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INTERNATIONALE THEOLOGISCHE KOMMISSION

 

 JESU SELBST- UND SENDUNGSBEWUSSTSEIN 

(1985)

 

 

Vorbemerkung des Generalsekretärs

Die Vollversammlung der Internationalen Theologischen Kommission des Jahres 1985 (2.–7. Oktober) bot die Möglichkeit, den Text über die Ekklesiologie abzuschließen und statutengemäß die dritte Abstimmung vorzunehmen. Sie war aber vor allem dem Studium einiger Aspekte der Theologie der „Erkenntnis“ oder „der Erkenntnisse“ Jesu Christi gewidmet. Diese schwierigen theologischen Fragen waren bereits im dritten Quinquennium (1980–1985) zur Sprache gekommen. Die Arbeit über die ekklesiologischen Probleme hatte einen neuen Aspekt der gegenwärtigen theologischen und pastoralen Untersuchungen ans Licht gebracht: Wie soll man den heutigen Christen das Bewusstsein Jesu erklären, der Sohn Gottes zu sein und die Kirche zu gründen als Communio[1], die durch sein Blut erkauft ist? Es geht dabei nicht nur um eine Schulstreitigkeit. Heute bedrängt die christliche Öffentlichkeit Theologen und Hirten mit dieser Frage.

1983 wurde deshalb ein neues Studienprojekt begonnen, um zwei Fragen zu klären: Worin besteht der Inhalt der „Wissens-Erkenntnisse“ Christi, der Gott und Mensch ist? Welcher psychologische und ontologische Status kommt ihnen zu? Im Rückgriff auf die alte Fachsprache könnte man sagen: Quid scitur a Jesu Christo? Quomodo haec cognoscuntur a Verbo Incarnato? Diese Arbeit wurde einer Subkommission anvertraut, die sich mehrere Male traf. P. Christoph Schönborn, Professor in Fribourg (Schweiz), war deren Präsident. Die Mitglieder der Subkommission waren die Professoren F. Gál, W. Kasper, C. Peter, C. Pozo, B. Sesboüé und J. Walgrave. S. E. J. Medina Éstevez, S. E. B. Kloppenburg und P. Thornhill, Mitglieder der ITK, trugen zur Redaktion des ersten Textes bei, der in der Plenarversammlung im Oktober 1985 diskutiert wurde[2].

Da die Zeit am Ende des Quinquenniums knapp war, erwies es sich freilich als notwendig, das ursprüngliche Projekt zu kürzen. Deshalb beschränkt sich der von den Mitgliedern der ITK erarbeitete und abgestimmte Text auf die erste der beiden gestellten Fragen, auf das quid allein, und überlässt die Frage des quomodo künftigen Untersuchungen. Man wird folglich hier keine Darlegung über das göttliche, das eingegossene, das menschliche, mystische oder prophetische Wissen des fleischgewordenen Wortes finden. Diese Fragen sind zwar untersucht worden, nur fehlte es der ITK an Zeit, um hoffen zu können, Antworten beizubringen, die sowohl der kirchlichen Lehre als auch den Untersuchungen entsprächen, die so viele Theologen und Philosophen  seit Anfang dieses Jahrhunderts unternommen haben. Hingegen erschien es sinnvoll, ja sogar notwendig, die Gegebenheiten des Glaubens, der Offenbarung und der Überlieferung bezüglich einiger wesentlicher Punkte wieder zu bekräftigen: Welches Bewusstsein hatte Jesus von seiner Person, seiner Sendung, von dem Reich, das er in einer Kirche konkretisierte, die zugleich eine Gemeinschaft von irdischen Menschen und das „Himmelreich“ ist, das Reich Gottes, der mystische Leib, an dem auf verschiedene, aber reale Weise alle Gläubigen teilhaben, ob sie in den Bedingungen des Fleisches und der menschlichen Zeit oder im Leben mit Gott und im göttlichen und ewigen Äon leben?

Diesem Ausdruck ihres Glaubens, der der Glaube der Kirche ist, wollten die Mitglieder der ITK einen systematischen Charakter geben. Deshalb wurde die Lehre in vier wesentliche Aussagen (propositiones) eingeteilt. Der Kommentar, den sie erforderten, bezieht sich vor allem auf die große Tradition der Kirche, die in der Heiligen Schrift und im Lehramt ihren Ausdruck findet. Zu einer Zeit, da, wie gesagt, manche Christen sich fragen, was noch zu glauben sei, bringen die Mitglieder der ITK die Antwort der christlichen Überlieferung vor. Weiterführende Untersuchungen, die schon ansatzweise vorliegen, sind deswegen nicht aus dem Blick verloren. Doch ist es nicht nur Aufgabe des Lehrers der Theologie, den Glauben zu erläutern (explicare), sondern er muss ihn auch systematisch auslegen (explicitare). Dies wurde hier versucht.

 

Ph. Delhaye

Generalsekretär der ITK

 

Einleitung

Die Internationale Theologische Kommission hat sich schon zweimal mit der Christologie befasst[3]. In dem 1980 veröffentlichten Text sprachen einige Mitglieder von einer Synthese, die von den Theologen zu erarbeiten sei, damit der Lehre von Chalkedon über die Person und die beiden Naturen Jesu Christi eine soteriologische Perspektive hinzugefügt werde. In diesem Zusammenhang wurde auch die sehr schwierige Frage des Bewusstseins und Wissens Christi berührt [4]. Später wurden die Präexistenz Jesu Christi und der trinitarische Aspekt seiner Passion behandelt. Ohne Vorentscheide fällen zu wollen, machte die Kommission darauf aufmerksam, dass die Untersuchung über das menschliche Bewusstsein und Wissen Jesu noch zu vervollständigen sei[5].

