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PÄPSTLICHE LATERAN-UNIVERSITÄT
SYMPOSIUM: "JOHANNES PAUL II. - 25 JAHRE PONTIFIKAT"

DAS LEHRAMT JOHANNES PAULS II. IN SEINEN 14 ENZYKLIKEN

ANSPRACHE VON KARD. JOSEPH RATZINGER

Freitag, 9. Mai 2003

 

Über die 14 Enzykliken unseres Heiligen Vaters in einer halben Stunde sprechen zu wollen, ist absurd. Jede einzelne müßte ausführlich bedacht werden, damit man dann versuchen könnte, das Gefüge des Ganzen zu verstehen, die thematischen Schwerpunkte und die Richtung ihrer Weisung zu sehen. In einer halben Stunde ist nur ein ganz grober und oberflächlicher Blick möglich; die Auswahl der Akzente bleibt notwendig einseitig und könnte auch durchaus anders erfolgen. Überdies müßte man bei einer Gesamtwürdigung auch die verschiedenen anderen Lehrschreiben des Papstes einbeziehen, die oft von nicht geringem Gewicht sind und zur Ganzheit der Lehraussagen des Heiligen Vaters unbedingt hinzugehören.

Dies alles vorausgeschickt, sind nun zunächst die Enzykliken in Gruppen verwandter Thematik einzuteilen. Da ist zunächst das in den Jahren 1979–1986 gewachsene trinitarische Triptychon zu nennen, das aus den Enzykliken Redemptor hominis, Dives in misericordia und Dominum et vivificantem besteht. Über die Zeitspanne von zehn Jahren (1981–1991) zieht sich das Werden der drei Sozial-Enzykliken – Laborem exercens, Sollicitudo rei socialis, Centesimus annus – hin. Dann gibt es Enzykliken mit ekklesiologischer Thematik: Slavorum apostoli (1985), Redemptoris missio (1990), Ut unum sint (1995). Dem ekklesiologischen Bereich darf man auch die bisher letzte Enzyklika des Papstes Ecclesia de Eucharistia (2003) zurechnen und in gewisser Hinsicht auch die marianische Enzyklika Redemptoris Mater (1987): Schon in seiner ersten Enzyklika hatte der Papst die Themen Mutter Kirche und Mutter der Kirche eng miteinander verknüpft und zugleich ins Geschichtstheologische und Pneumatologische ausgeweitet: »Ich bitte vor allem Maria, die himmlische Mutter der Kirche, sie möchte während dieses Gebetes im neuen Advent der Menschheit bei uns bleiben, die wir die Kirche bilden, den Mystischen Leib ihres eingeborenen Sohnes. Ich möchte, daß wir dank eines solchen Gebetes den Heiligen Geist aus der Höhe empfangen können und so Zeugen Christi werden ›bis ans Ende der Erde‹ÂÂ…« (Nr. 22). In der Mariologie treffen für den Papst alle großen Themen des Glaubens zusammen; keine Enzyklika schließt ohne einen Hinblick auf die Mutter des Herrn. Schließlich bleiben da drei große Lehrtexte, die wir dem anthropologischen Bereich zuordnen dürfen: Veritatis splendor (1993), Evangelium vitae (1995) und Fides et ratio (1998).

