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PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION
BIBEL UND CHRISTOLOGIE
Viele Menschen unserer Zeit, vor allem im Abendland, halten
sich für Agnostiker oder Ungläubige. Müssen sie daher auch an
Jesus Christus und seiner Rolle in der Welt uninteressiert sein? Die
wissenschaftlichen Studien und Veröffentlichungen, die
laufend erscheinen, zeigen, daß dem nicht so ist, wenn auch die Art und
Weise, wie man an diese Frage herangeht, sich geändert hat.
Jedenfalls sind bestimmte Christen durch die Vielfalt der Zugänge und
der Lösungsvorschläge zu diesem Problem verwirrt. Die Päpstliche
Bibelkommission möchte in diesem Punkt den Hirten wie den Gläubigen eine
Hilfe an die Hand geben:
1. Indem sie eine kurze Übersicht dieser Arbeiten, ihrer jeweiligen
Interessen und ihrer Risiken vermittelt;
2. Indem sie kurz das Gesamt der Zeugnisse, die in der Heiligen
Schrift zur Erwartung des Heils und des Messias erhalten sind, in
Erinnerung ruft, um auf diesem Hintergrund
das Evangelium genau anzusetzen, um dann zu zeigen, wie man
die Erfüllung dieser Erwartung und der Verheißungen, welche
sie begründen, in Jesus Christus verstehen muß.
ERSTER TEIL
GEGENWÄRTIGE PERSPEKTIVEN IM ZUGANG ZU JESUS CHRISTUS
ABSCHNITT 1: KURZER ÜBERBLIK DER METHODISCHEN ZUGÄNGE ZUR
CHRISTOLOGIE
Hier soll keine erschöpfende Geschichte der Forschungen über
Jesus Christus geliefert werden; man kann nur feststellen, daß heute
verschiedene Wege versucht werden, um das zu tun. Sie werden
zusammenfassend dargestellt nach einer ungefähren Zuordnung, die weder
logisch noch chronologisch sein will und
mit einigen Namen verbunden, die für bestimmte
Richtungen in diesen Forschungen repräsentativ sind.
1.1.1. Theologische Zugänge im «klassischen» Stil
1.1.1.1. Dieser Zugang bleibt jener der dogmatischen
Traktate spekulativer Tendenz, die eine systematische Darstellung der
Glaubenslehre bieten, und zwar ausgehend von den Beschlüssen und
Entscheidungen der Konzilien und von den Werken der Kirchenväter: Der
Traktat «Über das menschgewordene Wort» (Konzil von Nizäa, 325; von
Ephesus, 431; von Chalkedon, 451; von Konstantinopel II und
III, 553 und 681) und der Traktat «Über die Erlösung» (Konzile von
Orange, 529; von Trient, 5. und 6. Sitzung, 1546 und 1547).
1.1.1.2. Die derartig konzipierten Traktate können jedoch
von mehreren neuzeitlichen Anreicherungen Gewinn schöpfen:
a) Im allgemeinen benutzen sie die biblische Kritik, indem
sie den ureigenen Beitrag jeder
biblischen Schrift oder Schriftengruppe stärker
unterscheidend heranziehen, so daß dadurch die theologische Exegese auf
solideren Fundamenten steht (vgl. J. Galot u. a.).
b) Die Breitenwirkung einer auf «Heilsgeschichte» ausgerichteten
Theologie (s. u. 1.1.6.) erlaubt es, die Person Jesu
wieder klarer in das einzuordnen, was die Kirchenväter «Heilsökonomie» (dispensatio) nannten.
c) Trägt man neuzeitlichen Gesichtspunkten Rechnung. so tauchen
bestimmte schon im Mittelalter behandelte Fragen heute wieder auf, wie
etwa das «Wissen» Christi und die Entwicklung
seiner Persönlichkeit (z.B. J. Maritain u. a.).
1.1.2. Spekulative Zugänge des kritischen Typs
1.1.2.1. Eine bestimmte Anzahl von spekulativen Theologen hält es für
notwendig, nicht nur auf die patristischen und mittelalterlichen
Theologen, sondern auch auf die Konzilsentscheidungen eine Form von kritischer Lektüre anzuwenden, die
beim Studium biblischer Texte zu positiven Ergebnissen geführt hat. Es
ist durchaus angebracht, diese Definitionen unter der Voraussetzung
ihrer kulturellen und historischen Rahmenbedingungen, unter denen sie
einst erarbeitet worden waren, zu interpretieren.
1.1.2.2. Die historische Erforschung der Konzilien
zeigt tatsächlich, daß ihre Definitionen sich bemühten, die
Schulstreitigkeiten oder die Unterschiede von Gesichtspunkten und
Sprachen, welche die Theologen spalteten, zu überwinden, wobei der vom
Neuen Testament herkommende Glaube
bestätigt und bestärkt werden sollte. Trotz dieser Anstrengung konnten
die Gegensätze nicht immer voll überwunden werden. Wenn man den
kulturellen Kontext und die Sprache der
übernommenen Formulierungen kritisch überprüft, zum Beispiel auf
dem Konzil von Chalkedon (451), kann man besser den eigentlichen Gegenstand der
Definition und die Aussagen, die benutzt wurden, um ihn korrekt
zu umschreiben,
unterscheiden. Verändert sich der kulturelle Kontext, so können die
Formulierungen ihrerseits ihre Wirksamkeit und Aussagekraft in
einem sprachlichen Umfeld, wo dieselben Worte nicht mehr im selben Sinn
benutzt werden, verlieren.
1.1.2.3. Daher müssen diese Aussagen erneut mit den grundlegenden
Quellen der Offenbarung konfrontiert werden, indem mit mehr
betonter Sorgfalt auf das Neue Testament selbst zurückgegriffen wird.
Die Untersuchung des «historischen Jesus» hat für bestimmte Theologen
(z.B. P. Schoonenberg) zur Folge, von der «menschlichen Person» Jesu zu
sprechen; aber wäre es nicht sinnvoller von der menschlichen
«Persönlichkeit» Jesu zu
sprechen und zwar in dem Sinn, wie die Scholastik von «individueller und
einzigartig-singulärer Menschlichkeit» redete?
1.1.3. Christologie und historische Forschung
Die anderen Methoden gehen mehr von Methoden der
Geschichtswissenschaft aus. Nachdem diese Methoden ihr Wirksamkeit
beim Studium von alten Texten erwiesen hatten, war es
geradezu natürlich, sie auch auf die Texte des Neuen Testaments
anzuwenden.
1.1.3.1. Tatsächlich hat sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts
die Aufmerksamkeit der Forscher auf die historische Wiederherstellung des
Lebens Jesu, wie es seinen Zeitgenossen erschien, und
auf das Bewußtsein, das er von sich selbst hatte, konzentriert. Diese
Loslösung von den christologischen Dogmen geschah bei rationalistischen
Autoren wie Reimarus, Paulus, Strauss, Renan u. a. von selbst. Sie wurde
auch vom sogenannten «liberalen» Protestantismus übernommen, indem
dieser eine kritisch entworfene «biblische» Theologie an die Stelle
einer «dogmatischen» Theologie, die jede positive Forschung
auszuschließen schien, setzen wollte (vgl. A. Harnack, Das Wesen des Christentums). Diese
Untersuchungen über den «Jesus der Geschichte» führte zu solch gegensätzlichen
Ergebnissen, daß die Leben-Jesu-Forschung geradezu als ein
hoffnungsloses Unternehmen betrachtet werden mußte (A. Schweitzer,
2. Aufl. 1913). Obwohl M.-J. Lagrange ganz klar das Prinzip der
«historischen Methode» für die
Evangelienforschung aufgestellt hatte (La Methode historique, 3.
Aufl. 1907), entrann man auf katholischer Seite den vorausgegangenen
Schwierigkeiten in der Praxis nur
dadurch, daß man die unverkürzte Geschichtlichkeit sämtlicher Einzelheiten
der Texte des Evangeliums forderte (so Didon, Le Camus; mit
mehr Abstufungen: Lebreton, Lagrange selbst, Fernandez, Prat, Ricciotti
u. a.). Der Versuch R. Bultmanns (s. unten l.1.8.) wird von dieser
Engführung in der Erforschung des «Lebens Jesu» ausgehen.
1.1.3.2. Seitdem hat die «historische Methode» wichtige Ergänzungen
erfahren, weil die Historiker selbst die «positivistische»
Vorstellung von der Objektivität der Geschichte in Frage
gestellt haben. Diese
Objektivität ist nicht die der Naturwissenschaften, denn sie umfaßt menschliche
Erfahrungen (soziale, psychologische, kulturelle usw.), die sich nur
ein einziges Mal in der Vergangenheit zugetragen haben und die man daher
gar nicht mehr genau so rekonstruieren kann, wie sie wirklich waren.
Will man ihre «Wahrheit» entdecken, so muß man von den Spuren ausgehen,
die sie hinterlassen haben, und von den Zeugnissen (archäologische
und schriftliche), die sie betreffen; aber man kommt nur in dem Maß an
sie heran, wie man sie «von innen heraus» zu begreifen vermag.
a) Ein solches Bemühen bringt notwendigerweise die menschlichen
Subjektivitäten in den Forschungen des Historikers ins Spiel, der
ihr Vorhandensein in sämtlichen Texten, die über Ereignisse berichten
und deren Personen beschreiben, feststellt, ohne über die Qualität der
so erhaltenen Zeugnisse zu urteilen.
b) Die Subjektivität des Historikers selbst spielt in alle
Etappen seiner Arbeit mit hinein, in seiner Suche nach der «Wahrheit» in
Geschichte (vgl. H. G. Gadamer). Er geht die Gegenstände seiner
Untersuchung bereits unter der Voraussetzung seiner eigenen
Interessenschwerpunkte, mit einem ganz bestimmten «Vorverständnis», das
er erst Schritt für Schritt im Kontakt mit den untersuchten
Zeugnissen zurechtrücken muß, an. Selbst wenn er sich im Lauf dieser
Konfrontation selbst kritisiert, ist es doch selten, daß die Darstellung
der gewonnenen Ergebnisse nicht durch sein eigenes Verständnis der
menschlichen Existenz bedingt ist (vgl. X. Leon-Dufour).
1.1.3.3. Die historische Erforschung Jesu ist der treffendste
Fall dieser Situation. Sie ist niemals «neutral». Tatsächlich
betrifft die Person Jesu jeden Menschen und also auch den Historiker selbst, durch den Sinn seines Lebens und seines
Todes, durch die menschliche Tragweite seiner Botschaft, durch die Deutung, von der die verschiedenen Bücher des
Neuen Testaments Zeugnis geben. Die Bedingungen, unter denen
jede Untersuchung in dieser Sache unternommen wird,
erklären die große Verschiedenheit der erzielten Ergebnisse sowohl
bei Historikern wie Theologen. Denn niemand kann die Menschlichkeit Jesu
in rein «objektiver» Weise erforschen
und darstellen, das Drama seines Lebens, das vom Kreuz gekrönt wurde,
die Botschaft, die er durch seine Worte, durch seine
Taten und selbst durch sein Dasein den Menschen
hinterließ. Das heißt aber nicht, daß man auf solche historische
Erforschung verzichten könne, doch müssen zwei Gefahren
vermieden werden: Jesus darf weder als eine einfache mythologische
Heldengestalt verstanden werden, noch darf seine Anerkennung als Messias
und Gottessohn zugunsten eines irrationalen Fideismus preisgegeben
werden.