Wie in den vergangenen Jahren wünscht die Kommission auch jetzt noch, „besser aufzuzeigen, was das Menschsein Christi und die verschiedenen ‚Mysterien‘ seines irdischen Lebens, wie die Taufe, die Versuchungen, die Agonie von Gethsemani“[6], für das Heil der Menschen bedeutet haben. Darum wurde beschlossen, eine neue Untersuchung über das kognitive und affektive Leben dessen, der den Vater kennt und ihn den anderen offenbaren wollte, durchzuführen. Die Kommission hat nicht die Absicht, alle mit diesem Thema zusammenhängenden Fragen zu behandeln, mögen sie auch von großer Bedeutung sein. Die Zeitlage erfordert jedoch, dass zumindest auf einige Fragen über Jesus Christus, die heute Gedanken und Herzen der Menschen bewegen, eine Antwort gegeben werde.

Welcher vernünftige Mensch wäre wohl bereit, seine Hoffnung auf jemanden zu setzen, dem es an Geist oder menschlicher Einsicht fehlte? Nicht nur die Menschen des 4. Jahrhunderts erwogen diese Frage[7], sie ist auch heute noch aktuell, wenn auch in einem anderen Zusammenhang.

Aus der Anwendung der historisch-kritischen Methode auf die Evangelien ergeben sich Fragen über Jesus Christus, über das Bewusstsein, das er hinsichtlich seiner Gottheit hatte, über sein Leben und seinen Tod als Quelle des Heils, seine Sendung, seine Lehre und besonders über seinen Plan, die Kirche zu gründen. Verschiedene, sich manchmal gegenseitig ausschließende Antworten sind von den Fachleuten, die sich einer solchen Methode bedienen, vorgeschlagen worden. Die Zeit schreitet fort, die strittigen Fragen werden nicht weniger. Die Diskussion über diese Fragen wird nicht nur in den wissenschaftlichen Fachzeitschriften geführt, sondern manchmal sogar in den Tages- und Wochenzeitungen, in einer popularisierenden Literatur, in den modernen Kommunikationsmitteln.

Zweifellos haben diese Fragen für ein recht unterschiedliches Publikum große Bedeutung erlangt. Das gilt auch für die Christen, für die es oft schwierig ist, denen eine zufriedenstellende Antwort zu geben, die sie nach dem Grund ihrer Hoffnung fragen (1 Petr 3,15). Wer wollte nämlich oder vielmehr wer könnte Vertrauen in einen Retter haben, der sich selbst nicht als solchen erkannte oder es nicht sein wollte?

Es ist daher einleuchtend, dass die Kirche der Frage des Bewusstseins und des menschlichen Wissens Jesu eine große Bedeutung beimisst; handelt es sich doch in beiden Fällen nicht um rein spekulative theologische Fragen, sondern um die Grundlage der Botschaft und Sendung, die der Kirche eigen sind. Indem die Kirche das Reich Gottes verkündet, ruft sie ja die Menschen zur Busse auf; sie verkündet das Evangelium, sie bietet die notwendigen Mittel zur Versöhnung, zur Befreiung und zum Heil an; sie will allen Menschen die Offenbarung Gottes des Vaters im Sohn durch den Heiligen Geist mitteilen. Sie scheut sich nicht, sich der ganzen Welt als die mit dieser Sendung Beauftragte darzustellen. Sie bekundet öffentlich, dass sie diese Sendung und diese Lehre von Jesus, ihrem Herrn, erhalten hat. Denen, die sich fragen, ob die Dinge sich wirklich so verhalten, versucht sie zu antworten, indem sie ihren Glauben und ihre Überzeugung zum Ausdruck bringt. Daran zeigt sich die theologische und pastorale Bedeutung der aktuellen Fragen über das Bewusstsein und das menschliche Wissen Jesu.

Bei der Behandlung dieser wichtigen theologischen und pastoralen Fragen ergeben sich in der gegenwärtigen Diskussion vor allem zwei Fragenkomplexe. An erster Stelle ist das Verhältnis zwischen kirchlich-dogmatischer Schriftauslegung und historisch-kritischer Schrift­auslegung zu nennen. Diese schwierigen hermeneutischen Fragen spitzen sich in unserer Frage in besonderer Weise zu. Entsprechend der Lehre des II. Vatikanischen Konzils geht es bei der Auslegung der Heiligen Schrift darum, „sorgfältig zu erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten“ (DV 12). Bei dieser Erforschung der ursprünglichen Aussageabsicht muss man aber auch auf die Einheit der ganzen Schrift achten und sie unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens verstehen (DV 12; vgl. 9 und 10). In diesem umfassenden Sinn will die Kommission bei ihrer Behandlung des Themas entsprechend der Anweisung des Konzils von den biblischen Themen ausgehen. „Denn das Studium der Heiligen Schrift muss die Seele der gesamten Theologie sein“ (OT 16; vgl. DV 24).

Eine zweite, nicht weniger schwierige Frage erhebt sich bei der Behandlung der lebendigen Tradition der Kirche. Da die Kirche und ihre Theologie in der Geschichte leben, müssen sie sich bei der Auslegung des ein für alle Mal überlieferten Glaubens in eigenständiger und kritischer Weise auch der philosophischen Sprache ihrer Zeit bedienen. Die Kontroversen in unserer Frage rühren auch von unterschiedlichen philosophischen Begrifflichkeiten her. Die Kommission will bei ihrer Darlegung nicht a priori von einer bestimmten philosophischen Terminologie ausgehen. Sie geht aus von dem allgemein-menschlichen Vorverständnis, dass wir uns als Menschen in allen unseren Akten in unserem „Herzen“ selbst gegenwärtig sind. Dabei wissen wir, dass das Bewusstsein Jesu teil hat an der Einzigartigkeit und Geheimnishaftigkeit seiner Person und dass es sich deshalb einer rein rationalen Betrachtung entzieht. Wir können die uns gestellte Frage nur im Licht des Glaubens behandeln, für den Jesus der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes ist (Mt 16,16).