Die erste Enzyklika Redemptor hominis ist die persönlichste, der Ausgangspunkt aller weiteren Enzykliken. Es wäre leicht zu zeigen, daß alle künftigen Themen hier schon angeschlagen sind: Das Thema Wahrheit, der Zusammenhang von Wahrheit und Freiheit, wird in seinem ganzen Ernst angesprochen inmitten einer Welt, die Freiheit will, aber Wahrheit als Anmaßung und Gegensatz zur Freiheit betrachtet. Die ökumenische Leidenschaft des Papstes meldet sich schon in diesem ersten großen Lehrtext zu Worte. Die großen Akzente der Eucharistie-Enzyklika – Eucharistie und Opfer, Opfer und Erlösung, Eucharistie und Buße: All das wird hier schon in großen Linien dargestellt. Der Imperativ »tötet nicht« – das große Thema von Evangelium vitae – wird laut in die Welt hineingerufen. Mit dem marianischen Thema ist die für den Papst kennzeichnende Orientierung auf die Zukunft des Christentums hin verknüpft, wie wir schon sahen. Die Bindung der Kirche an Christus ist für den Heiligen Vater nicht Bindung an Vergangenheit, Orientierung nach rückwärts, sondern gerade Verbindung mit dem, der Zukunft ist und Zukunft gibt und die Kirche auffordert, sich einer neuen Periode des Glaubens zu öffnen. Man spürt die persönliche Betroffenheit, die Hoffnung, aber auch das innere Drängen des Papstes, daß der Herr uns doch neu Gegenwart des Glaubens und des erfüllten Lebens, ein neues Pfingsten, schenken möge, wenn aus ihm die Bitte geradezu explosiv hervorbricht: »Die Kirche unserer Zeit scheint mit immer größerem Eifer inständig und beharrlich zu wiederholen ›Komm, Heiliger Geist!‹ Komm! Komm!« (Nr. 18).

All diese Themen, die – wie schon gesagt – das ganze Lehrwerk des Papstes vorwegnehmen, sind von einer Vision zusammengehalten, die wir wenigstens in ihrer wesentlichen Richtung versuchen müssen, zu erkennen. In den Exerzitien, die der Krakauer Kardinal 1976 für Paul VI. und die Römische Kurie gehalten hatte, erzählt er, wie die katholischen Intellektuellen Polens in den ersten Nachkriegsjahren zunächst dem nun offiziell gewordenen marxistischen Materialismus entgegen den Absolutheitscharakter der Materie zu widerlegen versuchten. Aber sehr bald verlagerte sich das Zentrum des Disputs: Es ging nicht mehr um die philosophischen Grundlagen der Naturwissenschaft (auch wenn das Thema immer seine Bedeutung behält), sondern um die Anthropologie: Wer ist der Mensch? – das war die Frage. Diese Anthropologie ist nicht einfach eine philosophische Theorie des Menschen, sondern sie hat existentiellen Charakter. Ihr verborgenes Thema ist die Frage der Erlösung. Wie kann der Mensch leben? Wer hat die Antwort auf die Frage nach dem Menschen – diese ganz praktische Frage: Kann der Materialismus, der Marxismus uns das Leben lehren oder das Christentum? So ist die anthropologische Frage eine wissenschaftliche und rationale, aber zugleich eine ganz pastorale Frage: Wie können wir den Menschen den Weg zum Leben zeigen und auch den Nichtglaubenden sichtbar machen, daß wir seine Fragen teilen und daß Petrus angesichts des menschlichen Dilemmas von heute wie von damals Recht hat, wenn er zum Herrn sagt: »Herr, zu wem sollen wir gehen? Du allein hast Worte des ewigen Lebens« (Joh 6,68). Philosophie, Pastoral und Glaube der Kirche verschmelzen in diesem anthropologischen Ringen.