1.1.4. Christologie und Religionswissenschaft
1.1.4.1. Um die Grundlage der historischen Untersuchungen zu
ergänzen, bietet sich der Forschung eine andere Gegebenheit an, nämlich
die «Religionswissenschaft». mit den Überlagerungen, die man unter den
Religionen beobachten kann. Muß man sich zum Beispiel nicht in diese
Sichtweise begeben, um den Übergang zu erklären vom Evangelium
des Gottesreiches, wie Jesus es nach den Texten des
Evangeliums angekündigt hat, zum Evangelium
von Jesus, dem Messias und Gottessohn, wie man es in jenen Texten
findet, die auf verschiedene Art den Glauben der Urkirche darbieten?
1.1.4.2. Seit dem 19. Jahrhundert hat die Vergleichende
Religionsgeschichte einen Aufschwung genommen, der in dieser Thematik
ältere Zugangsweisen erneuerte zwei Arten von Materialien erlaubten
diesen Vorstoß: An erster Stelle die Rückgewinnung der alten
orientalischen Literaturen dank der Entzifferung der ägyptischen
Hieroglyphen und der keilschriftlichen Texte (Champollion, Grotefeld
u. a.); an zweiter Stelle
die ethnologischen Untersuchungen über die sogenannten «primitiven»
Bevölkerungen. Das religiöse Phänomen erschien dabei sowohl als nicht
reduzierbar auf andere Phänomene (vgl. R. Otto, Das Heilige, 1916)
als auch außerordentlich vielgestaltig im Bereich der Glaubensformen und
der Riten.
1.1.4.3. In dieser Hinsicht versuchte anfangs des 20. Jahrhunderts
die Religionsgeschichtliche Schule einerseits die Ursprünge und
die Entstehung der Religion Israels, andererseits das plötzliche
Auftreten der christlichen Religion vom Juden Jesus aus, und zwar in
einer zutiefst vom Synkretismus und Gnostizismus geprägten
hellenisierten Welt, unter einer genetischen und evolutiven Form zu
erklären. R. Bultmann (vgl. unten 1.1.8.) hat dieses Prinzip ohne Zögern
übernommen, um die Herausbildung der christologischen Sprache des Neuen
Testaments zu erklären. Das gleiche Prinzip bleibt ganz geläufig bei
jenen in Anwendung, die den christlichen Glauben nicht teilen. Die
Christologie verliert dabei jeden wirklichkeitsnahen Inhalt. Doch kann
man diesen letzteren durchaus bewahren, ohne den Erfordernissen der
«Religionswissenschaft» ihr Recht zu bestreiten.
1.1.5. Zugänge zu Jesus vom Judentum aus
1.1.5.1. Die jüdische Religion muß selbstverständlich an erster
Stelle studiert werden, um die Persönlichkeit Jesu zu verstehen.
Die Evangelien zeigen ihn tief verwurzelt in seinem heimatlichen Boden
und in der Tradition seines Volkes. Seit Anfang des Jahrhunderts
haben christliche Forscher zahlreiche Parallelen zwischen dem Neuen
Testament und der jüdischen Literatur erhoben (vgl. Strack-Billerbeck,
J. Bonsirven u. a.). In neuerer Zeit haben die Funde von Qumran und die
Wiedergewinnung des alten palästinischen Targums des Pentateuchs die
Fragen neu aufgeworfen und deren Studium angefacht. Anfangs stand hinter
dieser Forschung manchmal ein Bedürfnis, die Historizität des
Evangelienstoffes auf dem Hintergrund
des antiken Judentums zu unterstreichen. Heutzutage zielt man mehr
darauf ab, die jüdischen Wurzeln des Christentums zu begreifen, um dessen Ursprünglichkeit und Originalität
schärfer zu ermessen, ohne den Stamm aus den Augen zu verlieren, auf den
es aufgepfropft ist.
1.1.5.2. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg haben sich
jüdische Historiker, und zwar unter Überwindung einer jahrhundertealten
Feindschaft, die ihr Gegenstück bei den christlichen Predigern hatte,
unmittelbar für die Persönlichkeit Jesu
und für die christlichen Anfänge interessiert (J. Klausner, M. Buber, J.
G. Montefiore u. a.). Sie widmen sich der
Aufgabe, das Judesein Jesu, seine «Judaizität», zu betonen (z. 8. P. Lipide),
die Beziehungen seiner Lehre mit jener der rabbinischen Traditionen,
die prophetische oder weisheitliche Ursprünglichkeit einer Botschaft,
die zuinnerst an das religiöse Leben der Synagogen und des Tempels
gebunden ist. Inhaltliche Verbindungen wurden durch jüdische Historiker
(Y. Yadin u. a.) oder solche, die dem christlichen
Glauben fernstehen (J. Allegro), entweder von Qumran her gesucht oder
von den liturgischen Erläuterungen der Schrift her durch jüdische (z.B.
E. 1. Kutscher u. a.) oder christliche Autoren (R. Le Déaut, M.
McNamara u. a.).
1.1.5.3. Jüdische Historiker, interessiert am «Bruder Jesus» (Sch.
Ben Chorin), haben bestimmte Züge seiner Gestalt hervorgehoben, um in
ihm einen Lehrer wiederzufinden, der dem alten
Pharisäismus nahesteht (D. Flusser), oder einen Wundertäter
(Thaumaturge) analog zu jenen, deren Andenken die jüdische Tradition
bewahrt hat (G. Vermès). Einige versuchten, die Passionserzählungen
mit dem leidenden Gottesknecht im Buch Jesaja in Verbindung zu bringen
(M. Buber). Solche Anstrengungen müssen von christlichen
Theologen für das Studium der Christologie ernst genommen werden.
1.1.5.4. Die jüdischen Autoren (z.B. S. Sandmel u. a.) neigen jedoch
dazu, der Gestalt des Saulus von Tarsus transzendente Aspekte
zuzuerkennen, besonders eine göttliche
Abstammung. Diese Sicht der Dinge, eng verwandt mit derjenigen von
Historikern der Religionsgeschichtlichen Schule,
vernachlässigt keinesfalls immer das tiefe Judesein des Paulus
selbst. Es ist jedenfalls klar, daß das Studium des zeitgenössischen
Judentums Jesu in seiner umfassenden Vielschichtigkeit
eine unerläßliche Voraussetzung ist, um die Persönlichkeit Jesu und die
Rolle, die ihm das Urchristentum in der «Heilsökonomie» zuerkannt hat,
zu verstehen. Darüber hinaus kann sich auf dieser Grundlage zwischen
Juden und Christen ein
fruchtbarer Dialog ohne apologetische Absichten entfalten.
1.1.6. Christologie und «Heilsgeschichte»
1.1.6.1. In Abwehr des liberalen «Historizismus» (vgl. 1.1.3.1.) und
des idealistischen Monismus Hegels, der damals einen tiefgreifenden
Einfluß ausübte, haben sich im 19.
Jahrhundert deutsche protestantische Theologen (z.B. J. T. Beck, J.
Chr. K. von Hofmann) den Begriff «Heilsgeschichte» zu eigen gemacht, der
dem, was die Kirchenväter und die mittelalterlichen Theologen
«Heilsökonomie» nannten, recht nahe ist. Weil das Evangelium in der
durch den Glauben eröffneten Sehweise angenommen wurde, bemüht man sich,
in der menschlichen Geschichte die bezeichnenden Ereignisse, in
denen Gott sozusagen die Spur seines Eingreifens hinterlassen
hat und durch die er diese Geschichte ihrer «Erfüllung» zuführt,
herauszufinden. Diese Ereignisse bilden die eigentliche Leitlinie der
Bibel, und das «Ende» der so verstandenen
Geschichte erhält den Namen Eschatologie.
1.1.6.2. In der Sicht der Heilsgeschichte entfaltet sich die
Christologie auf mehrere Weisen, entsprechend dem gewählten Ausgangspunkt, um sie zu konstruieren.
a) Parallel zu den Untersuchungen über die Christustitel im Neuen
Testament (vgl. F. Hahn, V. Taylor, L. Sabourin u. a.) oder über
Christus als «Weisheit Gottes» (A. Feuillet u. a.), konstruiert 0.
Cullmann auf derselben Grundlage eine im wesentlichen «funktionale»
Christologie, die sich jedoch vor metaphysischen Analysen eines mehr
«ontologischen» Stils in acht nimmt. Die fraglichen Titel sind nämlich
sowohl die, welche Jesus sich selbst gegeben hat, nämlich im engen
Zusammenhang mit seinen Taten und seinem Verhalten, als auch die, welche
die Verkünder des Evangeliums ihm im Neuen Testament zuerteilt haben.
Sie betreffen das Wirken während seines irdischen Lebens, sein
gegenwärtiges Wirken in der Kirche, das endzeitliche (oder
eschatologische) Wirken, auf das die Kirche ihre Hoffnung setzt, aber
auch eine Präexistenz (P. Benoit). Von daher ist die Soteriologie (oder
Theologie der Erlösung) der Christologie einverleibt, anstatt daß sie
von ihr getrennt ist wie in den klassischen Traktaten.
b) W. Pannenberg nimmt zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen die Tatsache der Auferstehung Jesu als Vorwegnahme (oder «prophetische Antizipation») des
Endpunktes
der Gesamtgeschichte. Ganz der Auffassung, man könne deren Wahrheit auf dem Weg historischer Forschung aufzeigen, denkt er, daß zugleich die Göttlichkeit Jesu klar aufgewiesen ist.
Von diesem Ansatz her unternimmt er die Deutung seines Lebens und seines
Dienstes und sagt, die Predigt Jesu hat das Reich Gottes unter den
Menschen eröffnet, sein Tod hat ihr Heil verwirklicht und durch seine
Auferstehung hat Gott seine Sendung bestätigt.
c) J. Moltmann geht noch stärker von einer eschatologischen Sicht aus und betont,
die menschliche Geschichte erscheine in ihrer Gänze wie durch
eine Verheißung polarisiert und jene, die im Glauben an sie herangehen,
entdecken die Quelle einer Hoffnung, die auf das «Heil Gottes»
gerichtet ist. Diese muß die Existenz des Menschen in allen ihren
Ausmaßen berühren.
Tatsächlich war das der Fall in den prophetischen Verheißungen
des Alten Testaments. Das Evangelium jedoch vollendet seine Verheißungen
in der Verkündigung von Tod und Auferstehung Jesu-Christi. Am Kreuz hat
Gott in seinem Sohn die Strafe und den Tod der Menschen auf sich
genommen, um paradoxerweise daraus das Mittel zum Heil zu machen. Jesus
hat sich aus Liebe mit der sündigen und leidenden Menschheit
ganz und gar solidarisiert, um ihr eine Befreiung zu sichern, die sie in
ihrem ganzen Sein umfaßt, sei es auf der Ebene ihrer Beziehungen mit
Gott, sei es auf der psychologischen (anthropologischen) Ebene und der
des sozialen Lebens (soziologisch und politisch). Die Theologie der
Erlösung läuft so auf ein Aktionsprogramm hinaus. Eine ähnliche
Schwerpunktverlagerung findet man in der «sozialen Exegese» (vgl. G.