Die vier Aussagen mit ihren Kommentaren

Unsere Darlegung beschränkt sich auf einige wichtige Aussagen über das, was Jesus in Bezug auf seine eigene Person und seine Sendung bewusst war. Die vier folgenden Aussagen gehen von dem aus, was der Glaube in Bezug auf Christus immer geglaubt hat. Bewusst gehen sie nicht auf die theologischen Untersuchungen ein, die sich bemühen, diese Glaubensgegebenheit zu reflektieren. Es wird daher im Folgenden nicht von den Versuchen die Rede sein, in theologische Begriffe zu fassen, wie dieses Bewusstsein sich in der Menschheit Christi artikulieren konnte.

Die Kommentare der vier Aussagen folgen im Großen und Ganzen einem dreistufigen Plan. Zuerst werden wir darlegen, was die apostolische Predigt über Christus sagt. Sodann werden wir untersuchen, was die synoptischen Evangelien in der Konvergenz ihrer verschiedenen Linien uns über Jesu eigenes Bewusstsein zu sagen erlauben. Schließlich werden wir das Zeugnis des Johannesevangeliums betrachten, das oft explizit ausdrückt, was die synoptischen Evangelien mehr implizit enthalten, ohne dass ein Widerspruch zwischen ihnen bestünde.

Erste Aussage

Das Leben Jesu gibt Zeugnis vom Bewusstsein seiner Sohnesbeziehung zum Vater. Sein Verhalten und seine Worte sind die vollkommenen „Dieners“ und setzen eine Autorität voraus, die die Autorität der alten Propheten überragt und die Gott allein zukommt. Jesus schöpfte diese unvergleichliche Autorität aus seiner einzigartigen Beziehung zu Gott, den er „mein Vater“ nennt. Er war sich bewusst, der einzige Sohn Gottes und in diesem Sinn selbst Gott zu sein.

Kommentar

1.1 Die nachösterliche apostolische Predigt, die Jesus als Sohn und als Sohn Gottes verkündet, ist nicht das Ergebnis einer späteren Entwicklung in der Urkirche; sie findet sich schon im Herzen der ältesten Formulierungen des Kerygmas, in Glaubensbekenntnissen oder Hymnen (Röm 1,3f.; Phil 2,6ff.). Der heilige Paulus geht so weit, die Gesamtheit seiner Predigt in dem Ausdruck „das Evangelium Gottes von seinem Sohn“ (Röm 1,3.9; vgl. 2 Kor 1,19; Gal 1,16) zusammenzufassen. Besonders charakteristisch in dieser Hinsicht sind auch die „Sendungsformeln“: „Gott hat seinen Sohn gesandt“ (Röm 8,3; Gal 4,4). Die göttliche Sohnschaft Jesu steht also im Mittelpunkt der apostolischen Predigt. Diese kann als eine Auslegung der Beziehung Jesu zu seinem „Abba“ im Lichte des Kreuzes und der Auferstehung verstanden werden.

1.2 Die Bezeichnung Gottes als „Vater“, die schlechthin die unter Christen übliche Art geworden ist, Gott zu benennen, geht auf Jesus selbst zurück: Das ist eines der sichersten Resultate der historischen Jesusforschung. Jesus hat jedoch Gott nicht nur ganz allgemein „Vater“ oder „mein Vater“ genannt: Wenn er sich im Gebet an ihn wendet, dann ruft er ihn unter dem Namen „Abba“ an (Mk 14,36; vgl. Röm 8,15; Gal 4,6). Hier ist etwas ganz Neues. Die Gebetsweise Jesu selbst und die, die er seine Jünger lehrt (Lk 11,2), deuten den Unterschied an – der nach Ostern explizit sein wird (Joh 20,17) – zwischen „meinem Vater“ und „eurem Vater“ und den einzigartigen und nicht übertragbaren Charakter der Beziehung, die Jesus mit Gott vereint. Ehe sein Mysterium den Menschen kund wurde, bestand in der menschlichen Wahrnehmung Jesu in seinem Bewusstsein eine einzigartige und einzigartig tiefe Gewissheit: die seiner Beziehung zum Vater. Die Anrufung Gottes als „Vater“ beinhaltet folglich das Bewusstsein, das Jesus von seiner göttlichen Autorität und seiner Sendung hatte. Nicht ohne Grund findet man in diesem Zusammenhang den Ausdruck „offenbaren“ (Mt 11,27 par.; vgl. Mt 16,17). Jesus ist sich bewusst, der zu sein, der Gott vollkommen kennt; er weiss daher, dass er zugleich der Botschafter der endgültigen Offenbarung Gottes an die Menschen ist. Er ist „der“ Sohn und ist sich bewusst, es zu sein (Mk 12,6; 13,32).

