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BEGEGNUNG MIT VERTRETERN DER WELT DER KULTUR UND
DER WISSENSCHAFT 

ANSPRACHE VON KARDINAL-STAATSSEKRETÄR
TARCISIO BERTONE,

Łódź
Samstag, 9. Juni 2012

JOHANNES PAUL II. UND DIE KULTUR DES LEBENS
 

Die ethische Dimension ist die grundlegende Dimension der Kultur. »Indem wir den Vorrang dieser Dimension sichern«, so sagte Johannes Paul II., »sichern wir den Vorrang des Menschen. Denn der Mensch verwirklicht sich als Mensch grundsätzlich durch seinen moralischen Wert«.

Schon auf rein menschlicher Ebene war Karol Wojtyla als Dichter, Schauspieler und Philosoph ein Baumeister der Kultur. 1980 betonte er in einer Ansprache vor der UNESCO, daß »Kultur … das [ist], wodurch der Mensch als solcher mehr Mensch wird, mehr Mensch ›ist‹, besser zum ›Sein‹ gelangt. (…) Der Mensch, und er allein, ist ›Täter‹ oder ›Baumeister‹ der Kultur; der Mensch, und er allein, drückt sich in ihr aus und findet in ihr sein Gleichgewicht«. Kultur ist in der Tat gleichbedeutend mit Zivilisation, und die »Zivilisation des Lebens« nährt sich aus der »Kultur des Lebens«. Und er fuhr in seiner Ansprache fort: »Der Mensch lebt nur dank der Kultur ein wahrhaft menschliches Leben. (…) Ich bin Sohn einer Nation, die im Lauf ihrer Geschichte die meisten Erfahrungen damit machte, daß ihre Nachbarn sie zum Tod verurteilt haben, zu wiederholten Malen, die aber überlebt hat, sie selbst geblieben ist. Sie hat ihre Identität bewahrt, und sie hat trotz der Teilungen und fremden Besatzungen nationale Souveränität bewahrt, indem sie sich nicht auf die Mittel physischer Gewalt gestützt hat, sondern einzig und allein auf ihre Kultur.

Diese Kultur hat sich als eine Macht herausgestellt, die größer ist als alle anderen Mächte.« Johannes Paul II., Sohn der polnischen Nation, hat die umfangreichen Erfahrungen seiner Heimat an den Sitz Petri mitgenommen. Benedikt XVI. schrieb, daß der Papst dieses polnische Erbe brauchte, um innerhalb einer Vielfalt von Kulturen denken zu können. Karol Wojtyla wurde in verschiedenen Gemeinschaften herangebildet. Zunächst in seiner Familie, über die er sagte: »Mit kindlicher Herzlichkeit küsse ich die Schwelle meines Geburtshauses und danke der Vorsehung für das Geschenk des Lebens, das mir meine lieben Eltern gegeben haben, für die Wärme des heimischen Nests, für die Liebe meiner Angehörigen, die mir ein Gefühl der Sicherheit und Kraft gab, auch dann, wenn es in schwierigen Zeiten die Erfahrung des Todes und die Mühen des täglichen Lebens aufzunehmen galt« (Predigt bei der Vesper in Wadowice, 16. Juni 1999, Nr. 2). Dort hat alles begonnen, dort hat das Leben begonnen und auch die Sensibilität für dessen unschätzbaren Wert.

Die Zeit der Jugend war für ihn eine große Schule der Kultur und des Lebens, auch durch die harte Erfahrung des Todes der Menschen, die er am meisten liebte. Dieses Loslassen, dieser Übergang seiner Angehörigen »von einem Leben ins andere« waren für ihn eine große Lektion. Johannes Paul II. erinnerte sich: »Es wurde mir auch gegeben, persönliche Erfahrungen mit den ›Ideologien des Bösen‹ zu machen. Dies hat sich unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingeprägt.« In seiner Jugend erlebte er das Drama des Zweiten Weltkriegs. Viele Male hat er die »Kultur des Todes« erfahren. Zum Beispiel stand seinem Wunsch zu studieren und das Wissen zu pflegen die Verhaftung von Professoren der Jagiellonen-Universität entgegen. Als er viele Jahre später als Papst nach Auschwitz kam, sagte er: »Sollte sich noch jemand darüber wundern, daß der Papst, der in diesem Land aufgewachsen ist und ausgebildet wurde, der Papst, der aus der Diözese, in der sich das Lager Auschwitz befindet, auf den Stuhl Petri gekommen ist, seine erste Enzyklika mit den Worten Redemptor hominis begonnen und sie gänzlich dem Menschen gewidmet hat, der Würde des Menschen, den Bedrohungen gegen ihn und letztlich seinen unantastbaren Rechten, die so leicht von seinesgleichen mit Füßen getreten und ausgelöscht werden können?« (Predigt im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, 7. Juni 1979).