Theissen, E. A. Judge, A. J. Malherbe u. a.).
1.1.7. Christologie und Anthropologie
Unter diesen Titel gruppiert man verschiedenartige Zugänge, die als
gemeinsamen Schwerpunkt den Versuch zeigen, von verschiedenen
sozialen Gesichtspunkten der menschlichen Erfahrung und der
Anthropologie auszugehen. Diese Zugänge nehmen auf ihre
Weise wieder die Debatten auf, die im 19. und in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts über die «Zeichen der Glaubwürdigkeit», die
zum Glauben führen, geläufig waren. Die Versuche dieser Art nahmen als
Ausgangspunkt entweder die Überprüfung der äußeren Zeichen (klassische
Apologetik), oder die in ihrer Gesamtheit betrachtete religiöse
Erfahrung («modernistische» Versuchung), oder die inneren
Erfordernisse der menschlichen «Tat» (des Handelns, der Aktion:
M. Blondel). Seitdem stellen sich diese Probleme anders dar, aber ihre
Umformung hat starke Auswirkungen im Bereich der Christologie gehabt.
1.1.7.1. P. Teilhard de Chardin stellte den Menschen dar als den
«Endsproß» der Entwicklung des Weltalls. Christus,
menschgewordener Gottessohn. wird von seinen Ursprüngen her als das vereinheitlichende Prinzip der Menschheitsgeschichte und
des Universums gesehen. Durch die Geburt und die Auferstehung Jesu
enthüllt sich so für die Glaubenden der zusammenhängende Sinn des ganzen
«menschlichen Phänomens».
1.1.7.2. Bei K. Rahner wird der Ausgangspunkt des Nachdenkens in der menschlichen Existenz gesucht, die
er in einer Weise analysiert, welche er «transzendental» nennt, und die
grundsätzlich Erkenntnis, Liebe und Freiheit ist. Diese Dimensionen des
Daseins sind jedoch ganz und gar in der Person Jesu während seines
irdischen Lebens verwirklicht. Durch seine Auferstehung, sein Leben in
der Kirche und die Gabe des Glaubens, den der Heilige Geist den
Glaubenden einstiftet, macht er allen die Verwirklichung des Menschseins
möglich, das ohne ihn in einem völligen Scheitern enden würde.
1.1.7.3. H. Küng befaßt sich intensiv mit der gegenüberstellenden
Begegnung von Christentum, Weltreligionen und modernen Humanismusformen
und widmet sich der historischen Existenz des Juden Jesus. Er prüft die
Art und Weise, wie Jesus die Sache Gottes und die der Menschen angepackt
hat, das Drama, welches ihn in den Tod führte, schließlich den neuen
Lebensstil, den er vorlebte und zu dem er aufrief und den der Geist in
der Kirche unaufhörlich hervortreten läßt. Christliches Handeln
erscheint so als ein «radikaler Humanismus», der dem Menschen
seine authentische Freiheit gibt.
1.1.7.4. Indem er die persönliche Erfahrung Jesu untersucht,
will Schillebeeckx zwischen dieser und der allgemein
menschlichen Erfahrung eine Brücke herstellen. Er setzt sie
zunächst mit der Erfahrung der ersten Mitarbeiter Jesu in
seinem Leben in Verbindung. Der Tod, den Jesus als «eschatologischer
Prophet erlitt,
hat ihrem Glauben an ihn kein Ende gesetzt. Die Verkündigung seiner
Auferstehung, als göttliche Bestätigung seines Lebens verstanden, wird
zeigen, daß sie in ihm den Sieg Gottes über den Tod
und die Heilsverheißung für all jene, die ihm in der Kirche nachfolgen
wollen, erkannt hatten.
1.1.8. Die «existentiale» Interpretation Jesu Christi
In Zugang des anthropologischen Typs ist auch der, den man in
der «existentialen» Interpretation der Evangelien findet, wie
sie der Exeget und Theologe R. Bultmann vorgeschlagen hat.
1.1.8.1. Bultmann stellt in der Exegese zunächst die negativen
Ergebnisse fest, zu denen die Forschungen über das «Leben Jesu» im
liberalen Protestantismus geführt hatten.
Diese Untersuchungen können nach seiner Auffassung der Theologie
keineswegs als Grundlage dienen. In Übereinstimmung mit der
Religionsgeschichtlichen Schule gelangt er zu der
Einsicht, daß die Glaubensformen des Urchristentums das Ergebnis eines
Synkretismus von jüdischen, besonders aus den apokalyptischen Umfeldern,
mit heidnischen Elementen, besonders aus der hellenistischen
Frömmigkeit, gewesen sind. Auf diese Weise wird der «Jesus der
Geschichte» mehr als je vom «Christus
des Glaubens» getrennt (entsprechend dem von M. Kähler Ende des 19.
Jahrhunderts aufgestellten Grundsatz).
1.1.8.2. Nichtsdestoweniger will Bultmann ein gläubiger
Christ bleiben, der ein theologisches Werk unternimmt. Um
aber den Wert der Verkündigung im Evangelium, die die Haltung Jesu vor
Gott bestimmt hatte, zu retten, reduziert er diese schließlich auf die Ansage der Vergebung, die
Gott den Sündern gewährt, und diese Ansage ist bestimmt durch das Kreuz Jesu, wahres
«Wort» Gottes, das in ein geschichtliches Ereignis eingeschrieben ist.
Das ist in seinen Augen der
eigentliche Inhalt der Osterbotschaft. Diese erfordert ihrerseits
als Antwort eine «Glaubensentscheidung» (vgl. S. Kierkegaard),
die allein dem Menschen den Eintritt in eine neue, voll «authentische»
Existenz verbürgt. Dieser Glaube hat als solcher keinerlei
Lehrinhalt, denn er hat «existentiellen» Rang, sofern er
Sicheinlassen auf jene Freiheit bedeutet, die den Menschen in die
Hände Gottes zurückversetzt.
1.1.8.3. Nach Bultmann
wurden die christologischen und soteriologischen Formeln, die im Neuen
Testament auftreten, in der «mythologischen» Sprache der damaligen
Zeit verfaßt. Die Sprache muß daher «ent-mythologisiert» werden,
das heißt, sie muß unter Berücksichtigung der Gesetzmäßigkeiten
mythologischer Sprachform interpretiert werden, um das Ziel einer «existentialen»
Interpretation zu verfolgen. Diese zielt nicht nur darauf ab,
die praktischen Konsequenzen
der Evangeliumsbotschaft aufzuzeigen, sie hat es vielmehr darauf abgesehen,
jene «Kategorien» freizulegen, die die «erlöste» menschliche Existenz
strukturieren. In dieser Hinsicht ist Bultmann mit seiner
Betrachtungsweise stark von der Philosophie M. Heideggers in Sein
und Zeit abhängig.
1.1.8.4. Bei seiner exegetischen Arbeit hat Bultmann, wie
auch seine Zeitgenossen M. Dibelius und K. L. Schmidt, die
klassische Literarkritik überschritten, um auf die Kritik der
literarischen «Formen», die zur «Bildung» der Texte beigetragen haben,
zurückzugreifen (Formgeschichte). Dabei handelt es sich weniger
darum, aus den Texten des Evangeliums einen
auf Jesus bezogenen historischen Inhalt herauszufinden, als
vielmehr die Verbindung dieser Texte mit dem konkreten Leben der
«Urgemeinde» festzustellen, indem bestimmt wird,
welchen Stellenwert sie in ihr hatten und welche Funktion sie in
ihr erfüllten (Sitz im Leben), um so die unterschiedlichen
Aspekte ihres Glaubens unverfälscht an der Quelle in den Griff
zu bekommen. Ohne in diesem Punkt die Forderungen Bultmanns
zu verleugnen, haben seine eigenen Schüler (E. Käsemann u.
a.) die Notwendigkeit zum Ausdruck gebracht, Jesus selbst wieder an den
Ursprüngen der Christologie zu entdecken.
1.1.9. Christologie und soziale Verpflichtungen
1.1.9.1. Insofern das menschliche Dasein durch das Leben in
der Gesellschaft bedingt ist, beherrscht das besondere
Augenmerk auf die vom sozialen Leben gestellten praktischen Probleme die
Betrachtungsweise einer bestimmten Anzahl von «Lesern», Theologen wie
Nichttheologen, die ihre besondere Aufmerksamkeit auf Jesus gerichtet
haben. Indem sie die Fehler und Schwächen der menschlichen
Gesellschaftsgruppen kritisch beobachten oder gar erfahren, wenden sie
sich der« Praxis» Jesu zu, um dort ein Modell zu
suchen, das auf unsere Zeit angewandt werden kann. Seit dem 19.
Jahrhundert
interessieren sich die Formen des utopischen Sozialismus (vgl. Proudhon) für
bestimmte Gesichtspunkte des Evangeliums. Marx selbst stand teilweise
unter dem Einfluß des biblischen Messianismus, auch wenn er den
religiösen Faktor als ganzen verwarf und ablehnte, und F.
Engels interpretierte die Hoffnung des Urchristentums, wie sie sich etwa
in der Apokalypse darstellt, auf dem Hintergrund seiner Theorie
vom «Klassenkampf».
1.1.9.2. In unseren Tagen suchen die Befreiungstheologien, wie sie vor allem in Lateinamerika erarbeitet worden sind, in «Christus
dem Befreier», den einige Historiker als politischen Gegner der
römischen Besatzungsmacht dargestellt haben (vgl. S. G. F. Brandon), die
Begründung einer «Praxis» und einer Hoffnung. Hat Jesus nicht
entschieden für die Sache der Armen Partei ergriffen, und hat er
nicht entschieden die Auswüchse von Unterdrückungsmächten in den
wirtschaftlichen, politischen, ideologischen und sogar religiösen
Bereichen bekämpft, um den Menschen eine soziale und politische Freiheit
zu bringen? Die fraglichen Theologien haben jedoch vielseitige Formen.
Die einen unterstreichen den globalen Charakter der notwendigen
Befreiung, wobei sie die grundlegende Beziehung des Menschen
mit Gott einbeziehen (vgl. G. Gutierrez, L. Boff u. a.). Andere
setzen den Schwerpunkt hauptsächlich auf die
sozialen Beziehungen der Menschen untereinander (z. B. J. Sobrino).
1.1.9.3. Tatsächlich sehen eine ganze Reihe von atheistischen
Marxisten bei ihrer Suche nach einem «Prinzip Hoffnung» (E. Bloch) in
der auf die Bruderliebe gegründeten «Praxis» Jesu einen weit
offenstehenden Pfad, um in der Geschichte jene neue Menschheit erstehen
zu lassen, in der sich das Ideal des reinen «Kommunismus» verwirklichen
wird (z. B. M. Machovec).