Wegen dieses Selbstverständnisses spricht und handelt Jesus mit einer Autorität, die genau genommen nur Gott gebührt. Die Haltung der Menschen ihm, Jesus, gegenüber entscheidet über deren ewiges Heil (Lk 12,8; Mk 8,38; Mt 10,32). Schon jetzt kann Jesus in seine Nachfolge rufen (Mk 1,17); um ihm zu folgen, muss man ihn mehr lieben als die Angehörigen (Mt 10,37), ihn höher als alle irdischen Güte stellen (Mk 10,29), bereit sein, das eigene Leben „um meinetwillen“ zu verlieren (Mk 8,35). Er spricht als souveräner Gesetzgeber (Mt 5,22.28 usw.), der sich über Propheten und Könige stellt (Mt 12,41f.). Es gibt keine anderen Meister als ihn (Mt 23,8); alles wird vergehen, außer seinem Wort (Mk 13,31).

1.3 Das Johannesevangelium sagt in ausdrücklicherer Form, woher Jesus diese beispiellose Autorität besitzt: weil „der Vater in mir ist und ich im Vater bin“ (Joh 10,38); „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30). Das „Ich“, das hier spricht und in souveräner Weise Gesetze gibt, hat die gleiche Würde wie das „Ich“ Jahwes (Ex 3,14).

Selbst vom historischen Standpunkt aus ist die Annahme völlig berechtigt, dass die ursprüngliche apostolische Verkündigung über Jesus als Sohn und Sohn Gottes auf Jesu eigenem Bewusstsein gründet, der Sohn und Gesandte des Vaters zu sein.

Zweite Aussage

Jesus kannte das Ziel seiner Sendung: das Reich Gottes zu verkünden und es in seiner Person, in seinen Handlungen und Worten bereits gegenwärtig werden zu lassen, damit die Welt mit Gott versöhnt und erneuert werde. Frei hat er den Willen des Vaters sich zu Eigen gemacht: sein Leben für das Heil aller Menschen hinzugeben; er wusste sich vom Vater gesandt, um zu dienen und sein Leben „für die vielen“ hinzugeben (Mk 14,24).

Kommentar

2.1 Die apostolische Predigt über die Gottessohnschaft Christi beinhaltet gleicherweise und untrennbar eine soteriologische Bedeutung. Die Aussendung und Ankunft Jesu im Fleische (Röm 8,3), unter dem Gesetz (Gal 4,4), seine Erniedrigung (Phil 2,7) haben ja unsere Wiederaufrichtung zum Ziel: sie wollen uns gerecht machen (2 Kor 5,21), uns reich machen (2 Kor 8,9) und aus uns durch den Heiligen Geist Söhne und Töchter machen (Röm 8,15f.; Gal 4,5f.; Hebr 2,10). Eine solche Teilhabe an der Gottessohnschaft Jesu, die sich im lebendigen Glauben verwirklicht und in besonderer Weise im Gebet der Christen zum Vater ausgedrückt wird, setzt Jesu eigenes Sohnesbewusstsein voraus. Die gesamte apostolische Predigt beruht auf der Überzeugung und dem festen Glauben, dass Jesus wusste, dass er der Sohn war, der Gesandte des Vaters. Ohne ein solches Bewusstsein Jesu wäre nicht nur die Christologie, sondern auch die gesamte Soteriologie ohne Grundlage.

2.2 Das Bewusstsein Jesu von seiner einzigartigen Sohnesbeziehung zu „seinem Vater“ ist die Grundlage und die Voraussetzung seiner Sendung. Umgekehrt kann man von seiner Sendung auf sein Bewusstsein schließen. Nach den synoptischen Evangelien weiß Jesus sich gesandt, die Frohe Botschaft vom Reiche Gottes zu verkünden (Lk 4,43; Mt 15,24). Dafür ist er „ausgezogen“ (Mk 1,38) und gekommen (Mk 2,17 u.a.).

Seine Sendung für die Menschen lässt zu gleicher Zeit den aufscheinen, dessen Gesandter er ist (Lk 10,16). Durch Zeichen und Worte hat Jesus das Ziel seines „Kommens“ kundgetan: er will die Sünder rufen (Mk 2,17), „suchen und retten, was verloren ist“ (Lk 19,10); das Gesetz nicht aufheben, sondern es erfüllen (Mt 5,17), das Schwert der Entzweiung bringen (Mt 10,34), Feuer auf die Erde werfen (Lk 12,49). Jesus weiß sich „gekommen“, „nicht um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45)[8].

2.3 Dieses „Kommen“ kann keinen anderen Ursprung haben als Gott. Das Johannesevangelium sagt dies klar, indem es in seiner „Sendungschristologie“ die bei den Synoptikern eher impliziten Zeugnisse über das Bewusstsein Jesu von seiner unvergleichlichen Sendung explizit formuliert: Er weiß, dass er vom Vater „gekommen“ (Joh 5,43), von ihm ausgegangen ist (Joh 8,42; 16,28). Seine vom Vater empfangene Sendung ist ihm nicht von außen her auferlegt worden; sie ist ihm so sehr zu Eigen, dass sein ganzes Sein mit ihr übereinstimmt: Sie ist sein ganzes Leben (Joh 6,57), seine Speise (Joh 4,43), er sucht nichts als sie (Joh 5,30), denn der Wille dessen, der ihn gesandt hat, ist ganz sein Wille (Joh 6,38), seine Worte sind die Worte seines Vaters (Joh 9,4), so dass er von sich selbst sagen kann: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Joh 14,9). Das Bewusstsein, das Jesus von sich selbst hat, stimmt mit dem Bewusstsein seiner Sendung völlig überein. Dies geht wesentlich weiter als das Bewusstsein einer prophetischen Sendung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt empfangen wurde, sei es auch „vom Mutterschosse an“ (Jeremias: Jer 1,5; Johannes der Täufer: Lk 1,15; Paulus: Gal 1,15). Diese Sendung ist vielmehr in einem aus Gott stammenden „Ausgang“ verwurzelt („denn von Gott bin ich ausgegangen“, Joh 8,42). Das setzt als Bedingung der Möglichkeit voraus, dass er „von Anfang an“ bei Gott war (Joh 1,1.18).

