ARTIKEL 5
DER WEG DES GEBETES
2663 Jede
Kirche bietet in der lebendigen Überlieferung des Gebetes dem geschichtlichen,
gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld entsprechend ihren Gläubigen die
Sprache des Betens in Worten, Gesängen, Gebetshaltungen und Bildern an. Das
Lehramt [Vgl. DV 10] hat die treue Übereinstimmung dieser verschiedenen Wege
des Betens mit dem überlieferten apostolischen Glauben zu beurteilen, und die
Seelsorger und Katecheten haben deren Sinn zu erkären, der stets auf Christus
bezogen ist.
Gebet zum Vater
2664 Es gibt
keinen anderen Weg christlichen Betens als Christus. Unser Gebet hat nur dann
Zugang zum Vater, wenn wir „im Namen Jesu" beten, in Gemeinschaft oder
allein, in gesprochener oder innerlicher Weise. Die heilige Menschheit Jesu ist
der Weg, durch den der Heilige Geist uns zu Gott, unserem Vater, beten lehrt.
Gebet zu Jesus
2665 Das Gebet
der Kirche, das sich vom Wort Gottes und der Feier der Liturgie nährt, lehrt
uns zu Jesus, unserem Herrn beten. Selbst wenn es sich vornehmlich an den Vater
richtet, enthält es doch in allen liturgischen Überlieferungen Formen des
Betens, die sich an Christus wenden. Manche im Gebet der Kirche aktualisierte
Psalmen und das Neue Testament legen die Anrufungen dieses Betens zu Christus
auf unsere Lippen und prägen sie in unsere Herzen ein:
Sohn Gottes Sohn der Jungfrau
Wort Gottes Guter Hirt
Unser Herr Unser Leben
Unser Heiland Unser Licht
Lamm Gottes Unsere Hoffnung
Unser König Unsere Auferstehung
Du vielgeliebter Sohn Freund der
Menschen
2666 Doch der
Name, der alles enthält, ist der, den der Sohn Gottes bei seiner Menschwerdung
erhält: Jesus. Der Name Gottes läßt sich von menschlichen Lippen nicht
aussprechen [Vgl. Ex 3,14; 33,19-23.], aber das Wort Gottes offenbart ihn uns
in der Menschwerdung; jetzt können wir ihn anrufen: „Jesus", „JHWH
rettet" Vgl. Mt 1,21]. Der Name Jesu enthält alles: Gott und den Menschen
und die ganze Ordnung der Schöpfung und Erlösung. „Jesus" beten heißt, ihn
anrufen, ihn in uns rufen. Sein Name trägt als einziger Gottes Gegenwart in
sich, die er bedeutet. Jesus ist auferstanden, und wer immer seinen Namen
anruft, empfängt den Sohn Gottes, der ihn geliebt und sich für ihn hingegeben
hat [Vgl. Röm 10,13: Apg 2,21; 3. 15-16; Gal 2,20. - Phil 2,6-11].
2667 Diese
äußerst einfache Anrufung aus dem Glauben wurde in der Überlieferung des
Gebetes des Ostens und des Westen in mancherlei Formen entfaltet. Die häufigste
Fassung, die durch die geistlichen Väter auf dem Sinai, in Syrien und auf dem
Berge Athos weitergegeben wurde, ist die Anrufung: „Jesus Christus, Sohn
Gottes, Herr, hab Erbarmen mit uns Sündern!" Sie verbindet den
christusbezogenen Hymnus aus dem Brief an die Gemeinde in Philippi [Vgl. Mk
10,46-52; Lk 18,13] mit der Bitte des Zöllners und der Blinden. Durch sie wird
das Herz auf das Elend der Menschen und die Barmherzigkeit ihres Retters
eingestimmt.
2668 Die
Anrufung des Namens Jesu ist der einfachste Weg des ständigen Betens. Von einem
demütig aufmerksamen Herzen oft wiederholt, verliert sich dieses Gebet nicht in
„vielen Worten" (Mt 6,7), sondern bewahrt das Wort und bringt in Ausdauer
Frucht. Es ist „allzeit" möglich, denn zu beten ist nicht eine
Beschäftigung neben anderen, sondern die einzigartige Beschäftigung, Gott zu lieben,
die in Christus Jesus alles Tun beseelt und verklärt.
2669 Das Gebet
der Kirche ehrt und verehrt das Herz Jesu, wie es seinen heiligsten Namen
anruft. Die Kirche betet das menschgewordene Wort und sein Herz an, das sich
aus Liebe zu den Menschen von unseren Sünden durchbohren ließ. Das christliche
Beten folgt im Kreuzweg gern dem Erlöser nach. Die Stationen vom Prätorium bis
Golgota und bis zum Grab kennzeichen den Weg Jesu, der durch sein heiliges
Kreuz die Welt erlöst hat.