1.1.9.4. Leser des Evangeliums, welche grundsätzlich die Deutung
sozialer Phänomene und menschlicher Geschichte so annehmen, wie sie von
gewissen Strömungen des
zeitgenössischen Marxismus vorgeschlagen werden, wenden
diese analytischen Methoden auch auf Texte des Neuen Testaments an
und schlagen eine materialistische Bibelauslegung vor. Sie leiten
so aus den Texten die Prinzipien einer befreienden «Praxis» ab, die
ihrer Meinung nach von jeder «kirchlichen Ideologie» losgelöst sein muß,
um ihre eigenen sozialen Verpflichtungen und Versprechungen zu begründen
(z.B. F. Belo). Gewisse Arbeitsgruppen, in denen durchaus
auch aufrichtige Christen in Erscheinung treten können, berufen sich
auf diese Methode, die gern die Theorie mit der Aktion verbinden möchte,
ohne sich unbedingt auf die theoretischen Ziele des «dialektischen
Materialismus» einzulassen.
1.1.9.5. All diese «Leseweisen» konzentrieren ihre Aufmerksamkeit auf
den «Jesus der Geschichte». In der Tat war ihrer Auffassung nach der
Mensch Jesus der eigentliche Initiator einer befreienden «Praxis»,
dessen Tatvorbild in der heutigen Welt mit neuen Mitteln übernommen
werden muß. Unter einem bestimmten Blickwinkel nehmen jene Vorhaben,
die sich in diese Richtung entfalten, den Platz ein den in der
klassischen Theologie die Lehre von der Erlösung und der
Sozialethik innehatte.
1.1.9.6. In einer spürbar anderen Sicht erscheinen
Forschungen im Blick auf eine praktische Theologie, die sich an
Fragestellungen des sozio-politischen Bereichs anlehnt und den Menschen,
vor allem den armen und unterdrückten Klassen, das Angebot einer
wirkungsvollen und realisierbaren Hoffnung macht. Durch das Kreuz
Christi hat sich Gott mit der leidenden Menschheit solidarisiert, um
ihre Befreiung zu erwirken (vgl. J. B. Metz). Das läuft geradezu auf
den Bereich der Ethik hinaus.
1.1.10. Systematische Forschungen neuen Stils
1.1.10.1. Unter diesem Titel werden zwei Synthesen
behandelt, in denen die Christologie wie eine theologische Offenbarung von Gott selbst verstanden wird, nämlich bei K. Barth und H. U.
von Balthasar. Zwar werden die Ergebnisse der Bibelkritik nicht
ignoriert, aber erst durch den Rückgriff auf die
Heilige Schrift in ihrer Ganzheit wird es möglich, eine systematische
Synthese zu entwerfen. Jesus von Nazareth und der Christus des Glaubens
bilden zwei «Sehweisen», die aber zutiefst vereinigt sind, um so die Selbstoffenbarung Gottes in der
Menschheitsgeschichte darzustellen. Diese Offenbarung
enthüllt sich selbstverständlich ausschließlich im Glauben (K.
Barth). Für H. U. von Balthasar enthüllt die Selbstentäußerung
Christi, die sich in seinem radikalen Gehorsam dem Vater gegenüber
bis zum Tod am Kreuz äußert, einen wesentlichen Gesichtspunkt
des innertrinitarischen Lebens selbst, insofern es durch die Annahme der
Todeserfahrung zugleich das Heil der sündigen Menschheit bewirkt.
1.1.10.2. Bei Barth gewinnt die gesamte Existenz Christi ihren
vollständigen Sinn daraus, daß er das maßgebliche Wort des Vaters
ist. Indem Gott durch seinen Geist in der Kirche dieses Wort mitteilt,
eröffnet er den Weg zu einer Ethik, die von den Glaubenden einen
Einsatz in der Weltzeit erfordert, so daß auch das politische
Leben keineswegs aus dem Blick fällt. Bei
Balthasar, der eine Betrachtung Gottes über den Weg der «Ästhetik» betreibt, sind
rationales Denken, historische Untersuchungen und Hingabe menschlicher
Freiheit in Liebe in das Ostergeheimnis integriert. Auf diese
Weise deutet sich skizzenhaft eine Geschichtstheologie an, die
idealistischen und materialistischen Verkürzungen entrinnt.
1.1.11. Christologie von oben und von unten
1.1.11.1. Unter den
hier gesichteten christologischen Forschungen stellen sich jene, die vom «historischen Jesus»
ausgehen, gewissermaßen als «Christologien von unten» dar. Umgekehrt können jene, die die Sohnesbeziehung Jesu zu GottVater betonen, als «Christologien von oben» bezeichnet werden. Viele Versuche von heute bemühen sich, beide Gesichtspunkte zu verbinden. Ausgehend von kritischer Textanalyse
zeigen sie, daß die in den Worten und der menschlichen
Erfahrung Jesu enthaltene Christologie (implizite Christologie) eine tiefe Kontinuität mit den expliziten Christologien,
die
man im Neuen Testament findet, aufzeigt. Diese enge Verbindung wird auf verschiedenen Wegen aufzuweisen versucht (vgl. L. Bouyer,
R. Fuller, C. F. D. Moule, I. H. Marshall. B. Rey Chr. Duquoc, W.
Kasper. M. Hengel, J. D. G. Dunn u. a.).
1.1.11.2. Die einzelnen Ausrichtungen und Schlußfolgerungen all
dieser Autoren sind weit davon entfernt, voll und ganz übereinzustimmen,
aber sie treffen sich doch in zwei Hauptpunkten:
a) Man muß unterscheiden, wie sich Jesus
einerseits selbst dargestellt hat und wie er von seinen Zeitgenossen
(Familie, Gegner, Feinde, Jünger) verstanden werden konnte, und
andererseits die Auffassung, daß seine Erscheinungen als Auferstandener von
seinem Leben und seiner Person etwas an jene vermittelt haben, die an
ihn glaubten. Zwischen diesen beiden Phasen gibt es keinen Bruch; jedoch
beobachtet man eine beachtliche Transformation, die für die
Christologie selbst
konstitutiv ist. Diese muß ihrerseits die Grenzen des «Jesus von Nazareth» respektieren und doch auch verstehen, in ihm den «Christus
des Glaubens» anzuerkennen, der durch seine
Auferstehung im Licht des Heiligen Geistes voll und ganz offenbart wurde.
b) Man muß auch festhalten, daß die einzelnen Schriften des
Neuen Testaments ganz verschiedenartige Verstehensweisen des
Christusgeheimnisses widerspiegeln. Aber sie tun das immer mit Berufung
auf die Sprache der Schriften, denn diese
haben sich in Jesus, dem Heiland der Welt, «erfüllt». Ihre Erfüllung
setzt also einen Sinnüberschuß voraus, gleich ob es sich um jenen Sinn
handelt, den die biblischen Texte ursprünglich umfaßten, oder um jenen,
den das Judentum ihnen zuschrieb, als es sie zur Zeit Jesu
ausdeutete. Dieser Sinnüberschuß ist nicht etwa nur das
Ergebnis einer einfachen theologischen Spekulation, er hat vielmehr seinen Ursprung in der
Person Jesu selbst, dessen ureigene Züge er zu verdeutlichen erlaubt.
1.1.11.3. Unter diesem besonderen Blickwinkel gehen Exegeten und
Theologen die Frage nach der individuellen Persönlichkeit Jesu an.
a) Diese Persönlichkeit wurde ausgebildet und zugeschnitten durch
eine jüdische Erziehung, deren Werte sie in vollem Umfang
aufgenommen hat. Aber Jesus wurde auch ausgestattet mit einem ursprünglichen und
originalen Selbstbewußtsein, sowohl hinsichtlich seiner Beziehung zu
Gott als auch im Hinblick auf seine Sendung, die er bei den Menschen
erfüllen sollte. Die Texte verpflichten dazu, eine Entwicklung dieses Selbstbewußtseins Jesu ins Auge zu fassen (vgl. Lk 2,40.52).
b) Aber Exegeten wie Theologen widerstrebt
es, eine «Psychologie» Jesu zu entwickeln, und zwar sowohl wegen der kritischen
Schwierigkeiten der Textanalyse, als auch aufgrund der Gefahr mißbräuchlicher und abwegiger Spekulationen,
gleich ob sie übertreiben oder herunterspielen. Sie haben Achtung vor dem Geheimnis
einer Persönlichkeit, die Jesus selbst nicht ausdrücklich zu erklären
versuchte, wenn er auch etwas von seinen innersten Geheimnissen durch
seine Worte oder
seine Taten aufscheinen ließ (H. Schürmann). Die verschiedenen
Christologien des Neuen Testaments haben ebenso wie
die Konzilsdefinitionen, welche denselben Aussagegehalt erneut
aussprachen, indem sie auf «Hilfssprechweisen» zurückgriffen, die Richtung angegeben, in die das forschende
Denken weitergehen kann, ohne das Geheimnis selbst genau zu umschreiben.
1.1.11.4. Exegeten und Theologen sind sich auch einig darin,
bei ihrem Nachdenken über Jesus Christus Christologie und
Soteriologie nicht zu trennen. Das Wort Gottes ist Fleisch geworden
(Joh 1,14), um eine Heilsmittlerrolle zwischen Gott und den Menschen
auszuüben. Wenn er der «gänzlich freie»
Mensch und der «Mensch für die anderen» sein konnte, so
deswegen, weil diese Freiheit und diese Selbsthingabe ihre
Quelle in seiner Nähe zu Gott hatte, zu dem er sich wie zu seinem Vater
wenden konnte, und zwar in einem ganz besonderen und tatsächlich
einmaligen Sinn. Die Fragen nach dem Wissen und
der Präexistenz Christi stellen sich unvermeidlich, aber sie kommen erst
aus einer späteren Phase der Erforschung der Christologie.
ABSCHNITT 2: RISIKEN UND GRENZEN DIESER VERSCHIEDENEN ZUGÄNGE
Jeder dieser Zugänge und Annäherungsweisen, die hier angesprochen
wurden, hat seine Stärken und Punkte für sich, seine Verwurzelung in den
biblischen Texten, seinen Reichtum und
seine eigene Fruchtbarkeit. Aber viele von ihnen bergen
das Risiko, sofern man sie allein anwendet, nicht die Ganzheit der
biblischen Botschaft auszusagen oder selbst ein verkürztes und
verstümmeltes Bild von Jesus Christus zu verbreiten. Man muß daher ganz
genau die Grenzen mehrerer dieser Zugänge ermessen.
1.2.1.Die theologischen Zugänge klassischen Stils sind zwei
Klippen ausgesetzt:
1.2.1.1. Die Ausformulierung der christologischen Lehrsätze hängt mehr von der Sprache patristischer und mittelalterlicher Theologen als
von der des Neuen Testaments selbst ab, so als ob diese letztendliche
Quelle der Offenbarung ihrerseits zu
wenig genau wäre, um der kirchlichen Lehre eine gut definierte
Glaubensformulierung zu liefern.