2.4 Das Bewusstsein, das Jesus von seiner Sendung hat, beinhaltet daher das Bewusstsein seiner „Präexistenz“. Denn die (zeitliche) Sendung ist wesenhaft nichts anderes als der (ewige) Hervorgang, dem sie nichts als eine zeitliche Auswirkung hinzufügt[9]. Das menschliche Bewusstsein seiner Sendung „übersetzt“ sozusagen die ewige Beziehung zum Vater in die Sprache eines menschlichen Lebens.

Diese Beziehung des fleischgewordenen Sohnes zum Vater setzt in erster Linie die Vermittlung des Heiligen Geistes voraus. Der Geist muss daher in Jesu Sohnesbewusstsein inbegriffen sein. Schon seine menschliche Existenz ist das Ergebnis eines Wirkens des Geistes; seit der Taufe Jesu vollzieht sich sein ganzes Tun – sei es nun Aktion oder Passion unter den Menschen oder Gebetsvereinigung mit dem Vater – nur in und durch den Geist (Lk 4,18; Apg 10,38; Mk 1,12; Mt 12,28). Der Sohn weiss, dass in der Erfüllung des Willens des Vaters der Geist ihn leitet und hält, bis hin zum Kreuz. Seine irdische Sendung ist dort vollendet, er „übergibt“ (paredoken) „seinen Atem“ (pneuma) (Joh 19,30), in dem manche eine Anspielung auf die Gabe des Geistes sehen. Von seiner Auferstehung und Himmelfahrt an wird er als verherrlichter Mensch das, was er von Ewigkeit her als Gott gewesen ist, „lebendigmachender Geist“ (1 Kor 15,45; 2 Kor 3,17), Herr, in dessen Macht es steht, souverän den Heiligen Geist auszuspenden, um uns in ihm zur Würde von Söhnen und Töchtern zu erheben.

Diese Beziehung des fleischgewordenen Sohnes zum Vater drückt sich jedoch gleichzeitig in kenotischer Weise aus[10]. Um den vollkommenen Gehorsam verwirklichen zu können, entsagt Jesus in freiem Wollen (Phil 2,6–9) allem, was diese Haltung beeinträchtigen könnte. Er will sich nicht der Legionen von Engeln bedienen, die er haben könnte (Mt 26,52), er will wie ein Mensch zunehmen „an Weisheit, an Alter und an Gnade“ (Lk 2,52), den Gehorsam erlernen (Hebr 5,8), die Versuchungen ertragen (Mt 4,1–11 par.), leiden. Das ist nicht unvereinbar mit den Aussagen, dass Jesus „alles weiß“ (Joh 16,30), dass „der Vater ihm alles zeigt, was er tut“ (Joh 5,20; vgl. 13,3; Mt 11,27), vorausgesetzt, diese Aussagen werden so verstanden, dass Jesus von seinem Vater alles erhält, was es ihm ermöglicht, sein Werk der Offenbarung und der allumfassenden Erlösung zu verwirklichen (Joh 3,11.32; 8,38.40; 15,15; 17,8).

Dritte Aussage

Um seine heilbringende Sendung zu verwirklichen, wollte Jesus die Menschen im Hinblick auf das Reich sammeln und in seine Nähe rufen. Aus dieser Absicht heraus hat Jesus konkrete Akte gesetzt, deren einzig mögliche Interpretation – in ihrer Gesamtheit gesehen – die Vorbereitung der Kirche ist, die im Oster- und Pfingstereignis endgültig gegründet wird. Notwendigerweise ist daher zu sagen, Jesus habe die Kirche gründen wollen.

Kommentar

3.1 Nach dem apostolischen Zeugnis ist die Kirche von Christus nicht zu trennen. Nach einer geläufigen Formulierung des heiligen Paulus sind die Kirchen „in Christus“ (1 Thess 1,1; 2,14; 2 Thess 1,1; Gal 1,22), sie sind „die Kirchen Christi“ (Röm 16,16). Christ sein bedeutet, dass „Christus in euch“ ist (Röm 8,20; 2 Kor 13,5), es ist „das Leben in Christus Jesus“ (Röm 8,2): „Ihr alle seid ‚einer‘ in Christus“ (Gal 3,28). Diese Einheit drückt sich vor allem in der Analogie der Einheit des menschlichen Leibes aus. Der Heilige Geist stiftet die Einheit dieses Leibes: Leib Christi (1 Kor 12,27) oder „in Christus“ (Röm 12,5) und sogar „Christus“ (1 Kor 12,12). Der himmlische Christus ist das Prinzip des Lebens und des Wachstums der Kirche (Kol 2,19; Eph 4,11–16), er ist „das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18; 3,15 u.a.), die „Fülle“ (Eph 1,22f.) der Kirche.

Diese untrennbare Einheit Christi mit seiner Kirche wurzelt in der höchsten Tat seines irdischen Lebens: in der Hingabe seines Lebens am Kreuz. Weil er sie geliebt hat, „hat er sich für sie hingegeben“ (Eph 5,25), denn „er wollte sie herrlich vor sich erscheinen lassen“ (Eph 5,27; vgl. Kol 1,22). Die Kirche, der Leib Christi, hat ihren Ursprung in dem am Kreuze hingegebenen Leib, im „kostbaren Blut“ (1 Petr 1,19) Christi, das „der Preis für unsere Erlösung“ ist (1 Kor 6,20). Für die apostolische Predigt ist die Kirche das eigentliche Ziel des Heilswerkes, das Christus während seines irdischen Lebens verwirklicht hat.