„Komm, Heiliger Geist!"
2670 „Keiner
kann sagen: Jesus ist der Herr!, wenn er nicht aus dem Heiligen Geist
redet" (1 Kor 12,3). Jedesmal, wenn wir beginnen zu Jesus zu beten, lockt
uns der Heilige Geist durch seine zuvorkommende Gnade auf den Weg des Betens.
Er lehrt uns beten, indem er uns an Christus erinnert; wie sollten wir dann
nicht auch zu ihm selbst beten? Deshalb lädt uns die Kirche ein, jeden Tag um
den Heiligen Geist zu flehen, besonders zu Beginn und am Ende jeder wichtigen Tätigkeit:
„Wenn
der Geist nicht angebetet werden soll, wie vergöttlicht er mich dann durch die
Taufe? Und wenn er angebetet werden soll, muß er dann nicht Gegenstand einer
besonderen Verehrung sein?" (Gregor v. Nazianz, or. theol. 5,28).
2671 Die
übliche Form der Bitte um den Geist besteht in der Anrufung des Vaters durch
Christus, unseren Herrn, uns den Tröstergeist zu geben‘. Als Jesus den Geist
der Wahrheit verheißt 2, betont er die Notwendigkeit, in seinem Namen um den
Geist zu bitten. Ebenfalls üblich ist das einfachste und unmittelbarste Gebet:
„Komm, Heiliger Geist!". Jede liturgische Überlieferung entfaltet es in
ihren Antiphonen und Hymnen:
„Komm,
Heiliger Geist, erfülle die Herzen deiner Gläubigen, und entzünde in ihnen das Feuer
deiner Liebe!" [Vgl. die Pfingstsequenz].
„Himmlischer
König, Geist des Trostes, Geist der Wahrheit, allgegenwärtig und alles
erfüllend, Schatz alles Guten und Quell des Lebens, komm, wohne in uns, läutere
und rette uns, du, der du gut bist" (Byzantinische Liturgie, Tropar der
Pfingstvesper).
2672 Der
Heilige Geist, dessen Salbung unser ganzes Wesen erfüllt, ist der innere
Lehrmeister des christlichen Betens. Er ist der Urheber der lebendigen
Überlieferung des Gebetes. Es lassen sich wohl ebensoviele Wege des Betens
finden, wie es betende Menschen gibt, doch wirkt in allen und mit allen der
gleiche Geist. In der Gemeinschaft des Heiligen Geistes ist das christliche
Beten Gebet in der Kirche.
In Gemeinschaft mit der heiligen
Gottesmutter
2673 Im Gebet
vereint uns der Heilige Geist mit der Person des eingeborenen Sohnes in dessen
verherrlichter Menschennatur. Durch diese und in ihr ist unser Gebet als Söhne
Gottes in der Kirche mit der Mutter Jesu vereint [Vgl. Apg 1,14].
2674 Seit ihrer
Zustimmung, die sie bei der Verkündigung gläubig gab und an der sie unter dem
Kreuz ohne Zögern festhielt, erstreckt sich die Mutterschaft Marias fortan auf
die Brüder und Schwestern ihres Sohnes, „die noch auf der Pilgerschaft sind und
in Gefahren und Bedrängnissen weilen" (LG 62). Jesus, der einzige Mittler,
ist der Weg unseres Gebetes. Maria, seine und unsere Mutter, verstellt ihn
nicht. Sie ist vielmehr nach der herkömmlichen bildlichen Darstellung im Osten
und Westen „Wegweiserin" [Hodegetria] und „Wegzeichen" Christi.
2675 Ausgehend
von dieser einzigartigen Mitwirkung Marias am Wirken des Heiligen Geistes haben
die Kirchen das Gebet zur heiligen Mutter Gottes entfaltet. Sie richteten
dieses Gebet ganz auf Christus aus, wie er sich in seinen Mysterien zeigt. In
den unzähligen Hymnen und Antiphonen, die dieses Gebet ausdrücken, wechseln
einander für gewöhnlich zwei Bewegungen ab: Die eine preist den Herrn für die
„großen Dinge", die er an seiner demütigen Magd, und durch sie für alle
Menschen, getan hat [Vgl. Lk 1,46-55]; die andere vertraut der Mutter Jesu die
Bitten und das Lob der Kinder Gottes an, weil sie die menschliche Natur kennt,
mit der sich der Sohn Gottes in ihr vermählt hat.
2676 Diese
doppelte Bewegung des Gebetes zu Maria hat im „Ave Maria" einen herrlichen
Ausdruck gefunden: Gegrüßt seist du, Maria. Wörtlich: „Freue dich, Maria".
Der Gruß des Engels Gabriel eröffnet das Ave. Gott selbst grüßt Maria durch
seinen Engel. Unser Gebet wagt den Gruß an Maria aufzunehmen, indem es wie Gott
auf die niedrige Magd schaut [Vgl. Lk 1,48], und an der Freude, die Gott an
Maria hat [Vgl. Zef 3,17b], teilzunehmen.