Johannes Paul II. hat in seiner ersten Enzyklika sozusagen den Ertrag seines bisherigen Weges als Hirte der Kirche und als Denker unserer Zeit zusammengefaßt. Seine erste Enzyklika kreist um die Frage nach dem Menschen. Beinahe zum Schlagwort geworden ist der Satz: Der Mensch »ist der erste und grundlegende Weg der Kirche« (Nr. 14). Aber man hat beim Zitieren dieses Wortes allzu häufig vergessen, daß der Papst kurz vorher formuliert hatte: »Jesus Christus ist der Hauptweg der Kirche. Er ist unser Weg zum ›Haus des Vaters‹ (vgl. Joh 14,1 ff.), und er ist auch der Zugang zu jedem Menschen« (Nr. 13). Demgemäß fährt auch die Formel vom Menschen als ersten Weg der Kirche sofort weiter: »ÂÂ…ein Weg, der von Christus selbst vorgezeichnet ist und unabänderlich durch das Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung führt« (Nr. 14). Anthropologie und Christologie sind für den Papst untrennbar. Wer der Mensch ist und wohin er gehen muß, um das Leben zu finden – das eben ist in Christus erschienen. Dieser Christus ist nicht bloß ein Schaubild menschlicher Existenz – ein Beispiel, wie man leben soll –, sondern er ist »jedem Menschen in gewisser Weise geeint« (Nr. 13). Er rührt uns an der Wurzel unserer Existenz von innen her an und wird so dem Menschen von innen her zum Weg. Er bricht die Isolation des Ich auf; er ist die Garantie der unzerstörbaren Würde jedes einzelnen und zugleich der Überwinder der Vereinzelung in eine Kommunikation, nach der das ganze Wesen des Menschen Ausschau hält.

Anthropozentrik ist beim Papst zugleich Christozentrik und umgekehrt. Gegenüber der Meinung, was der Mensch sei, könne nur aus den primitiven Formen des Menschseins sozusagen von unten her erklärt werden, ist der Papst der Überzeugung, daß das, was der Mensch ist, nur vom vollkommenen Menschen her erfaßt werden kann und daß von dort her der Weg des Menschseins zu erkennen ist. Er hätte sich dafür auf Teilhard de Chardin berufen können, der einmal so formuliert hat: »Die wissenschaftliche Lösung des menschlichen Problems bietet keineswegs ausschließlich das ausschließliche Studium der Fossilien, sondern eine aufmerksame Betrachtung der Eigenschaften und Möglichkeiten des Menschen von heute, die den Menschen von morgen bestimmen werden.« Johannes Paul II. geht freilich über diese Diagnose hinaus: Wer der Mensch ist, können wir letztlich nur an dem ablesen, der ganz das Wesen des Menschseins erfüllt: Gottes Ebenbild zu sein, ja, der Gottes eigener Sohn ist, Gott von Gott und Licht vom Licht. So entspricht es der inneren Richtung der ersten Enzyklika, daß sie im Fortgang des päpstlichen Lehramtes mit zwei anderen Enzykliken zu einem trinitarischen Triptychon zusammengewachsen ist. Die Frage nach dem Menschen ist von der Frage nach Gott nicht zu trennen. Die These Guardinis, daß den Menschen nur kennt, wer Gott kennt, findet in dieser Einschmelzung der Anthropologie in die Gottesfrage eine klare Bestätigung.

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die beiden anderen Tafeln des trinitarischen Triptychons! Das Thema Gott-Vater erscheint zunächst sozusagen verhüllt unter dem Titel Dives in misericordia. Man darf wohl annehmen, daß der Papst den Impuls zu dieser Thematik aus der Frömmigkeit der Krakauer Nonne Faustyna Kowalska empfangen hat, die er später zur Ehre der Altäre erhoben hat: Das Erbarmen Gottes in die Mitte christlichen Glaubens und Lebens zu stellen war das große Anliegen dieser heiligen Frau gewesen. Sie hat damit die Neuheit des Christlichen auf eine gerade für unsere Zeit mit der Erbarmungslosigkeit ihrer Ideologien aus der Kraft ihres geistlichen Lebens neu zum Leuchten gebracht. Man braucht sich dabei nur daran zu erinnern, daß Seneca – ein dem Christentum in mancher Hinsicht recht nahekommender Denker der römischen Welt – einmal formuliert hat: »Mitleid ist eine Schwäche, eine Krankheit.« 1000 Jahre später hat Bernhard von Clairvaux aus dem Geist der Väter heraus die wunderbare Formel gefunden: »Gott kann nicht leiden, aber er kann mit-leiden.« Ich finde es wunderbar, daß der Papst seine Enzyklika über Gott den Vater unter das Thema des göttlichen Erbarmens gestellt hat. Die erste Überschrift der Enzyklika lautet: Wer mich sieht, sieht den Vater (Joh 14,9). Christus sehen heißt den erbarmenden Gott sehen. Großartig ist an dieser Enzyklika die über drei Seiten sich hinziehende Anmerkung über die biblische Terminologie des göttlichen Erbarmens im Alten Testament, in der auch das Wort rahamin erläutert wird, das von dem Wort rehem (Mutterschoß) herkommt und dem Erbarmen Gottes die Züge der mütterlichen Liebe einzeichnet. Der andere Höhepunkt der Enzyklika ist ihre tiefsinnige Auslegung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, in der das Bild des Vaters in seiner ganzen Größe und Schönheit aufleuchtet.