3.2 Wenn Jesus das Reich Gottes predigt, verkündet er nicht einfach das unmittelbare Bevorstehen des großen eschatologischen Umbruchs; er lädt zuerst die Menschen ein, in das Reich einzutreten. Keim und Beginn des Reiches ist die „kleine Herde“ (Lk 12,32) derer, die Jesus zu sich zu rufen gekommen ist und deren Hirte er selber ist (Mk 14,27 par.; Joh 10,1–29; Mt 10,16 par.), er, der gekommen ist, seine Schafe zu sammeln und zu befreien (Mt 15,24; Lk 15,4–7). Jesus spricht von dieser Sammlung im Bilde der Hochzeitsgäste (Mk 2,19 par.), der Pflanzung Gottes (Mt 13,24; 15,13), des Fischernetzes (Mt 13,47; Mk 1,17). Die Jünger Jesu bilden die weithin sichtbare Stadt auf dem Berge (Mt 5,14), sie sind die neue Familie, in der Gott selbst der Vater ist und wo alle Brüder sind (Mt 23,9); sie sind die wahre Familie Jesu (Mk 3,34 par.). Die Gleichnisse Jesu und die Bilder, derer er sich bedient, um von denen zu sprechen, die er zu rufen gekommen ist, enthalten eine „implizite Ekklesiologie“.

Damit wird nicht behauptet, diese Absicht Jesu beinhalte einen ausdrücklichen Willen, die ganze Vielfalt der Einrichtungen der Kirche zu gründen und zu einzusetzen, so wie sie sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt haben[11]. Es ist hingegen notwendig festzuhalten, dass Jesus die Gemeinschaft, die er um sich gesammelt hat, mit einer Struktur versehen wollte, die bis zur endgültigen Vollendung des Reiches bestehen bleiben wird. Hier ist zunächst die Wahl der Zwölf mit Petrus als ihrem Haupt zu erwähnen (Mk 3,14ff.). Diese ganz bewusst vollzogene Wahl zielt auf die endzeitliche Wiederherstellung des Gottesvolkes hin, das allen Menschen offen stehen wird (Mt 8,11f.). Die Zwölf (Mk 6,7) und die anderen Jünger (Lk 10,1ff.) haben Anteil an der Sendung Christi, an seiner Macht, aber auch an seinem Geschick (Mt 10,25; Joh 15,20). In ihnen kommt Jesus selbst, und in ihm ist der gegenwärtig, der ihn gesandt hat (Mt 10,40).

Die Kirche wird auch ihr eigenes Gebet haben: das Gebet, das Jesus ihr gegeben hat (Lk 11,2–4); sie empfängt vor allem das Gedächtnis des Abendmahls, das der Mittelpunkt des „Neuen Bundes“ (Lk 22,20) und der neuen, im Brotbrechen versammelten Gemeinde ist (Lk 22,19). Die Jesus um sich versammelt hat, hat er auch über eine neue „Weise zu handeln“ belehrt, die von der der Alten (Mt 5,21 usw.), der Heiden (vgl. Mt 5,47), der Grossen dieser Welt (Lk 22,25f.) verschieden ist.

Hat Jesus die Kirche gründen wollen? Ja, doch ist diese Kirche das Volk Gottes, das er zunächst aus Israel sammelt, durch das er das Heil aller Völker wirken will; denn er weiss sich zunächst „zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 10,6; 15,24) gesandt, zu ihnen schickt er auch seine Jünger. Das Bewusstsein Jesu von seiner Gottheit und seiner Sendung kommt besonders ergreifend zum Ausdruck in diesem Klageruf (der Klage Gottes über Israel!): „Jerusalem, Jerusalem, [...] wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber ihr habt nicht gewollt!“ (Lk 13,34; vgl. 19,41–44). Im Alten Testament ist es ja Gott (Jahwe), der unermüdlich die Kinder Israels zu einem Volke, seinem Volk, zu sammeln trachtet. Dieses „Ihr habt nicht gewollt“ ändert zwar nicht die Absicht, wohl aber den Weg, den die Sammlung aller Menschen um Jesus nehmen wird. Von nun an wird die Ecclesia Christi vor allem durch „die Zeit der Heiden“ (Lk 21,24; vgl. Röm 11,1–6) gekennzeichnet sein.

Christus wusste um seine heilbringende Sendung. Diese beinhaltet die Gründung seiner Ecclesia, das heißt die Berufung aller Menschen zur „Familie Gottes“. Die Geschichte des Christentums beruht letztlich auf der Absicht und dem Willen Jesu, seine Kirche zu gründen.

3.3 Im Lichte des Geistes sieht das Evangelium des heiligen Johannes das ganze irdische Leben Christi wie von der Herrlichkeit des Auferstandenen durchstrahlt. So richtet sich der Blick über den Kreis der Jünger Jesu hinaus schon auf all jene, die „durch ihr Wort an mich glauben“ (Joh 17,20). Die während seines irdischen Lebens mit ihm waren, die der Vater ihm gegeben (Joh 17,6), die er bewahrt und für die er sich selbst „geheiligt“ (Joh 17,19) hatte, indem er sein Leben dahingab, sie stellen bereits die Gesamtheit der Gläubigen dar, all jene, die ihn aufnehmen (Joh 1,12) und an ihn glauben (Joh 3,36) werden. Durch den Glauben sind sie mit ihm eins wie die Reben mit dem Weinstock, ohne den sie vertrocknen (Joh 15,6). Diese innige Verbindung Jesu mit den Gläubigen („ihr in mir und ich in euch“, Joh 14,20) hat einerseits ihren Ursprung im Ratschluss des Vaters, der Jesus die Jünger „gibt“ (Joh 6,39.44.65); sie wird aber letztlich wirklich durch die freie Hingabe seines Lebens (Joh 10,18) „für seine Freunde“ (Joh 15,3). Das österliche Mysterium bleibt der Ursprung der Kirche (Joh 19,34): „Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen“ (Joh 12,32).