1.2.1.2. Der Rückgriff auf das Neue Testament ist oft gekennzeichnet
von der Sorge um die Verteidigung oder Begründung der sogenannten
«traditionellen» Lehre in ihrer «klassischen»
Darlegungsform und riskiert daher, zu wenig für bestimmte kritische Probleme, denen die Exegese nicht ausweichen kann,
offen zu sein. Zum Beispiel kann es vorkommen, daß man zu leichtgläubig
vereinfacht, die Historizität sämtlicher
Einzelheiten in bestimmten Erzählungen des Evangeliums annimmt, während
sie eine hohe theologische Aussagefunktion entsprechend den
literarischen Gepflogenheiten der
damaligen Epoche haben, oder daß man die wortwörtliche Authentizität
bestimmter Aussagen, die die Evangelien Jesus in den Mund legen,
annimmt, während sie in ganz unterschiedlicher Weise in
diesen Evangelien berichtet worden sind. Bestimmte Fragen werden
auf diese Weise vernachlässigt, obwohl sie von unseren
Zeitgenossen völlig zu Recht aufgeworfen werden, und man läuft Gefahr,
Lehraussagen an kritischen Problemlösungen des mehr «konservativen»
Typs, die aber umstritten sind, aufzuhängen.
1.2.3.1. Dennoch genügen einfache Textanalysen nicht. Denn
tatsächlich wurden diese Texte in einer Gemeinschaft, die nicht von
abstrakten Ideen lebte, redigiert und weitergegeben, vielmehr lebte sie
aus dem entstehenden und fortschreitenden vertieften Glauben die
Auferstehung Jesu, dem in die Erfahrung verschiedener jüdischer
Gemeinden eingepflanzten Heilsereignis.
1.2.3.2. Da in diesem Punkt zwischen dem Glauben der jüdischen
Gemeinden und dem der christlichen Kirche ein Hauptunterschied besteht,
könnte man versucht sein, die geschichtliche Kontinuität zwischen dem
ersten Glauben der Apostel, der durch «das Gesetz des Mose, die
Propheten und die Psalmen» (Lk 24,44) strukturiert war, und dem durch
ihre Beziehung mit dem auferstandenen Christus erworbenen Glauben zu
vergessen. Doch ist diese Kontinuität auch eine geschichtliche
Gegebenheit, denn es gab eine Kontinuität in ihrer religiösen Haltung
gegenüber dem Gott Abrahams und Moses' vor wie nach
dem Osterereignis. Sie lebten mit dem «Jesus der Geschichte», bevor
sie mit dem «Christus des Glaubens» lebten. Was auch immer die
subjektiven Ansätze und Neigungen heutiger
Forscher sein mögen, sie müssen so die tiefe Einheit der Christologie
des Neuen Testaments selbst im Innern
seiner Entwicklung wiederentdecken.
1.2.4. Wie notwendig auch der Rückgriff auf die Vergleichende
Religionswissenschaft für das Studium der christlichen Anfänge
ist, sie beinhaltet zwei Risiken.
1.2.4.1. Sie kann durch ein vorgefaßtes Urteil beherrscht werden,
wonach sich die Religion Christi wie alle analogen Fälle durch die synkretistische Vermischung von im Entstehungsmilieu
vorgegebenen Elementen erklären lassen muß, nämlich jüdischen Elementen
und aus dem zeitgenössischen Heidentum stammenden Elementen, da sie aus
der Begegnung zwischen einer
Glaubensgruppe jüdischen Ursprungs und einem hellenistischen Milieu, aus
welchem diese Gruppe Anleihen gemacht haben müsse, hervorgegangen sei.
In Wirklichkeit aber hatte das Judentum schon seit dem 3. Jahrhundert
vor unserer Zeitrechnung dem Hellenismus die Stirn geboten, sei es, um
jene Elemente, die seiner eigenen Überlieferung zuwider waren,
zurückzuweisen sei es, um jene Werte, die es bereichern konnten, zu
assimilieren. Indem es den folgenden Jahrhunderten eine griechische
Bibelübersetzung hinterließ (Septuaginta), hatte es bereits den Gewinn
seiner kulturellen Anpassung nachgewiesen. Das Urchristentum, das diese
Bibel erbte, hat sich dann auf einen ähnlichen Weg eingelassen.
1.2.4.2. Ebenso läuft man Gefahr, den urchristlichen Gemeinden eine kreative
Fähigkeit zuzusprechen, die bar jeder inneren Leitung gedacht
wird, als ob die Kirchen weder einen Rahmen von Verfaßtheit noch eine
tragende Tradition gehabt hätten. Jenseits der Grenze liegt es,
wenn Historiker in Jesus Christus lediglich einen jeder
Geschichtlichkeit entkleideten «Mythos» sehen wollten. Doch wird diese
paradoxale Mutmaßung in den meisten Fällen vermieden. Aber eine
bestimmte Anzahl von ungläubigen Historikern meint, daß die Gemeinden
des hellenistischen Christentums aus dem «Heiland» der jüdischen
Überlieferung den zentralen «Helden» einer «Heilsreligion» gemacht
hätten, und zwar parallel zu den «Kultmysterien». Die
Religionswissenschaft erfordert keinesfalls das evolutionistische Postulat, das solche Sicht bestimmt. Sie bemüht sich, «Konstanten»
herauszuarbeiten, aber sie nivelliert nicht die Glaubensformen bis hin
zu ihrer Verfälschung. Wie für alle Religionen, muß sie die spezifische
Eigenart der Religion Christi, die an die Originalität des
«Evangeliums» gebunden ist, aufdecken. Auf diese Weise kann sie über den
Umweg der Phänomenologie den Weg auf die Christologie selbst
hin eröffnen.
1.2.5. Das vertiefte Studium der
jüdischen Umwelt ist wesentlich, um die Person Jesu und das Leben
der christlichen Kirche mit ihrem ursprünglichen Glauben zu verstehen.
1.2.5.1. Wird die Erforschung Jesu ausschließlich unter diesem
Gesichtspunkt betrieben, riskiert sie allemal, seine Persönlichkeit zu
verstümmeln, gerade dort, wo sie ihr Judesein aufscheinen läßt. Wäre er
nur ein Lehrer unter anderen, wäre er dann nicht der Tora- und
Prophetentradition am meißten treu? Oder wenn ein Prophet, dann Opfer
eines schrecklichen Mißverständnisses? Ein Wundertäter, vergleichbar
einigen anderen, deren Andenken die jüdische Literatur bewahrt hat? Oder
ein politischer Agitator, der schließlich Opfer der römischen Gewalt
wurde, zusammen mit der Komplizenschaft der Hohenpriester, die ihn nicht
verstanden hätten?
1.2.5.2. Es trifft zu, daß die Spannungen, die Jesus in Gegensatz zu
pietistischen Strömungen der Pharisäer
brachten, Streitigkeiten unter Brüdern gleichen, die alle am selben Erbe
teilhaben. Aber die spätere Lebenskraft der von ihm ausgehenden
Bewegung, nachdem er von den religiösen Führern seiner Nation verworfen
worden war, zeigt doch, daß die fundamentale Entzweiung zwischen ihm und ihnen
eine tiefere Ursache hatte, selbst wenn man
zugibt, daß die Erzählungen des Evangeliums in dieser Hinsicht die
Ausgangslage noch verschärfen und verhärten konnten. Es zielte auf eine
Weise der Gottesbeziehung und der «Schrifterfüllung» ab, was Jesus
durch sein Evangelium vom Gottesreich seinen Zeitgenossen
nahebrachte. Ein vertieftes Studium des Judeseins Jesu kann diesen
Punkt nicht vergessen.
1.2.6. Der Zugang zu Jesus Christus vom Begriff der Heilsgeschichte aus
hat bedeutende Ergebnisse gebracht, wenn auch der Ausdruck
«Heilsgeschichte» zu unbestimmt bleibt. Die Fragen, die er
noch offenläßt, wechseln bei den Autoren, die diesen Zugang anwenden.
1.2.6.1. Das Wort «Geschichte» hat mindestens in den vom Lateinischen
abgeleiteten neuen Sprachen und im Englischen nicht denselben Sinn,
wenn man von Jesus als «geschichtlicher» Persönlichkeit und von Heilsgeschichte spricht.
Das Deutsche kann eine Unterscheidung zwischen Historie und Geschichte einführen,
aber es ist eine schwierige Frage, welcher Begriff
jeweils zu verwenden ist. Die Geschichte Jesu ergibt sich tatsächlich
aus dem empirischen Erfahrungsbereich, der durch das Studium der
Dokumente zugänglich ist, während sich die Heilsgeschichte daraus eben
nicht von selbst ergibt. Sie schließt die Gemeinschaftserfahrung zwar
ein, aber setzt im bezug auf sie eine Verständnisweise voraus, zu
der man durch Glaubenseinsicht gelangen kann. Man muß diese
Unterscheidung unbedingt beachten, um die Christologie auf ihrem rechten
Gebiet anzusetzen. Das setzt beim Historiker wie beim Theologen ein
Offensein für das Glaubensleben und die «Glaubensentscheidung» voraus,
die den Zugang dazu gewährt.
1.2.6.2. Diese Beobachtung trifft insbesondere für die Auferstehung
Christi zu, welche aufgrund ihrer Natur einer rein empirischen
Feststellung geradezu entweicht. Denn sie führt Jesus in die «kommende
Welt» ein. Ihre Wirklichkeit kann sich überschneiden mit Erscheinungen
Christi in Herrlichkeit vor auserwählten Zeugen, und sie wird bekräftigt
durch die Tatsache des offen und leer aufgefundenen Grabes. Aber man
darf diese Frage nicht vereinfachen und voraussetzen, daß jeder
Historiker allein mit den Mitteln seiner wissenschaftlichen Forschung
die Auferstehung als eine Tatsache beweisen
könnte, die jedem beliebigen Beobachter zugänglich gewesen wäre. Gerade
in dieser Frage bestimmt die «Glaubensentscheidung» oder besser die
«Offenheit des Herzens» die eigene Stellungnahme.
1.2.6.3. Was nun die Christustitel angeht, so genügt es nicht,
zwischen jenen, die er selbst während seines Lebens verwendet hat,
und jenen, die ihm durch die Theologen des apostolischen Zeitalters
gegeben worden sind, zu unterscheiden. Man muß vielmehr die funktionalen Titel,
die seine Rolle bei der
Verwirklichung des Menschheitsheils umschreiben, von den Titeln unterscheiden,
die seine Beziehungen mit Gott, dessen Sohn und Wort er ist, betreffen.
Bei der Untersuchung dieser Frage hat die Überprüfung seines Verhaltens und
seiner Taten keine geringere Bedeutung als die der Titel, denn
die Taten enthüllen das tiefere Wesen in der Person.
1.2.6.4. Die Spannung der Heilsgeschichte auf die Eschatologie hin und die Hoffnung, die diese hervorbringt, haben bedeutsame Folgen
für die christliche «Praxis» inmitten der menschlichen Gesellschaftsgruppen. Aber das Wort «Eschatologie» ist
in sich zweideutig. Ereignet sich die «Endzeit» jenseits der
geschichtlichen Erfahrung? Hat Jesus das Ende «dieser Welt
hier» angekündigt, noch bevor die Generation, in der er lebte,
vorübergeht? Oder hat er damit eine neue Sicht auf die Bedingung, unter
der die Geschichte selbst ablaufen
könnte, eröffnet? Handelt es sich dabei nicht um die letzte Phase der «Heilsökonomie»,
die durch die Verkündigung des Evangeliums vom Gottesreich
zwar eingeleitet, aber noch nicht vollendet ist und die sich in die
Gesamtdauer der Kirchengeschichte hinein ausdehnt? Eine authentische
Christologie muß all diese Fragen klären.