Nur noch ein kurzes Wort zur Enzyklika über den Heiligen Geist, in der sich das Thema Wahrheit und Gewissen ausdrücklich zu Wort meldet. Als die eigentliche Gabe des Heiligen Geistes sieht der Papst »das Geschenk der Wahrheit des Gewissens und das Geschenk der Gewißheit der Erlösung« (Nr. 31) an. Demgemäß steht an der Wurzel der Sünde die Lüge, die Zurückweisung der Wahrheit: »Der ›Ungehorsam‹ als ursprüngliche Dimension der Sünde bedeutet die Zurückweisung dieser Quelle wegen des Anspruchs des Menschen, selbst autonome und alleinige Quelle für die Bestimmung von Gut und Böse zu werden « (Nr. 36) Die grundlegende Vision von Veritatis splendor erscheint hier schon mit aller Deutlichkeit. Es ist klar, daß der Papst gerade in der Enzyklika über den Heiligen Geist nicht bei der Diagnose unserer Gefährdungen stehen bleibt, sondern sie stellt, um den Weg zur Heilung zu öffnen. In der Bekehrung wandelt sich die Mühsal des Gewissens in heilende Liebe, die zu leiden weiß: »Der verborgene Ausspender dieser heilenden Kraft ist der Heilige Geist ÂÂ…« (Nr. 45).

Ich habe mich lang – wohl zu lange – beim trinitarischen Triptychon aufgehalten, weil es das ganze Programm der weiteren Enzykliken in sich trägt und es an den Glauben an Gott zurückbindet. Wohl oder übel müssen nun für die folgenden Enzykliken ein paar ganz schematische Hinweise genügen. Die drei großen Sozial-Enzykliken wenden die Anthropologie des Papstes auf die soziale Problematik unseres Jahrhunderts an. Er betont den Vorrang des Menschen gegenüber den Produktionsmitteln, den Vorrang der Arbeit gegenüber dem Kapital, den Vorrang der Ethik gegenüber der Technik. Im Brennpunkt steht die Würde des Menschen, der immer selbst ein Zweck und nie ein Mittel ist; von da her werden die großen Zeitfragen der sozialen Problematik in kritischer Auseinandersetzung mit dem Marxismus wie mit dem Liberalismus geklärt.

