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PREDIGT VON KARD. JOSEPH RATZINGER
IN MONTECASSINO FÜR DIE
PÄPSTLICHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

 

Im November, während wir das große Sterben in der Natur erleben, spricht die Liturgie von unserem eigenen Sterben. Zur Frage nach dem rechten Leben gehört auch die Frage nach dem rechten Sterben. Wenn wir den Tod verdrängen müssen, dann werden wir auch mit dem Leben nicht recht umzugehen lernen. Leben und Sterben gehören zusammen, das Leben kann nur gelingen, wenn wir auf rechte Weise dem Tod entgegenzugehen vermögen.

Was ist es mit dem Tod? Was bedeutet er über seine biologische Gesetzlichkeit hinaus für die Ganzheit unseres menschlichen Lebens? Im Alten Testament hat sich eine Antwort darauf erst langsam entwickelt – Gott führt den Menschen sozusagen behutsam, Schritt für Schritt in die Geheimnisse des Lebens ein, zu denen das Geheimnis des Todes gehört. Die Vorstellung in den frühen Büchern des Alten Testaments ist derjenigen sehr ähnlich, die wir beispielsweise bei Homer für die griechische Welt vorfinden können. Im Tod steigt danach der Mensch ins Reich der Schatten hinab – irgendwie gibt es noch etwas von ihm, aber diese Existenz ist eine Un-Existenz, mehr Nichtsein als Sein. Die eigentliche Antwort, die Gott den Menschen geben wollte, ist nur langsam in Sicht gekommen: Sie ist im Ringen mit dem Leid im Beten Israels langsam gereift. Sie hat zunächst noch gar keine feste Gestalt, keine Form einer philosophischen Anthropologie, sondern ist nur als unfaßbare und gerade so erschütternde und heilende Gewißheit im Stehen vor Gott, im Sprechen mit ihm inmitten einer unverständlichen Welt aufgeblitzt. Ich bringe dafür zwei Beispiele.

Das eine ist der Psalm 73, ein Lieblingspsalm des hl. Augustinus, der darin sein ganzes eigenes Fragen, Leiden und Hoffen wiedererkannte. Die frühe Weisheit Israels war davon ausgegangen, daß es dem guten Menschen – wenn auch durch Phasen der Prüfung hindurch – gut geht, und daß die Schlechtigkeit den Menschen ruiniert, ihre Strafe sozusagen in sich selber trägt. In den Schrecknissen der Geschichte Israels als Volk wie im Leiden der einzelnen gläubigen Menschen war dieser Optimismus allmählich unwiderruflich zerbrochen. Nein, die Hochmütigen, die Habsüchtigen, die Verächter Gottes sind die Erfolgsmenschen, sie sind reich und fett und können über den Gläubigen herfallen und ihn verhöhnen. Und die Gläubigen, die Gottes Willen folgen, nicht von der Wahrheit und nicht von der Gerechtigkeit abweichen: Sie sind die Marginalisierten in der Geschichte, deren Leben Jesus im Bild des armen Lazarus zusammengefaßt hat, der vor der Tür des Reichen sitzt und schon dankbar wäre für die Brosamen, die vom Tisch des Reichen abfallen. Diese Erfahrung beschreibt der Beter des Psalms 73 – sie ist seine Lebenserfahrung. Am Ende fragt er: »Habe ich also umsonst mein Herz lauter bewahrt?« (Vers 13). Er geht in den Tempel, um zu beten, und nun wird ihm Einsicht: »Als ich mein Herz verbitterteÂÂ… da war ich töricht und ohne Einsicht, wie ein Riesenvieh vor dir. Nun aber bin ich immer bei dirÂÂ… Wen habe ich im Himmel neben dir? Neben dir begehre ich nichts auf Erden. Mein Herz und mein Fleisch schwinden dahin, aber mein Anteil bleibt Gott auf ewig« (Vers 21–26). Der Beter macht sozusagen die Erfahrung der Absolutheit der Liebe: Das Gute über allen Gütern ist das Geliebtsein von Gott, das nicht vergeht. Es ist das eigentliche Gut. Die anderen Güter kommen und vergehen, sie erscheinen nun in ihrer ganzen Relativität. Das wirkliche Gut ist es, mit ihm zu sein, von seiner Hand gehalten. Und diese Hand läßt mich nicht los. Da ist kein Neid mehr nötig auf das Glück der Reichen. »Die Nähe zum Herrn ist mein köstliches Gut« (Vers 28) – kein Lohngedanke ist da, der das Gute nur tun will, weil es sich lohnt, sondern einfach das Frohwerden im Angesicht dessen, der als das wirkliche Gut erfahren wird, das zugleich als unzerstörbar erkannt wird: Die Hand Gottes hält mich auf immer, im Tod und im Leben.