1.2.7. Das Risiko bestimmter anthropologischer Zugänge, die recht
verschiedene Denkweisen umfassen, liegt darin, gewisse Bestandteile
dieses komplexen Wesens, das der Mensch in seiner Existenz und in der
Geschichte ist, herunterzuspielen und zu unterschätzen, was zu einer
verkürzten Christologie führen könnte.
1.2.7.1. Wird bei der Erforschung des menschlichen Phänomens dessen
religiöser Aspekt und seine geschichtliche Entfaltung immer ausreichend
untersucht, damit die Person Jesu und die Gründung der Kirche im
Schoß des Judentums auch zutreffend in den Verlauf der Gesamtentwicklung
eingeordnet ist? Läßt eine optimistische Sicht der Evolution auf den
«Punkt Omega» hin genügend Raum für das Problem des Bösen und für
die Bedeutung des Todes Jesu, selbst wenn man daneben mit Krisen
rechnet, welche die menschliche Evolution
durchschreiten muß? Die Erforschung Jesu und der Christologien des Neuen
Testaments können in dieser Hinsicht notwendige
Ergänzungshinweise geben.
1.2.7.2. Die spekulativen Versuche zu einer philosophischen
Analyse der menschlichen Existenz laufen Gefahr, von jenen
zurückgewiesen zu werden, die deren Grundlagen ablehnen. Gewiß werden
die biblischen Gegebenheiten nicht übersehen;
aber sie müssen oft erneut ausgewertet werden, indem den Erfordernissen
der Kritik und der Pluralität der Christologien mitten im Neuen
Testament besser Rechnung getragen wird. Nur so kann
die philosophische Anthropologie sowohl mit der personal-irdischen
Existenz Jesu, als auch mit der Funktion des
verherrlichten Christus in der christlichen Existenz konfrontiert werden.
1.2.7.3. Es ist richtig, als Ausgangspunkt eine historische Annäherung an
den Menschen Jesus zu wählen, nämlich sein Leben
als Jude, seine Verhaltensweisen
und seine Predigt, sein Selbstbewußtsein und die Art, wie
er seine Sendung dargestellt hat, die Sehweise seines Todes und
der Sinn, den er ihm geben konnte, die Anfänge des Glaubens an seine
Auferstehung und die Deutungen seines Todes in der Urkirche, die
Ausarbeitung der Christologie und der Soteriologie im Neuen Testament.
Aber man läuft Gefahr, die auf der Lehrebene erzielten Ergebnisse von
den von vornherein benutzten kritischen Hypothesen abhängig werden zu
lassen. Behält man auf Grund der Methode nur die am
meisten eingeschränkten bei, könnte die Christologie eines Teils ihres
Inhaltes entleert werden. Das beobachtet man vor allem dann, wenn die
als «die ältesten Texte» vermuteten als solche
betrachtet werden, die allein wirklich maßgeblich seien, und wenn die
jüngeren Texte als bloß zweitrangige Spekulationen betrachtet werden,
die die «ursprünglichen», dem «geschichtlichen Jesus» zuerteilten
Gegebenheiten grundlegend verändert hätten. Haben diese Texte zu ihrer
Zeit nicht der Aufgabe gedient, auf Grund einer Betrachtung über das
Alte Testament und eines vertieften Nachdenkens über die Worte und Taten
Jesu das glaubende Verständnis Christi, das von Anfang an
umfassend und dem Wesen nach erhalten wurde, auszulegen? Die dem
Alten Testament zufallende Rolle, dessen Autorität weder durch Jesus
noch durch seine Jünger bestritten wurde, wird dabei womöglich zu
sehr vernachlässigt, was die Auslegung des Neuen Testaments selbst
verfälschen würde.
1.2.7.4. Es ist völlig gerechtfertigt zu versuchen, eine
Kontinuität zwischen der Erfahrung Jesu und der christlichen Erfahrung herzustellen.
Dann muß aber auch, ohne sich den einschränkenden Hypothesen
anzuschließen, aufgewiesen werden, wie und in welchem Sinn Jesus, der
«endzeitliche Prophet», im Glauben als Sohn Gottes anerkannt wurde; wie
der Glaube und die erst entstehende
Hoffnung seiner Jünger sich in Gewißheit seines Sieges über den Tod
wandeln konnten; wie man mitten in den Konflikten, welche die Gemeinden
der apostolischen Zeit quälten, die wahre «Praxis», wie Christus sie
wollte, erkennen konnte, welche die authentische Jesusnachfolge begründete;
wieso die verschiedenartigen Deutungen seiner Person und
Heilsmittlerrolle, wie man sie im Neuen Testament findet, als wahrer Ausdruck dessen, was er
wirklich war, und der in ihm und durch ihn angekommenen Offenbarung
betrachtet werden konnten. Kann man die Verschwommenheit bei der
Darbietung der Christologie dadurch vermeiden, daß man diesen
Bedingungen Rechnung trägt?
1.2.8. Der auf die existentiale Analyse gegründete Zugang unterstreicht ganz
betont durch seine Hervorhebung des persönlichen Sicheinlassens des
Glaubenden auf Gott nach dem Vorbild des Glaubensgehorsams Jesu selbst
das enge Band zwischen der Exegese, dem theologischen Nachdenken und dem
lebendigen Glauben. Indem man eine unerbittlich strenge Kritik der Texte
betreibt, gelingt es oft, ihre jeweiligen Rollen in den christlichen
Gemeinden, für die sie ja komponiert worden waren, und demzufolge in der
Kirche von heute offenzulegen. Aber viele Exegeten und Theologen, von
welcher konfessionellen Zugehörigkeit sie auch sein mögen, haben ihre
Grenzen und möglichen Mängel aufgezeigt.
1.2.8.1. Der kritische Radikalismus drängt das Ergebnis der
Evangelienforschung auf einen recht dünnen Kern zurück, und zwar um
so mehr, als die Kenntnis Jesu als Persönlichkeit der Geschichte als
völlig belanglos für den Glauben betrachtet wird. Damit ist aber Jesus nicht mehr wirklich am Ursprung der
Christologie, denn diese wäre dann aus dem Osterkerygma geboren und
eben nicht aus seiner Existenz als Jude, der in seiner Person das
Gesetz, unter dem er gelebt hat, erfüllte. Wenn dieses Gesetz aber nur
die Rolle hat, durch sein Versagen die Ohnmacht der Menschen, sich
selbst zu retten, aufzuweisen, verschwindet dann nicht ihrerseits die
Theologie des Ersten Testaments?
1.2.8.2. Die Symbolsprache, die im Neuen Testament benutzt
wird, um das Osterkerygma zu übersetzen und zum Ausdruck zu bringen, was
Christus eigentlich ist und welche Heilsfunktion er ausübt, wird hier
einzig und allein auf den «mythologischen» Sektor eingegrenzt, so daß die
Beziehung zwischen den beiden Testamenten bis zum
Äußersten eingeschränkt wird. Läuft schließlich die zur
Deutung der «mythologischen» Sprache vorgeschlagene existentiale
Interpretation nicht Gefahr, logischerweise in einer anthropologischen Reduktion der Christologie
zu enden?
1.2.8.3. Wenn die Auferstehung Jesu und seine Erhöhung nur
mythologische Übersetzungen des Osterkerygmas sind, versteht man nicht,
wieso der christliche Glaube aus dem Kreuz hervorgehen konnte. Wenn
Jesus nicht Sohn Gottes ist, und zwar in einem einzigartigen Sinn, sieht
man nicht, wieso Gott
uns ausgerechnet in Ihm sein «letztes Wort» durch die Vermittlung eben
dieses Kreuzes gesagt haben sollte. Und wenn man letztendlich den
Begriff der glaubensbegründenden «Zeichen» unterdrückt, nur um ein allzu
rationalistisches Verstehen der Glaubensbeweise zu vermeiden,
endigt man damit nicht in einer Einladung zum Fideismus?
1.2.8.4. Übersieht man nicht in dem Maß, wie dieser Zugang
ausschließlich auf die persönliche Glaubensentscheidung konzentriert
ist, die sozialen Aspekte der menschlichen Existenz? Und das um
so mehr, als man eine recht wenig umschriebene «Moral der Liebe» einer
«Gesetzesmoral» radikal entgegensetzt, welche die positiven
Erfordernisse der Gerechtigkeit miteinschließt. Aus all diesen Gründen
haben die Schüler Bultmanns den Versuch unternommen, Jesus doch wieder
an den Ursprüngen der Christologie einzuführen, um auf diese Weise dem
Gesamtunternehmen einer auf die Existentialanalyse gegründeten
Betrachtungsweise dennoch zu ihrem Recht zu verhelfen.
1.2.9. Die «Befreiungstheologien» haben zweckmäßigerweise noch
einmal in Erinnerung gerufen, daß das von Christus gebrachte Heil sich
nicht im Raum einer der Menschwerdung enthobenen «Geistigkeit» ereignet,
sondern daß es vielmehr die Menschen durch die Gnade Gottes von allen
Tyranneien, die auf ihrer gegenwärtigen Lage lasten,
freimachen muß. Aber es liegen mögliche Risiken in den Folgerungen, die
man aus diesem allgemeinen Prinzip zieht, vor allem wenn die
Erlösungslehre nicht klar in Abstimmung mit einer Ethik, die die
Gegebenheiten des Neuen Testaments voll und ganz respektiert,
artikuliert wird.
1.2.9.1. Bestimmte Marxisten schauen nebenbei auch auf das Evangelium
Jesu, um dort das Ideal eines wahrhaft brüderlichen sozialen
Lebens zu suchen. Aber das läßt ihre Methode, wie sie soziale Fakten auf
wirtschaftlicher und politischer Ebene analysieren, unberührt,
obwohl diese einer philosophischen Anthropologie verpflichtet
ist, welche in ihrer Theorie einen grundsätzlichen Atheismus
einschließt. Indem diese analytische Methode und die daran anschließende
«Praxis» kritiklos übernommen wird, um aus dem Gott der Bibel den
Anstifter einer derart konzipierten «Befreiung» zu machen, läuft man
sehr Gefahr, die Natur Gottes selbst, die richtige Deutung
Christi und nicht zuletzt das Selbstverständnis des Menschen zu verfälschen.