Die ekklesiologischen Enzykliken würden eine ausführliche Würdigung verdienen, auf die ich hier verzichten muß. Wenn Ecclesia de Eucharistia die Kirche von innen und oben und gerade so in ihrer gemeinschaftsstiftenden Kraft betrachtet, wenn Redemptoris Mater die Urgestalt der Kirche in Maria und ihr mütterliches Geheimnis behandelt, so stellen die drei weiteren Enzykliken dieser Gruppe die beiden großen Beziehungsfelder dar, in denen Kirche lebt: Der ökumenische Dialog als Suche nach der Einheit der Getauften gemäß dem Auftrag des Herrn, gemäß der inneren Logik des Glaubens, der als Kraft der Einheit von Gott in die Welt gesandt ist, ist der eine Beziehungsbereich, den der Papst in Ut unum sint mit der ganzen Leidenschaft seines ökumenischen Wollens ins Bewußtsein der Kirche rückt. Auch Slavorum apostoli ist ein ökumenischer Text von besonderer Schönheit: Er ist zum einen im Beziehungsfeld von Ost und West angesiedelt, zum anderen zeigt er den Zusammenhang von Glaube und Kultur, die kulturschöpferische Kraft des Glaubens, der in der Begegnung der Kulturen seine eigene Tiefe auslotet und zugleich neue Dimensionen der Einheit erfährt. Das andere Beziehungsfeld ist die Zuwendung zu den Menschen, die in nichtchristlichen Religionen oder ohne Religion leben, um ihnen Jesus zu verkünden, von dem Petrus zu den versammelten Pharisäern des jüdischen Volkes gesagt hatte: »In keinem anderen ist das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen« (Apg 4,12). Der Papst klärt in diesem Text die Beziehung von Dialog und Verkündigung. Er zeigt, daß Mission, die Verkündigung Christi an alle, die Christus nicht kennen, immer geboten bleibt, weil jeder Mensch von innen auf den wartet, in dem Gott und Mensch geeint sind – auf den »Erlöser der Menschen«.

Kommen wir zum Schluß zu den drei großen Enzykliken, in denen die anthropologische Thematik von verschiedenen Seiten her aufgerollt wird. Veritatis splendor spricht nicht nur in die innerkirchliche Krise der Moraltheologie hinein, sondern gehört zum weltweiten Disput um das Ethos, der heute eine Überlebensfrage der Menschheit geworden ist. Gegenüber einer Moraltheologie, die sich im 19. Jahrhundert immer gefährlicher auf Kasuistik verengt hatte, war schon in den Jahrzehnten vor dem Konzil eine deutliche Gegenbewegung in Gang gekommen: Die ethische Weisung des Christentums sollte wieder in ihrer großen positiven Vision aus dem Innern des Glaubens her und nicht als Katalog von Verboten gesehen werden. Die Idee der Nachfolge Christi und das Prinzip Liebe wurden als die grundlegenden Leitideen entfaltet, aus denen sich dann die einzelnen Weisungen organisch ergeben. Der Wille, sich vom Glauben als dem neuen Licht inspirieren zu lassen, das die ethische Weisung durchsichtig macht, hatte zugleich eine Abwendung von der naturrechtlichen Fassung der Moral zugunsten einer heilsgeschichtlich- biblischen Konstruktion eingeleitet. Das II. Vaticanum hatte diese Ansätze bestätigt und verstärkt.

Aber der Versuch, eine rein biblische Moral aufzubauen, erwies sich angesichts der konkreten Fragestellungen der Zeit als undurchführbar. Der bloße Biblizismus ist gerade in der Moraltheologie kein möglicher Weg. So ist überraschend schnell nach einer kurzen Phase des Mühens um eine biblische Inspiration der Moraltheologie der Umschlag in den Versuch einer rein rationalen Begründung des Ethos erfolgt, aber die Rückkehr zum Naturrechtsgedanken schien nun verbaut: Die antimetaphysische Strömung, die vielleicht schon im versuchten Biblizismus mitgewirkt hatte, ließ das Naturrecht als veraltetes und nicht mehr aktualisierbares Modell erscheinen. So blieb man einer positivistischen Rationalität ausgeliefert, die das Gute als solches nicht mehr kennt. »Gut ist«, so sagte damals ein Moraltheologe, »immer nur besser als«.

Der Maßstab, der nun blieb, war das Kalkül der Folgen. Moralisch ist dann, was von den voraussehbaren Folgen her am meisten positiv erscheint. Nicht immer ist der Konsequenzialismus so radikal durchgeführt worden. Aber im Letzten läuft er auf eine solche Konstruktion hinaus, bei der das eigentlich Moralische abgedankt ist, weil es das Gute als solches nicht gibt. Für einen solchen Typus von Rationalität hat auch die Bibel nichts mehr zu sagen. Sie kann Motivationen liefern, für die Inhalte bedeutet sie nichts. Wenn es aber so ist, ist das Christentum als »Weg«, der es doch sein sollte und wollte, am Ende. Und wenn man zuvor von der Orthodoxie in die Orthopraxie geflüchtet war, so wird damit Orthopraxie zu einer tragischen Ironie: Es gibt sie ja eigentlich gar nicht.