Vierte Aussage

Das Bewusstsein Christi, vom Vater gesandt zu sein für das Heil der Welt und für die Berufung aller Menschen zum Volk Gottes, beinhaltet auf geheimnisvolle Weise die Liebe zu allen Menschen, so dass wir alle sagen können: „Der Sohn Gottes hat mich geliebt und sich für mich hingegeben“ (Gal 2,20; vgl. GS 22).

Kommentar

4.1 Die apostolische Predigt beinhaltet von ihren ersten Formulierungen an die Überzeugung, dass „Christus für unsere Sünden gestorben ist, gemäß der Schrift“ (1 Kor 15,3), dass er „sich für unsere Sünden hingegeben hat“ (Gal 1,4), und dies in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes des Vaters, der ihn „wegen unserer Verfehlungen hingegeben hat“ (Röm 4,25; vgl. Jes 53,6), „für uns alle“ (Röm 8,32), „um uns freizukaufen“ (Gal 4,5). Gott, der „will, dass alle Menschen gerettet werden“ (1 Tim 2,4), schließt niemanden von seinem Heilsplan aus, den Christus mit seinem ganzen Sein umfängt. Das ganze Leben Christi, von seinem „Eintritt in die Welt“ (Hebr 10,5) bis zur Hingabe seines Lebens, ist eine einzige und einzigartige Gabe „für uns“: Von Anfang an hat die Kirche das gepredigt (Röm 5,8; 1 Thess 5,10; 2 Kor 5,15; 1 Petr 2,21; 3,18 u.a.).

Wenn er für uns gestorben ist, dann weil er uns geliebt hat: „Christus hat uns geliebt und hat sich als Opfer für uns hingegeben“ (Eph 5,2). Dieses „uns“ umfasst alle Menschen, die er in seiner Kirche zusammenführen will: „Christus hat die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben“ (Eph 5,25). Diese Liebe hat die Kirche nicht nur als eine allgemeine Haltung verstanden, sondern als eine so konkrete Liebe, dass jeder persönlich gemeint ist. So sieht die Kirche die Dinge, wenn sie den heiligen Paulus hört, der zur Rücksicht auf die „Schwachen“ ermahnt: „Lass nicht eine Speise die Ursache dafür sein, dass der verloren geht, für den Christus gestorben ist“ (Röm 14,15; vgl. 1 Kor 8,11; 2 Kor 5,14f.). Den in Parteien zerrissenen Christen von Korinth stellt der gleiche Paulus die Frage: „Ist denn Christus zerteilt? Wurde etwa Paulus für euch gekreuzigt?“ (1 Kor 1,13); und obwohl er Jesus „in den Tagen seines Fleisches“ (Hebr 5,7) nicht gekannt hat, kann Paulus von sich selber sagen: „Ich lebe im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“ (Gal 2,20).

4.2 Die eben genannten apostolischen Zeugnisse für ein Sterben Jesu aus Liebe ganz persönlich „für uns“, „für mich“ und meine „Brüder“, umgreifen in einem Blick die grenzenlose Liebe des präexistenten „Sohnes Gottes“ (Gal 2,20), der zugleich als der erhöhte „Herr“ gewusst wird (Gal 1,3f.). Jesu liebendes „pro nobis“ gründet also in der Präexistenz und hält sich durch bis in die Liebe des Verherrlichten, der jetzt „für uns eintritt“ (Röm 8,34) als der, der „uns geliebt hat“ (Röm 8,37) in seiner Menschwerdung und in seinem Tod. Jesu „proexistente“ Liebe ist das Kontinuum, das den Sohn in allen drei „Stadien“ (Präexistenz, irdisches Leben, verherrlichte Existenz) charakterisiert.

Dieses Kontinuum seiner Liebe kommt in Jesu Worten zur Sprache. Nach Lk 22,27 versteht Jesus sein gesamtes irdisches Leben und Verhalten unter dem Bilde dessen, „der bei Tische dient“. „Diener aller sein“ (Mk 9,35 par.), das ist die Grundregel im Kreis der Jünger. Jesu dienende Liebe erreicht ihren Höhepunkt beim Abschiedsmahl, bei dem er sich selbst dahingibt als der, der sterben wird (Lk 22,19f. par.). Am Kreuz wird sein dienendes Leben vollends zum dienenden Sterben „für die vielen“ (Mk 10,45; vgl. 14,22–24). Jesu Dienst in seinem Leben und seinem Tode war gleicherweise letztlich Dienst am „Reich Gottes“ in Worten und Taten, so sehr, dass er sogar sein Leben und Wirken in der zukünftigen Herrlichkeit weiterhin als einen „Tischdienst“ (Lk 12,37) und als „Eintreten für...“ (Röm 8,34) bezeichnen kann. Dieser Dienst war Liebesdienst, der radikale Gottesliebe und selbstlose Nächstenliebe verband (Mk 12,28–34).