1.2.9.2. Bestimmte «Befreiungstheologen» halten zwar entschlossen am
«Christus des Glaubens» als letztem Prinzip der Hoffnung fest. Aber es
kommt auch vor, daß man ausschließlich auf die «Praxis» des «Jesus der
Geschichte» hinblickt, die dann mehr oder weniger willkürlich
rekonstruiert wird mit Hilfe einer Auslegungsmethode, welche sie
teilweise verfälscht, so daß der «Christus des Glaubens» als
nichts weiter als eine «ideologische» Interpretation oder gar als eine
«Mythologisierung» seiner geschichtlichen Gestalt gesehen wird. Wenn auf
diese Weise der Begriff der «Gewalt» in den christlichen Gemeinden, die
der Kaisermacht Roms und der örtlichen Behörden unterworfen waren,
überhaupt nicht mehr genau analysiert wird, dann läuft man sehr
Gefahr, sogar den Begriff
dieser «Gewalt» entsprechend marxistischen Kriterien zu interpretieren.
1.2.9.3. Als Folge davon wird das befreiende Handeln des durch seinen
Heiligen Geist in seiner Kirche wirkenden Christus nicht mehr
wahrgenommen. Jesus wird ein einfach geschichtliches «Modell», dessen
Handeln durch andere, modernere und wirksamere Mittel fortgesetzt
werden müßte. Man läuft dabei Gefahr, auf eine gänzlich anthropologische
Reduzierung der Christologie zuzusteuern.
1.2.10. Die Forschungen der spekulativen Theologie über
Christus lehnen es grundsätzlich ab - und das nicht ohne Grund -, sich
in Abhängigkeit von kritischen Hypothesen zu begeben, die
ihrerseits immer wieder überholt werden. Aber es bestünde die
Gefahr, daß durch ein überzogenes Synthesebedürfnis die
Vielfalt der Christologien im Neuen Testament verwischt wird, während
sie doch einen gewissen Reichtum darstellt. Oder auch, daß die Vorbereitungen
im Alten Testament vergessen oder heruntergespielt werden, wodurch
das Neue Testament seiner Wurzeln beraubt wird. Es bleibt zu
wünschen, daß die exegetischen Arbeiten einen klar umschriebenen und
sehr genauen Ort im Erforschen der Offenbarung finden, da diese von
ihren geschichtlichen Ursprüngen her und in ihrer Entwicklung auf ihre
Vollendung in der Ganzheit des Christusgeheimnisses hin ausgerichtet
ist. Hier liegt eine göttliche «Pädagogik» vor, welche die Menschen zu
Christus hinführt, wenn auch in anderem Sinn als beim heiligen
Paulus (vgl. Gal 3,24).
1.2.11. Sämtliche Versuche, die «Christologie von oben» und
die «Christologie von unten» zu vereinen, zeigen die Richtung an,
in die gewiß weitergeforscht werden sollte. Sie können dabei besondere
Fragestellungen und ihre Lösungen durchaus in der Schwebe lassen.
1.2.11.1. Die kritischen Anfragen an die Evangelien, an die
Formgebung der in ihnen enthaltenen Worte Jesu, an die mehr oder weniger
dichte Geschichtlichkeit der Jesus betreffenden Erzählungen, an Datum
und Verfasser jeder einzelnen Schrift, an die Umstände und Stufen ihrer
Komposition, an die Lehrentwicklung der Christologie, bleiben
im Rahmen der exegetischen Forschungen offen. Es handelt sich um einen
Forschungsbereich, der nicht nur legitim, sondern notwendig und
befruchtend für die systematische Christologie selbst ist.
1.2.11.2. Um den einzigartigen Wert Christi in der
Geschichtlichkeit der Welt zu erfassen, kann man sich nicht eine Untersuchung
darüber ersparen, welchen Stellenwert die Bibel in der
Entwicklung der Kulturen und
Zivilisationen hat. Da sie erst zu einem verhältnismäßig
späten Zeitpunkt darin erschien, kommt man nicht umhin, die Art und
Weise zu untersuchen, wie sie bestimmte Elemente der
Kultur aufgegriffen hat, um sie in den Dienst der Offenbarung zu
stellen. Eingebettet in die Kulturen, ist das Judesein Jesu Träger
seiner ganzheitlichen Menschlichkeit. Dieser Zugang, der durch die
archäologischen und ethnologischen Entdeckungen der beiden letzten
Jahrhunderte stark gefördert wurde, ist bis heute kaum in Angriff
genommen. Umgekehrt ist es unumgänglich, über die Frage der Präexistenz
Jesu nachzudenken und in ihm die Weisheit und das Wort Gottes (vgl. Joh
1,1-14), Anstifter und Modell der gesamten Schöpfung und Wirkkraft in
der ganzen Geschichte zu erkennen, um auf diese Weise zu entdecken, wie
Jesus der Retter aller Menschen zu allen Zeiten ist.
1.2.11.3. Um zu begreifen, wie der verherrlichte Christus fortfährt,
wirkmächtig in dieser Welt zu handeln, um sein Erlösungswerk zu
verwirklichen, ist es notwendig, genauere biblische Studien zu betreiben
über die Beziehungen zwischen der Kirche, die der vom Heiligen Geist
geleitete Leib Christi ist, und den Gesellschaftsgruppen, in deren Mitte
sie sich entwickelt. In dieser Hinsicht bildet die Ekklesiologie
einen wesentlichen Gesichtspunkt der Christologie, gerade dann, wenn
sie sich von den Forschungen der Soziologen abhebt.
ABSCHNITT 3: WIE KANN MAN DIESEN GEFAHREN, GRENZEN UND UNGEWISSHEITEN
BEGEGNEN?
Die oben erwähnte Erfahrung zeigt, daß man all diesen Risiken nicht
dadurch begegnen kann, daß man einige entscheidende Formeln vorgibt, die
die endgültige «Wahrheit» darstellen würden, oder daß man systematische
Abhandlungen ausarbeitet, die all diese Fragen umfassen und sie auch
zugleich lösen würden.
1.3.1. Die Glaubensgemeinschaft zusammen mit der Gesamtheit
der kirchlichen Tradition, die den Theologen immer auf die
Gründungstradition des apostolischen Zeitalters verweist (im weiten Sinn
des Wortes, der das ganze Neue Testament einschließt), macht vom Ganzen
der Schrift ausgehende Untersuchungen nicht überflüssig über ihren Ort
in Israel, über den neuen Zweig, der von Jesus her angeschlossen wurde
in den
Schriften des Neuen Testaments bis zum Abschluß seiner «Kanonliste», das
heißt als «Regulativ» des Glaubens und des praktischen Lebens. Bezüglich
dieses letzten Punktes besteht zwischen den Juden und den Christen eine
grundsätzliche Meinungsverschiedenheit; aber das Prinzip der
«Kanonizität» wird von den einen wie den anderen angewandt.
1.3.2. Die literarische Entwicklung der Bibel spiegelt die
Entwicklung der Gabe Gottes wider, die den Menschen seine Offenbarung
und sein Heil bringt. Für die Christen gipfelt dieses Geschenk in der
Hingabe seines Sohnes, «geboren aus der Jungfrau Maria». Die Einheit
der Schriften verwirklicht sich also im Umfeld der Verheißungen, die
von den Erzvätern empfangen und bei den Propheten ausgeweitet wurden,
dann im Umfeld der Reich-Gottes-Erwartung und des Wartens auf den
angekündigten Messias. Es sind diese Verheißungen und diese Erwartung,
die ihre Erfüllung in Jesus finden, dem Messias und
Gottessohn. Der Rückgriff und Verweis auf die Bibel bezüglich der
Christologie ist diesem Ganzheilsprinzip unterworfen, welches
weder die Kirchenväter noch die mittelalterlichen Theologen
vergessen hatten, als sie auf die Methoden zurückgriffen, die ihnen von
ihrer Kultur geliefert wurden, um die biblischen Texte zu lesen und
auszulegen. Unsere Kultur liefert uns andere Methoden, die
Grundorientierung, nach der man sie ausüben muß, bleibt jedoch dieselbe.
1.3.3. Damit der gläubige Leser in der Bibel leicht diese unverkürzte
Christologie herausfinden kann, wäre es wünschenswert, daß die Bibelwissenschaft unter der Leitung exegetischer
Methoden unserer Zeit weiter vorangeschritten wäre, als es beim
gegenwärtigen Forschungs- und Reflexionsstand der Fall ist. Tatsächlich
verbleiben viele Punkte im Kompositionsprozeß, der zur heutigen
Gestaltung der heiligen Bücher durch die inspirierten Verfasser führte,
im Dunkeln. Jene, die gerne auf Untersuchungen dieser Art verzichten
möchten und sich an eine oberflächliche Lektüre, die sie für
«theologisch» erachten, halten, begeben sich auf einen Irrweg, denn die
vereinfachenden Lösungen können unter keinen Umständen als solide
Grundlage für die theologische Reflexion, die mit vollem Glauben
vollzogen wird, dienen. Aber die Päpstliche Bibelkommission ist der
Auffassung, daß jenseits aller Diskussionen um Einzelheiten die
exegetischen Arbeiten so weit fortgeschritten sind, daß jeder gläubige
Leser der Heiligen Schrift in bestimmten Ergebnissen der Exegese eine
feste Stütze für seine Suche nach Jesus Christus findet. Das wird in den
beiden folgenden Abschnitten dargelegt:
1. die Verheißungen und die Heils- und Heilandserwartung im Alten
Testament;
2. die Erfüllung dieser Verheißungen und dieser Erwartung in der
Person Jesu von Nazareth.
ZWEITER TEIL
DAS GESAMTZEUGNIS DER HEILIGEN SCHRIFT ÜBER CHRISTUS
ABSCHNITT 1: DIE HEILSTATEN GOTTES UND DIE
MESSIANISCHEN HOFFNUNGEN ISRAELS
Es ist bekannt, daß Jesus und die christliche Urgemeinde die
göttliche Autorität der Schriften, die wir Altes Testament
nennen, anerkannt haben. Tatsächlich hatte Israel auf das Zeugnis
der heiligen Verfasser hin an den Heilswillen seines
Gottes glauben und dessen Wege erkennen können. Diese erste Erfahrung
der Beziehungen zwischen Gott und seinem Volk hat daher ihren eigenen
Bestand und verdient zugleich, ihrem ganzen Gewicht entsprechend
ausgewertet zu werden. Daher kann man in diesen Schriften drei Arten von
Wirklichkeiten überprüfen, deren vollkommene Erfüllung die Christen
in Jesus Christus finden werden: a) die Kenntnis des wahren Gottes, der sich
von den anderen Gottheiten unterscheidet und
den Urgrund der Hoffnung Israels bildet; b) die Erfahrung, die Israel
im Verlauf seiner Geschichte inmitten der anderen
Völker mit den Kundgaben des Heilswillens seines Gottes
machte; c) die verschiedenen Heilsmitteilungen, die unaufhaltsam
die Verwirklichung des Bundes und der Gemeinschaft zwischen Gott und
den Menschen vorangetrieben haben. Es handelt sich hier nicht darum,
die verschiedenen Phasen der Gottesoffenbarung an Israel nachzuzeichnen,
sondern darum, die Hauptzeugen des Alten Testaments, die die
christliche Urgemeinde im Licht des schon gekommenen Christus gehört
und verstanden hat, in Erinnerung zu rufen.