Die gesamte Zeit des priesterlichen und bischöflichen Dienstes von Karol Wojtyla in seinem Land fiel mit dem kommunistischen Totalitarismus zusammen. Mit großem Mut hat er die Menschenrechte verteidigt, und die gebildeten Menschen standen ihm immer nahe. Er hat die Christlichen Kulturwochen unterstützt. Er hat auch Wissenschaftlern und Intellektuellen geholfen, die wegen ihrer Meinung verfolgt waren. Zwei Jahre vor seiner Wahl auf den Stuhl Petri sagte er: »Als Bischof habe ich die Pflicht, der erste zu sein, der diesem Anliegen dient (…) dem großen Anliegen des Menschen.« Und als er Papst geworden war, sagte er: »Christus will, daß ich (…) vor der Welt Zeugnis ablege von dem, was die Größe des Menschen unserer Zeit und sein Elend ausmacht. Von seiner Niederlage und seinem Sieg« (Predigt im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, 7. Juni 1979).

Die Erfahrung mit zwei Totalitarismen, die er erlebt hat, hat gezeigt, wozu die Kultur des Todes in der Lage ist. Daher hat er sich immer mehr eingesetzt für die Förderung einer Kultur des Lebens, die für alle möglich ist, von den Gelehrten bis zu den einfachen Menschen, und die in unterschiedlichster Weise zum Ausdruck kommt, nicht zuletzt in der konkreten Aufmerksamkeit gegenüber jedem einzelnen Menschen. Am Tag nach seiner Wahl begab sich Johannes Paul II. in ein römisches Krankenhaus, um einen kranken Freund zu besuchen, den Bischof – und späteren Kardinal – Andrea Maria Deskur. Seitdem ging der Papst Tag für Tag den Gläubigen entgegen, beugte sich über die Kranken nieder, drückte Tausende von Händen. Auch so ist er Zeuge der Kultur des Lebens gewesen. Wer den Papst auf den Apostolischen Reisen und zu anderen Begegnungen begleitete, bemerkte auch seine besondere Sensibilität gegenüber den Kranken und den Jugendlichen. Er hat Sterbende in Leprastationen umarmt, hat Kranken beim Essen geholfen, und von den Regierenden forderte er mit Entschiedenheit die Achtung des Menschen.

Aus dieser Perspektive heraus hat Johannes Paul II. allen geholfen zu verstehen, daß das menschliche Leben einen Sinn hat, in welchem Stadium auch immer es sich befindet, und daß der Sinn leichter erkennbar ist, wenn er eng mit der Liebesbeziehung zu einer anderen Person verbunden ist. Leben ist letztlich ein »leben für« etwas oder jemanden, es verhindert die Verschlossenheit einer einfachen biologischen Tatsache. Der Satz, daß das Leben immer ein Gut ist, kann im Licht der Dynamik, die es stützt und ausmacht, neu formuliert werden. Man vermag also, wie er in der Enzyklika Evangelium vitae gesagt hat, »den eigentlichen und tiefsten Sinn des Lebens zu begreifen und zu verwirklichen: nämlich eine Gabe zu sein, die sich in der Hingabe erfüllt« (Nr. 49).