Diese Liebe, von der das ganze Leben Jesu Zeugnis gibt, erscheint uns vor allem als allumfassend in dem Sinne, dass sie keinen ausschließt, der zu ihm kommt. Diese Liebe sucht, was verloren war (Lk 15,3–10.11–32), die Zöllner und Sünder (Mk 2,15; Lk 7,34.36–50; Mt 9,1–8; Lk 15,1f.), die Reichen (Lk 19,1–10) und die Armen (Lk 16,19–31), die Männer und die Frauen (Lk 8,2–3; 7,11–17; 13,10–17), die Kranken (Mk 1,29–34 u.a.), die Besessenen (Mk 1,21–28 u.a.), die Weinenden (Lk 6,21) und die, die unter ihren Lasten gebeugt sind (Mt 11,28). Diese Offenheit des Herzens Jesu für alle zielt weit über die Grenzen seiner Generation hinaus. Dies zeigt sich in der „Universalisierung“ seiner Sendung, seiner Verheißungen. Die Seligpreisungen sprengen den Rahmen seiner unmittelbaren Zuhörer, sie gelten allen Armen, allen Hungernden (Lk 6,20f.). Jesus identifiziert sich mit den Kleinen und Armen (Mk 10,13–16): Wer eines dieser Kleinen aufnimmt, nimmt Jesus selber auf, und in ihm nimmt er den auf, der ihn gesandt hat (Mk 9,37). Erst beim Jüngsten Gericht wird offenbar werden, wie weit diese jetzt noch verborgene Identifizierung gehen konnte (Mt 25,31–46).

4.3 Im Herzen unseres Glaubens liegt dieses Geheimnis: der Einschluss aller Menschen in die ewige Liebe, mit der Gott die Welt so sehr geliebt hat, dass er seinen eigenen Sohn dahingab (Joh 3,16). „Daran haben wir die Liebe erkannt, dass er [Christus] sein Leben für uns hingegeben hat“ (1 Joh 3,16): Denn „der gute Hirt gibt sein Leben hin für seine Schafe“ (Joh 10,11); er kennt sie (Joh 10,14) und ruft jedes bei seinem Namen (Joh 10,3).

4.4 Weil sie diese persönliche Liebe Christi zu jedem Einzelnen erkannt haben, haben sich so viele Christen ohne Unterschied der Person auf die Liebe zu den Ärmsten eingelassen, und sie geben weiterhin Zeugnis von dieser Liebe, die in jedem „der geringsten meiner Brüder“ Jesus zu sehen vermag (Mt 25,40). „Jeder einzelne Mensch ist gemeint; denn jeder ist vom Geheimnis der Erlösung betroffen, mit jedem ist Christus für immer durch dieses Geheimnis verbunden“.[12]

 



[1] Die ITK spricht der Päpstlichen Bibelkommission ihren Dank für die Zusammenarbeit aus, die beide gemeinschaftlich verwirklichen konnten. Bekannt ist das wertvolle Werk: Commission Biblique Pontificale, Bible et Christologie, Paris 1984. Vorwort von Henri Cazelles, 294 S.

[2] In diesen Zeiten des Verdachts kann man nicht explizit genug sein. Halten wir fest: Es hat drei Texte und drei Abstimmungen gegeben. Der erste Text wurde während der Plenarversammlung im Oktober studiert und abgestimmt. Ein zweiter, revidierter Text wurde von der Subkommission erarbeitet und einer zweiten schriftlichen Abstimmung unterbreitet (November 1985). Nachdem die modi und Ratschläge eingeholt waren, wurde eine dritte Fassung erstellt. Sie wurde unmittelbar nach der Synode (8. Dezember 1985) zur dritten Abstimmung vorgelegt. Diese dritte Fassung veröffentlichen wir hier, nachdem sie in schriftlicher Abstimmung quasi einstimmig von den Mitgliedern der ITK angenommen wurde und das Placet von Kardinal Ratzinger, dem Präsidenten der ITK, erhalten hat.

[3] Vgl. Internationale Theologische Kommission, Ausgewählte Fragen zur Christologie; Theologie, Christologie, Anthropologie.

[4] Vgl. Internationale Theologische Kommission, Ausgewählte Fragen zur Christologie III, D, 6, 1.

[5] Vgl. Internationale Theologische Kommission, Theologie, Christologie, Antropologie II, 1.

[6] Internationale Theologische Kommission, Ausgewählte Fragen zur Christologie II, C, 7.

[7] Damals ging es um die Frage, ob Jesus Christus ein volles Menschsein hatte. Eine treffliche Antwort findet sich beim heiligen Gregor von Nazianz (Epistula ad Cledonium [SC 208, 51; PG 37,181]), der es für Wahnsinn hielt, auf jemanden seine Hoffnung zu setzen, der der menschlichen Vernunft ermangelte.

[8] Vgl. Internationale Theologische Kommission, Ausgewählte Fragen zur Christologie IV, B–C.

[9] Thomas von Aquin, Sent. I, dist. XV, 4, 1, sol. (ed. R. P. Mandonet, t. 1, 350–352); Ders., S.th. I, 43, 2, ad 2 (ed. Leon., t. IV, 446; Deutsche Thomas-Ausgabe 3, Salzburg-Leipzig 1939, 317).

[10] Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Bibel und Christologie, Nr. 2.2.1.3, hg. v. Paul-Gerhard Müller, Stuttgart 1987, 123–125.

[11] Vgl. Internationale Theologische Kommission, Ausgewählte Themen der Ekklesiologie zum 20. Jahrestag nach Abschluss des II. Vatikanischen Konzils.

[12] Johannes Paul II., Redemptor hominis 13 (AAS 1, 1979, 283); vgl. GS 22.

 

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