des 50. Todestages Pius’ XII. mit dem Historiker Paolo Mieli führte, dem Direktor des »Corriere della Sera«. In diesem sehr bedeutsamen Text hat Mieli unter anderem erklärt, er sei davon überzeugt, daß die Historiker Papst Pius XII. Gerechtigkeit widerfahren werden lassen, und fügte hinzu: »In meinen Adern fließt zum Teil jüdisches Blut, und so ist mir ein Papst, der meinen Glaubensbrüdern zu überleben hilft, ehrlich gesagt lieber als einer, der eine demonstrative Geste vollbringt.« Und es lohnt sich, sein abschließendes Urteil über Pius XII. noch einmal zu lesen: »Vielleicht war er der wichtigste Papst des 20. Jahrhunderts. Sicher war er von Zweifeln geplagt. Mit der Frage des Schweigens hat er sich wie gesagt beschäftigt. Aber gerade das verschafft mir die Vorstellung, daß er Größe besaß. Unter anderem hat eine Tatsache mich sehr beeindruckt. Wenn Pius XII. nach Kriegsende ein schlechtes Gewissen gehabt hätte, hätte er sein Wirken zur Rettung der Juden hervorgehoben. Das hat er jedoch niemals getan. Er hat niemals ein Wort darüber gesagt. Er hätte es tun können. Er hätte es schreiben oder sagen lassen können. Aber er hat es nicht getan. Das ist für mich der Beweis, daß er eine Persönlichkeit von großem Format war. Er war kein Papst, der das Bedürfnis hatte, sich zu verteidigen. In bezug auf eine Beurteilung Pius’ XII. muß ich sagen, das mir im Herzen geblieben ist, was Robert Kempner, ein jüdischer Jurist deutscher Herkunft, der stellvertretende Hauptankläger in den Nürnberger Prozessen, 1964 schrieb: Jede propagandistische Stellungnahme der Kirche gegen die Hitler- Regierung wäre nicht nur ein geplanter Selbstmord gewesen, sondern hätte die Ermordung einer noch viel größeren Zahl von Juden und Priestern beschleunigt. Abschließend möchte ich sagen: Zwanzig Jahre lang wurde das Urteil über Pius XII. einhellig von allen geteilt. Meiner Meinung nach geht daher in der Offensive gegen ihn die Rechnung nicht auf. Und jeder, der seine Person mit intellektueller Redlichkeit untersuchen möchte, muß genau hier ansetzen – bei der Rechnung, die nicht aufgeht« (in O.R. dt. Nr. 43, 24.10.2008, S. 9).

Paul VI., Johannes Paul II. und Benedikt XVI. haben vom historischen Standpunkt aus Pius XII. und sein Wirken während des Zweiten Weltkriegs und angesichts der schrecklichen Tragödie der Shoah übereinstimmend verteidigt. Hinzu kommt, daß die Päpste das Gedenken der 6 Millionen Opfer der Schoah stets in Ehren gehalten haben und daß zweifellos der Wunsch besteht, auf dem Weg des Friedens, der Versöhnung und der religiösen Auseinandersetzung mit dem Judentum fortzuschreiten, wie Paul VI. es zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils und während seines ganzen Pontifikats tat, wie Johannes Paul II. ständig und beharrlich verkündigte und wie Benedikt XVI. bei vielen Gelegenheiten immer wieder sagte, insbesondere in diesem Jahr auf seinen Reisen in die Vereinigten Staaten, nach Australien und vor allem nach Frankreich.

Bekanntlich läuft für Papst Pius XII. der Heiligsprechungsprozeß. Dies ist eine religiöse Angelegenheit, die von allen respektiert werden muß und für die aufgrund ihres besonderen Wesens nur der Heilige Stuhl zuständig ist. Als Paul VI. 1965 während des Konzils den Beginn der Kanonisationsprozesse für Pius XII. und Johannes XXIII. ankündigte, begründete er ihn folgendermaßen: »So wird dem Wunsch stattgegeben, der sowohl für den einen als auch für den anderen in diesem Sinne von unzähligen Stimmen zum Ausdruck gebracht wurde; so wird ihr geistliches Erbe der Nachwelt erhalten bleiben; so vermeidet man, daß ihre wahren und geliebten Gestalten aus irgendeiner anderen Motivation als der Verehrung der wahren Heiligkeit und somit der Ehre Gottes heraus rekonstruiert werden, damit sie uns und den kommenden Generationen zur Verehrung erhalten bleiben.« Benedikt XVI. hat seinerseits während der Gedenkfeier fürPius XII. im Petersdom dazu aufgefordert, dafür zu beten, »daß der Seligsprechungsprozeß des Dieners Gottes Pius XII. glücklich vorangehen möge« (in O.R. dt., Nr. 42, 17.10.2008, S. 8f.). Diese Aufforderung nehme ich gerne entgegen und schließe mich ihr an, im Gedenken und in der Würdigung eines Papstes, der ein großer Papst war. Dieser Kongreß wird sicher viel dazu beitragen, ihn besser bekannt zu machen.


Kurze Bibliographie

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