Die zweite Stelle, die ich erwähnen möchte, ist das Hoffnungsbekenntnis des Ijob in einem Abgrund von Leiden. »Erbarmt, erbarmt euch, ihr meine Freunde, denn Gottes Hand istÂÂ’s, die mich traf. Warum verfolgt ihr mich wie Gott, seid unersättlich ihr nach meinem Fleisch?« (19,21f.). In dieser Situation, in der Ijob von allen verlassen und verachtet sein Leben verwünscht, bricht sein Glaube an den wirklichen, den verborgenen Gott durch: Er appelliert an den wirklichen Gott gegen den verfolgenden Gott, und da wird ihm eine wundervolle Gewißheit geschenkt: »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt ÂÂ… Ohne meine Haut, die so zerfetzte, und ohne mein Fleisch werde ich Gott schauenÂÂ… Meine Augen werden ihn sehenÂÂ…« (19,25ff.). In der Hölle seines Leidens wird es dem betenden und glaubenden Ijob gegen allen Anschein, gegen den Gottesschrecken, der ihn befallen hat, klar: Ich weiß, daß mein Erlöser lebt, und ich werde ihn schauen. Ich weiß, daß der Gott, der mich scheinbar quält, in Wahrheit der erlösende Gott ist, auf den ich setzen darf und dessen Liebe mich durch die Nacht des Leidens und des Todes hindurchträgt.

Ich glaube, es ist wichtig zu sehen, daß im Alten Testament nicht zunächst aus einer durchgeführten Anthropologie heraus ein Unsterblichkeitsglaube entsteht, sondern daß die Begegnung mit Gott, dem unbegreiflichen und doch zutiefst verläßlich guten Gott, dem Menschen den Halt gibt, der ihn auch über den Tod hinüberträgt und der ihm daher auch im Leben den rechten Weg zeigt.

Erst in den späten Schichten des Alten Testaments, bei Daniel und in der Jesaja-Apokalypse erscheint dann ganz klar die Hoffnung auf die Auferstehung, die freilich im einzelnen weder ihrer Ausdehnung noch ihrer Art nach beschrieben wird. Die Kraft dieses Auferstehungsglaubens sehen wir in der Lesung aus dem späten zweiten Makkabäer-Buch, die wir eben gehört haben: Die Gewißheit der Auferstehung wird die Kraft zum Widerstand gegen den Tyrannen, sie wird die Kraft zum guten Leben und die Kraft, auch um den Preis des eigenen Lebens zum Wort Gottes zu stehen, weil dieses Wort eben die eigentliche Macht ist, die Leben schenkt, das wirkliche Leben über den Tod hinaus und jenseits des Todes.

Das Ringen um die Frage nach Tod und Leben ging in Israel freilich weiter – es ist ja im Letzten auch unser nie ganz abgeschlossenes Ringen. Auch wir müssen immer neu und in immer neuen Lebenszusammenhängen die Antwort erlernen, so daß sie unser Leben formen kann. Das Evangelium dieses Tages läßt uns einen wichtigen Ausschnitt dieses Ringens sehen und schenkt uns die Antwort Jesu, deren Tiefe wir freilich auch erst immer neu ertasten müssen.

Das Evangelium zeigt uns die zwei Hauptpositionen des Judentums der Zeit Jesu. Da ist zum einen die Priesteraristokratie der Sadduzäer, die zugleich traditionalistisch und rationalistisch denkt. Sie sieht nur die Thora, die fünf Bücher Mose, als kanonisch an und lehnt daher die späteren Entwicklungen der Glaubensgeschichte Israels ab, zu denen auch der Auferstehungsglaube gehört. Dieser war hingegen bei den Pharisäern und auch in breiten Volksschichten bestimmend und hat vor allem im Volksglauben ganz ähnlich wie später im islamischen Volksglauben phantastische und grob sinnliche Züge angenommen. Ein gefeierter Schriftgelehrter meinte beispielsweise: Dereinst – nach der Auferstehung – wird die Frau jeden Tag gebären. Die Auferstehungswelt erscheint so als eine geradezu ins Sinnlose übersteigerte Verdoppelung dieser Welt. Dagegen konnten die Sadduzäer leicht polemisieren.