Sein gesamtes Leben war ein großartiges Zeugnis für die Kultur des Lebens, insbesondere in den Momenten des Leidens. Man sagte, daß das Leid eine seiner »Enzykliken« war. Kardinal Dziwisz hat dazu angemerkt: »Karol Wojtyla hat gelernt, mit seiner Krankheit und seinem Leid zu leben. Dies war ihm vor allem dank seiner Spiritualität und seiner persönlichen Beziehung zu Gott möglich.« Wir haben immer noch die langsamen Schritte von Johannes Paul II. vor Augen, auf den Gehstock gestützt, gezeichnet vom physischen Leiden, das noch verschlimmert wurde durch die Folgen des Attentats, das er am 13. Mai 1981 erlitten hatte, sowie von der Krankheit, die ihn befallen hatte und ihn bis zum Ende begleiten sollte. Papst Johannes Paul II. hat nie ein Geheimnis um seine Krankheit gemacht, er hat nie versucht, sie zu verstecken. Durch sein körperliches Leiden hat er den Wert des »Evangeliums des Lebens« herausgestellt, das alle – Einzelpersonen, Vereinigungen und Institutionen – dazu verpflichtet, »daß die staatlichen Gesetze in keiner Weise das Recht auf Leben verletzen«, sondern vielmehr »den Schutz der Grundrechte der Menschen, insbesondere der Schwächsten« fördern – und dies von der Empfängnis bis zum Tod.

In dieser starken Überzeugung erachtet die Kirche es daher als ihre Pflicht, sich zu Themen zu äußern, die eng mit dem Wachstum und der Entwicklung des Menschen verbunden sind. Dieser Beitrag entkräftet das Prinzip einer »gesunden Laizität« nicht, sondern bereichert es sogar, denn sie ist darum bemüht, den ihr eigenen Beitrag zum Aufbau des Gemeinwohls zu leisten. Wir haben auch noch das Bild des Papstes vor Augen, der nach dem Kreuzweg im Kolosseum am Karfreitag des Jahres 2005 das Kreuz umklammerte und folgende Worte vorbereitet hatte: »Ja, wir verehren und preisen das Mysterium des Kreuzes des Gottessohnes, weil aus jenem Tod eine neue Hoffnung für die Menschheit entsprungen ist. (…) Auch ich opfere meine Leiden auf, damit sich der Plan Gottes erfülle und sein Wort zu den Völkern gehe«.

Wer in seinen letzten Stunden bei ihm war, ist Zeuge dafür, daß er bis zuletzt gebetet hat. Benedikt XVI. hat gesagt: »Der Duft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe des Papstes erfüllte sein ganzes Haus, erfüllte den Petersplatz, erfüllte die Kirche und verbreitete sich in der ganzen Welt. Was nach seinem Tod geschehen ist, war für den, der glaubt, die Wirkung dieses ›Duftes‹, der alle, die Nahen und die Fernen, berührt hat; und er hat sie zu einem Menschen hingezogen, den Gott allmählich seinem Christus gleichförmig gemacht hat« (Predigt in der Gedenkmesse zum 2. Jahrestag des Todes des Dieners Gottes Papst Johannes Paul II., 2. April 2007). Gerade deshalb, aufgrund seiner Vereinigung mit Jesus Christus, war der sel. Johannes Paul II. Zeuge der Kultur des Lebens. Im umfassenden Lehramt von Papst Johannes Paul II. nimmt die Enzyklika Evangelium vitae von 1995 einen hervorragenden Platz ein; sie hat der Reflexion über die modernen Herausforderungen in bezug auf das Leben Orientierung gegeben.

Dazu gehört auch das Entstehen und die immer größere Entwicklung der Wissenschaft, besonders im Bereich der Bioethik, mit unvorstellbaren Errungenschaften, aber nicht ohne Risiken, die auch dramatische Perspektiven annehmen können, wenn der ethische und religiöse Bezug schwindet. In dieser wichtigen Enzyklika sagt Johannes Paul II., daß »wir einer ungeheuren und dramatischen Auseinandersetzung zwischen Bösem und Gutem, Tod und Leben, der ›Kultur des Todes‹ und der ›Kultur des Lebens‹ gegenüberstehen. Wir stehen diesem Konflikt nicht nur ›gegenüber‹, sondern befinden uns notgedrungen ›mitten drin‹: wir sind alle durch die unausweichliche Verantwortlichkeit in die bedingungslose Entscheidung für das Leben involviert und daran beteiligt«

 

  

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