Du bist voll der Gnade; der Herr
ist mit dir. Die beiden Teile des Engelsgrußes erhellen sich gegenseitig. Maria
ist voll der Gnade, weil der Herr mit ihr ist. Die Gnade, die sie ganz erfüllt,
ist die Gegenwart dessen, der die Quelle aller Gnaden ist. „Freu dich, und
frohlocke von ganzem Herzen, Tochter Jerusalem! ... Der Herr, dein Gott, ist in
deiner Mitte" (Zef 3,14.17a). Maria, in der der Herr selbst Wohnung nimmt,
ist in Person die Tochter Zion, die Bundeslade und der Ort, wo die Herrlichkeit
des Herrn thront. Sie ist „die Wohnung Gottes unter den Menschen" (Offb
21,3). „Voll der Gnade" ist Maria gänzlich dem hingegeben, der in ihr
Wohnung nimmt und den sie der Welt geben wird.
Du bist gebenedeit unter den
Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Nach dem Gruß des
Engels machen wir uns die Anrede Elisabets zu eigen. „Vom Heiligen Geist
erfüllt" (Lk 1,41) ist Elisabet die Erste einer langen Reihe von
Geschlechtern, die Maria selig preisen [Vgl. Lk 1.48]: „Selig ist die, die
geglaubt hat" (Lk 1,45). Maria ist „gesegnet ... mehr als alle anderen
Frauen" (Lk 1,42), weil sie geglaubt hat, daß das Wort des Herrn in
Erfüllung gehen wird. Aufgrund des Glaubens konnten durch Abraham „alle
Geschlechter der Erde Segen erlangen" (Gen 12,2-3). Aufgrund des Glaubens
ist Maria zur Mutter der Glaubenden geworden. Ihr verdanken alle Geschlechter
der Erde, daß sie den, der der Segen Gottes selbst ist, empfangen dürfen:
„Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes".
2677 Heilige
Maria, Mutter Gottes, bitte für uns ... Mit Elisabet staunen wir: „Wer hin ich,
daß die Mutter meines Herrn zu mir kommt?" (Lk 1,43). Weil Maria uns ihren
Sohn Jesus gibt, ist sie, die Mutter Gottes, auch unsere Mutter. Wir können ihr
alle unsere Sorgen und Bitten anvertrauen. Sie betet für uns, wie sie für sich
selbst gebetet hat: „Mir geschehe nach deinem Wort" (Lk 1,38). Wenn wir
uns ihrem Gebet anvertrauen, überlassen wir uns mit ihr dem Willen Gottes:
„Dein Wille geschehe!"
Bitte für uns Sünder, jetzt und
in der Stunde unseres Todes. Wenn wir Maria bitten, für uns zu beten, bekennen
wir uns als arme Sünder und wenden uns an die „Mutter der Barmherzigkeit",
an die ganz Heilige. Wir vertrauen uns ihr „jetzt" an, im Heute unseres
Lebens. Und unser Vertrauen weitet sich, so daß wir ihr jetzt schon „die Stunde
unseres Todes" anvertrauen. Möge sie dann zugegen sein, wie beim Tod ihres
Sohnes am Kreuz, und uns in der Stunde unseres Hinübergangs als unsere Mutter
aufnehmen [Vgl. Joh 19,27], um uns zu ihrem Sohn Jesus in das Paradies zu
geleiten.
2678 In der
mittelalterlichen Frömmigkeit des Westens entstand das Gebet des Rosenkranzes
als volkstümlicher Ersatz für das Stundengebet. Im Osten haben die Litaneien
des Akáthistos und der Paräklisis mehr Ahnlichkeit mit dem Chorgebet in den
byzantinischen Kirchen bewahrt, während die armenische, die koptische und
syrische Überlieferung Hymnen und Volkslieder zur Mutter Gottes bevorzugt
haben. Doch die Überlieferung des Gebetes ist im Ave Maria, in den Theotokia,
den Hymnen des hl. Ephrem und des hl. Gregor von Narek im Grunde die gleiche
geblieben.
2679 Maria ist
die vollkommene Orante und das Bild der Kirche. Wenn wir zu ihr beten, stimmen
wir mit ihr in den Ratschluß des Vaters ein, der seinen Sohn sendet, um alle
Menschen zu retten. Wie der Jünger, den Jesus geliebt hat, nehmen wir die
Mutter Jesu, die zur Mutter aller Lebendigen geworden ist, bei uns auf [Vgl.
Joh 19,27]. Wir können mit ihr beten und sie bitten. Das Gebet der Kirche ist
durch das Gebet Marias wie getragen; es ist mit Maria in der Hoffnung vereint
[Vgl. LG 68-69].
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