Der Papst hat demgegenüber mit großer Entschiedenheit wieder die metaphysische Sicht ins Recht gesetzt, die einfach eine Folge des Schöpfungsglaubens ist. Wieder gelingt es ihm, Anthropozentrik und Theozentrik vom Schöpfungsglauben her ineinander zu binden und miteinander zu verschmelzen: »ÂÂ…schöpft die Vernunft ihre Wahrheit und ihre Autorität aus dem ewigen Gesetz, das nichts anderes als die göttliche Weisheit istÂÂ… Das Naturgesetz ist nämlichÂÂ… nichts anderes als das von Gott uns eingegebene Licht des Verstandes« (Nr. 40). Gerade weil der Papst vom Schöpfungsglauben her zur Metaphysik steht, kann er auch die Bibel als gegenwärtiges Wort verstehen – metaphysische und biblische Konstruktion des Ethos verbinden. Ein Herzstück der Enzyklika, philosophisch wie theologisch gleich bedeutsam, ist der große Passus über das Martyrium (Nr. 90–94).

Wenn es nichts mehr gibt, wofür zu sterben sich lohnt, ist auch das Leben leer geworden. Nur wenn es das unbedingt Gute gibt, für das zu sterben sich lohnt, und das immer Schlechte, das nie gut wird, ist der Mensch in seiner Würde bestätigt und sind wir geschützt vor der Diktatur der Ideologien.

Dieser Punkt ist grundlegend auch für die Enzyklika Evangelium vitae, die der Papst auf dringenden Wunsch des Weltepiskopats geschrieben hat, die aber zugleich auch Ausdruck seines eigenen leidenschaftlichen Kampfes für den unbedingten Respekt vor der Würde menschlichen Lebens ist. Wo menschliches Leben als bloß biologische Realität behandelt wird, wird es zum Gegenstand des Kalküls der Folgen. Aber der Papst sieht mit dem Glauben der Kirche im Menschen – in jedem Menschen –, wie klein oder groß, wie schwach oder wie stark, wie funktionstüchtig oder unnütz er erscheinen mag, das Bild Gottes; für jeden Menschen ist Christus gestorben, der menschgewordene Sohn Gottes selbst. Das gibt jedem einzelnen Menschen eine unendliche Kostbarkeit, eine schlechthin unantastbare Würde. Gerade weil im Menschen mehr ist als bloßer Bios, wird auch sein biologisches Leben unendlich wertvoll. Es steht niemandem zur Disposition, weil es von Gottes Würde umkleidet ist. Es gibt keine noch so noblen Folgen, die das Experiment mit dem Menschen rechtfertigen könnten. Nach all den grausamen Erfahrungen des Mißbrauchs des Menschen mit scheinbar hoch moralischen Motivationen, war und ist dies ein notwendiges Wort. Es wird sichtbar, daß der Glaube die Zuflucht der Menschlichkeit ist. In der Situation metaphysischer Verdummung, in der wir stehen und die zugleich zur moralischen Verkümmerung wird, zeigt sich der Glaube als das rettend Menschliche. Der Papst als Wortführer des Glaubens verteidigt den Menschen gegen die Scheinmoral, die ihn zu zertreten droht.