Das Evangelium zeigt uns ein Beispiel, wie sie einen so entstellten Auferstehungsglauben ins Lächerliche zogen. Weil sie nur die fünf Bücher Mose als kanonisch anerkannten, mußte Jesus aus diesen Büchern argumentieren, um den Auferstehungsglauben zu rechtfertigen – was vom Textbefund her ganz aussichtslos erscheinen muß. Aber zunächst rückt Jesus die Vorstellungen von der Auferstehung zurecht. Die Auferstehungswelt ist nicht ein Doppel der Unseren: Fortpflanzung und Tod gehören zusammen; wo es keinen Tod gibt, gibt es auch keine Fortpflanzung mehr. Die Auferstandenen sind neue Menschen, »Gottessöhne« geworden. Sie leben in der Weise Gottes, im Sein vor Gott, mit Gott und zu Gott hin. Das »Sein wie Gott«, das der Mensch im Paradies suchte und das er immerfort sucht – der Schrei nach völliger Freiheit in unserer Zeit ist ein Schrei nach Göttlichkeit –, das ist ihnen gegeben. Ein solches Leben entzieht sich unserer Vorstellung, aber das Eine wissen wir, daß Gottes Sein wesentlich Wahrheit und Liebe ist. Dann ahnen wir auch, daß das künftige Leben einfach Angehaltensein an Wahrheit und Liebe und so Angehaltensein an Gott ist.

Gerade dies aber verdeutlicht der Herr in seinem Schriftbeweis für die Auferstehung. Mose nennt »den Herrn den Gott Abrahams, den Gott Israels und den Gott Jakobs ÂÂ… Er ist doch kein Gott von Toten, sondern von Lebenden, denn für ihn sind alle lebendig« (Lk 20,38). Diese Begründung der Auferstehung, des ewigen Lebens, ist überraschend. Der Herr begründet es von der Gottesgemeinschaft des Menschen und führt damit genau die Linie fort, die wir besonders im Psalm 73 gefunden hatten.

Abraham, Isaak und Jakob haben als Freunde Gottes gelebt, im ständigen Gespräch mit ihm, im Mitgehen mit ihm, und so sind sie geradezu zu Namen Gottes geworden: Der Verweis auf sie klärt, um welchen Gott es sich handelt, wer Gott ist und wie Gott ist. Sie gehören zu ihm, und wenn sie Gott zugehören, wenn ihre Verbindung mit ihm das Wesentliche ihres Lebens ist, dann gehören sie dem Leben selbst zu. Weil sie an Gott angehalten sind, können sie nicht ins Nichts fallen. Sie leben ein Leben, das stärker ist als der Tod. Jesus gibt uns eine dialogische, eine relationale Begründung der Unsterblichkeit. Das Leben des Menschen reicht nicht deswegen über den Tod hinaus, weil etwa die Seele in sich unteilbar und darum unzerstörbar wäre, wie die griechische Philosophie die Unsterblichkeit begründete. Das In-Beziehung-Stehen macht den Menschen unsterblich.

Menschliche Liebe ist auf Unendlichkeit angelegt, kann sie aber nicht geben. Die Liebesgemeinschaft mit Gott gibt, was der Liebe wesentlich ist: Dieser Dialog bricht nicht ab. Durch das Mitsein mit ihm sind wir im Eigentlichen, im unzerstörbaren Leben. Indem Jesus auf Abraham, Isaak und Jakob als Menschen verweist, die Gottes sind und daher lebendig sind, sagt er uns: Halte dich im Leben an das, was nicht vergeht und verfällt. Halte dich an die Wahrheit, an das Gute, halte dich an die Liebe, halte dich an Gott. Und von Christus selber her könnten wir nun sagen: Halte dich an den auferstandenen Christus an, dann hängst du am Leben, und dann lebst du wirklich – dann lebst du jetzt schon das wahre Leben, das ewige Leben.

Jesus lehrt uns also nicht irgendwelche mysteriöse Dinge über das Jenseits. Er weist uns ins rechte Leben ein. Seine dialogische Begründung der Unsterblichkeit sagt uns, wie wir jetzt leben müssen, wie wir das wahre Leben finden, das ewig ist. Was er uns von der Auferstehung sagt, ist durchaus praktisch; indem er den Tod deutet, zeigt er, wie das Leben geht. Von da aus können wir auch das Buch der Makkabäer neu lesen. Wer die rechten Güter, das wahre Gut – Gott – kennengelernt hat, der kann die relativen Güter fallen lassen. Der weiß, daß er auch das biologische Leben riskieren kann und darf, daß er nicht ins Nichts fällt, weil er so gerade das rechte Leben ergreift. Er weiß, daß das wahrhaft Gute der wahrhaft Gute ist und daß Er unsere Hand nicht losläßt. Bitten wir den Herrn, daß wir recht zu leben lernen. Amen.

 

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