Schließlich ist am Ende noch die große Enzyklika Fides et ratio – Über Glaube und Philosophie – zu bedenken. Das Thema Wahrheit, das das ganze Lehrwerk des Heiligen Vaters durchzieht, wird in seiner vollen Dramatik entfaltet. Die Erkennbarkeit von Wahrheit zu behaupten, gar die christliche Botschaft als erkannte Wahrheit zu verkündigen, wird heute weithin als Angriff auf Toleranz und Pluralismus angesehen; Wahrheit wird geradezu zu einem verbotenen Wort. Aber gerade hier steht noch einmal die Würde des Menschen zur Debatte. Wenn der Mensch der Wahrheit unfähig ist, dann ist alles, was er denkt und tut, zufällige Konvention, bloße »Tradition«. Dann bleibt ihm nur – wie wir vorhin sahen – das jeweilige Kalkül der Folgen. Aber wer kann wirklich die Folgen menschlichen Handelns überblicken? Dann sind alle Religionen nur Traditionen, und dann ist natürlich auch Verkündigung des christlichen Glaubens eine kolonialistische oder imperialistische Anmaßung. Mit der Menschenwürde vereinbar ist sie nur, wenn der Glaube Wahrheit ist, denn die verletzt niemanden; sie ist im Gegenteil das Gut, das wir einander schulden. Durch die großen Erfolge im Bereich von Naturwissenschaft und Technik ist die Vernunft den Menschheitsfragen nach Gott, nach Tod und Ewigkeit, nach dem rechten Leben gegenüber mutlos geworden. Der Positivismus legt sich wie ein grauer Star über das innere Auge des Menschen. Aber wenn diese letztlich für unser Leben entscheidenden Fragen in den Bereich des bloß Subjektiven und damit letztlich des Beliebigen verwiesen sind, sind wir im Eigentlichen des Menschseins erblindet. Vom Glauben her fordert der Papst die Vernunft zum Mut des Erkennens der wesentlichen Wirklichkeiten auf. Wenn der Glaube nicht im Licht der Vernunft steht, dann ist er zur bloßen Tradition abgesunken und damit eben auch im Tiefsten für beliebig erklärt.

Der Glaube braucht den Mut der Vernunft zu sich selbst. Er steht nicht gegen sie, sondern fordert sie heraus, sich das Große zuzutrauen, zu dem sie geschaffen ist. Sapere aude – mit diesem Imperativ hatte Kant das Wesen von Aufklärung umschrieben. Man könnte sagen, daß der Papst auf eine neue Weise einer metaphysisch mutlos gewordenen Vernunft zuruft: Sapere aude! Trau dir das Große zu! Dafür bist du bestimmt. Der Glaube, so zeigt uns der Papst, will die Vernunft nicht zum Schweigen bringen, sondern sie von dem Schleier des Stars befreien, der angesichts der großen Fragen der Menschheit weithin auf ihr liegt. Wiederum zeigt sich, daß der Glaube den Menschen in seinem Menschsein verteidigt. Josef Pieper hat einmal den Gedanken geäußert, daß in der »letzten Epoche der Geschichte, unter der Herrschaft von Sophistik und korrupter Pseudophilosophie, die wahre Philosophie sich in die uranfängliche Einheit mit der Theologie zurückbegeben könnte«, daß also am Ende der Geschichte »die Wurzel aller Dinge und die äußerste Bedeutung der Existenz – das heißt doch: der spezifische Gegenstand des Philosophierens – nur noch von denen in den Blick genommen und bedacht wird, welche glauben«. Nun, wir stehen – so weit wir sehen können – nicht am Ende der Geschichte. Aber wir stehen in der Versuchung, der Vernunft ihre wahre Größe zu verweigern. Und da sieht es der Papst mit Recht als Aufgabe des Glaubens an, die Vernunft neu zum Mut zur Wahrheit zu ermutigen. Ohne Vernunft verfällt der Glaube; ohne Glaube droht die Vernunft zu verkümmern. Es geht um den Menschen. Aber damit der Mensch erlöst werde, brauchen wir den Erlöser – brauchen wir Christus, den Menschen, der Mensch und Gott in einer einzigen Person ist – »unvermischt und ungetrennt«.

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