2.1.1. Gott und seine Offenbarung im Alten Testament
2.1.1.1. Alle Völker des Alten Orients suchten Gott, aber «wie
Tastende» (Apg 17,27); nach dem Buch der Weisheit haben sie sich
bei dieser Suche verirrt, als sie, bezaubert durch die Schönheit der
Dinge, die Mächte dieser Welt als Götter annahmen, ohne zu wissen, um
wieviel größer ihr Meister ist (Weish 13,3). So stellt sich
Gott Israel gegenüber als jener dar, der selbst die Menschen sucht: Er
beruft Abraham (Gen 12,1- 3) und verleiht ihm eine Nachkommenschaft, die
unter allen Völkern der Erde sein besonderes Volk werden wird (Ex 19,5-
6; Dtn 7,6). und zwar aus seiner Güte und unverdient (Dtn 7,8). In
Abraham und seiner Nachkommenschaft werden die Völker den Segen
empfangen (Gen 12,3; 22,18; 26,4); nur in diesem Gott können sie
das Heil finden (Jes 45,22-25) und den Halt ihrer Hoffnung suchen (Jes
51,4-5).
2.1.1.2. Gott, der Schöpfer des Alls (Gen 1,1-2,4), manifestiert sich
Israel gegenüber vor allem als Herr und Herrscher der Geschichte (Am 1,3-2,16; Jes 10,5 ff); er ist «der
Erste und Letzte», und außer ihm gibt es keinen anderen Gott, der wie er
handeln könne (Jes 44,6; 45,5-6); nur in Israel gibt es Gott (Jes
45,14), und er ist der einzige (Jes 45,5). Den Menschen stellt er sich
insbesondere als König dar. Hatte er dieses Königtum schon durch
die Schöpfungskraft enthüllt (Ps 93,1-2; 95,3-5), so manifestiert er es
noch deutlicher dadurch, daß er das Schicksal Israels im Blick auf sein
kommendes Reich (Ps 98) in die Hand nimmt (Ex 15,18; Jes 52,7). Dieses
Königtum steht daher auch im Mittelpunkt des Kultes, der ihm in
Jerusalem dargebracht wird (Jes 6,1-5; Ps 122).
Wenn Israel sich Herrscher nach seiner eigenen Wahl gibt (1
Sam 8,1-9), dann muß es unter diesen Königen leiden
(1 Sam 8,10-20) und entdeckt in seinem Gott den guten Hirten (Ps 23; Ez
34), weil dieser immer «treu ..., gerecht und gerade» (Dtn 32,4)
ist, «barmherzig, gnädig, reich an Huld und Treue» (Ex 34,6). Ein Gott,
der den Menschen nahe ist, bildet also das Herz des Glaubens Israels;
sein Eigenname, wie er in dem Tetragramm YHWH wiedergegeben wird,
will Bekenntnis eines solchen Glaubens sein (vgl. Ex 3,12-15) und
umschreibt von daher die Art und Weise der Beziehung, die er aufrichten
will mit seinem Volk, indem er dieses zur Treue aufruft.
2.1.2. Gott und die Menschen: Verheißung und Bund
2.1.2.1. Kraft eines unverbrüchlichen Willens (Jer 31,35-37),
bezeichnet durch einen Schwur «sich selbst gegenüber» (Gen
22,16-18), hat sich dieser Gott auf die Menschen eingelassen, indem
er sie als ein Volk konstituiert. Er rüstet sie mit Anführern aus, die
für die Verwirklichung seiner Pläne
verantwortlich sind: Abraham (Gen 18,19), Mose (Ex 3,7-15), «Richter»
(Ri 2,16-18) und Könige (2 Sam 7,8-16). Durch sie will Gott sein
Volk aus aller Versklavung oder Fremdherrschaft befreien
(Ex 3,8; Jos 24,10; 2 Sam 7,9-11), will er ihm das verheißene Land
schenken (Gen 15,18; 22,17; Jos 24,8.13; 2 Sam 7,10), wird er ihm
schließlich das Heil verleihen (Ex 15,2; Ri 2,16.18). Durch sie will
Gott demselben Volk seine Gebote und seine Gesetze übergeben (Gen 18,19;
Ex 15,25; 21,1; Dtn 5,1; 12,1; Jos 24,25-27; 1 Kön 2,3), deren
Beobachtung für Israel die Art und Weise
ist, seinen Gott zu bekennen, durch die Achtung vor dem Nächsten in
seiner Person und seinem Besitz (Ex 20,3-17; Dtn 5,6-21; Ex 21,2 ff; Lev
19). Die Beziehung zwischen der Landgabe und dem Gesetzesgehorsam wird
in der Bibel unter dem Rechtsbegriff des «Bundes» (berit) dargestellt,
der die neuen Beziehungen, die Gott zwischen sich und den Menschen
errichtet, umschreibt. Gewiß lassen sich das Volk und seine
Anführer freiwillig auf diesen Bund ein (Ex 24,3-8; Dtn
29,9-14; Jos 24,14-24). Doch bleiben sie stets versucht, andere Götter
neben YHWH einzuführen (Ex 32,1-6; Num 25,1-18; Ri 2,11-13)
und ihren Nächsten durch alle Formen der Ungerechtigkeit zu unterdrücken
(Am 2,6-8; Hos 4,1-2; Jes 1,22-23; Jer 5,1 ff), indem sie so den
Bund brechen, den sie mit ihrem Gott geschlossen hatten (Dtn
31,16.20; Jer 11,10; 32,32; Ez 44,7). Bestimmte Könige waren
ganz besonders schuldig an diesen Ungerechtigkeiten (Jer 22, 13-17)
und an diesem Bundesbruch (Ez 17,11-21). Aber die Treue Gottes siegt
über die Untreue der Menschen (Hos 2,20-22), indem er mit ihnen einen
neuen Bund schließt (Jer 31,31-34), einen ewigen und unverbrüchlichen
Bund (Jer 32,40; Ez 37,26-27). Er erstreckt sich nicht nur auf
die Nachkommenschaft Abrahams, die durch das Zeichen der Beschneidung
gekennzeichnet ist (Gen 17,9-13), sondern auf die ganze Menschheit durch
das Zeichen des Regenbogens (Gen 9,12-17; vgl. Jes 25,6; 66,18).
2.1.2.2. Wenn die Propheten die empörten Zeugen dieses Bundesbruches
unter all seinen Formen gewesen sind, was daher die Verurteilung des
auserwählten Volkes durch YHWH nach sich zog (2 Kön 17,7-23), so sind
sie doch vor allem die bevorzugten Zeugen der Treue desselben Gottes
jenseits der menschlichen Untreue. Gott will das Herz des Menschen
radikal umgestalten, indem er ihn fähig macht, seine Hingabe durch den
Gesetzesgehorsam zu verwirklichen (Jer 31,33-34; Ez 36,26-28). Trotz des
wiederholten Scheiterns des Bundes seitens Israel haben die Propheten
nicht aufgehört, die Verwirklichung des durch ihren Gott gebrachten
Heils zu erhoffen, dank seiner Liebe und seiner grenzenlosen Nachsicht
(Am 7,1-6; Hos 11,1-9; Jer 31,1-9), selbst in den schrecklichsten Augenblicken
ihrer Geschichte (Ez 37,1-14). Gott hatte durch David seine Verheißungen
verwirklicht, aus Israels Stämmen ein freies Volk in einem Land, das ihm
gehören soll, zu machen (2 Sam 7,9-11). Obwohl seine Nachkommen nicht
auf seinen Spuren wandelten, erwarten die Propheten immerzu diesen
König, der wie David (2 Sam 8,15) Recht und Gerechtigkeit zur
Herrschaft bringt, vor allem unter den Ärmsten und Schwächsten des
Reiches (Jes 9,5-6; 11,1-5; Jer 23,5-6; 33,15-16). Ein solcher König
soll die Darstellung des «Eifers» Gottes für sein Volk (Jes 9,6) und
die Garantie des von Anfang an verheißenen Friedens sein (Am 9,11-12; Ez
34,23-31; 37,24-27). Die Propheten künden auch die Reinigung
und Wiederherstellung Jerusalems an, des Ortes, wo der Herr in seinem
Tempel wohnt; daher wird es von nun an
Symbolnamen tragen wie «Stadt-Gerechtigkeit» (Jes 1,26), «der
Herr-unsere-Gerechtigkeit» (Jer 33,16), «der Herr-ist da» (Ez 48,35);
selbst seine Stadtmauern heißen «Heil» und seine Tore «Lobpreis»
(Jes 60,18). Alle Völker sollen an dem ewigen Bund
Davids Anteil bekommen (Jes 55,3-5); sie sollen aufgerufen werden, das
Heil des Gottes Israels in der wiederhergestellten heiligen Stadt zu
teilen (Jes 62,10-12), denn von Sion gehen Gesetz und Gerechtigkeit aus,
um die Enden der Erde zu erreichen (Jes 2,1-5; Mi 4, 1-4), und nur in
YHWH werden die Völker Heil finden (Jes 51,4-8).
2.1.3. Die Vermittlungen des Heils
2.1.3.1.Gewiß rettet Gott selbst sein Volk und die ganze Menschheit,
aber er tut es durch verschiedenartige Vermittlungen.
a) Der König nimmt einen Vorzugsplatz bei dieser
Heilsankunft ein. Indem Gott ihn als seinen Sohn adoptiert (2 Sam
7,14; Ps 2,7; 110,3 LXX; 89,27-28), überträgt er ihm die Kraft,
die Feinde seines Volkes zu besiegen (2 Sam 7,9-11; Ps 2,8-9; 110,1
ff; 89,23-24), wie es vordem die Richter als Retter getan hatten (Ri
2,16). Ausgestattet mit göttlicher Weisheit (l Kön 3,4-15.28), muß der
König dem Bundesgott treu sein (1 Kön 11,11; 2 Kön 22,2) und
darüber wachen, daß das Recht und die Gerechtigkeit im ganzen Reich
beobachtet werden, vor allem gegenüber den Armen, Witwen und Waisen
(Jes 11,3-5; Jer 22,15-16; Ps
72,1-4. 12-14). Das Deuteronomium hat daher allen Grund, auf
dieser Unterwerfung des Königs unter alle Bundespflichten zu bestehen
(Dtn 17,16-20). Übrigens wird er durch seine Treue und
Gerechtigkeit seinem Volk Frieden und Freiheit sichern (Ps 72,7.11; Jer
23,6; Jes 11,5-9). Wird aber der König, wie das öfters der
Fall war, seinen Bundesverpflichtungen gegenüber als untreu befunden,
reißt er das Volk mit sich in den Untergang (Jer 21,12; 22,13-19). Die
Völker ihrerseits sind überall eingeladen, an den Segnungen einer
solchen Gottesgabe an die Menschen teilzuhaben (Ps 72,17).
b) Obwohl die Könige auch priesterliche Funktionen ausgeübt haben (2
Sam 6,13. 17-18; 1 Kön 8,63 ff.; usw.), kommt doch dem Priester-Leviten die
Ausübung dieser Funktionen zu (Dtn 18,18). Es ist angebracht, eigens
hervorzuheben, daß die Funktion des Priesters in bezug auf das Gesetz
umschrieben wird (Jer 18,18), dessen Wächter er ist (Hos 4,6; Dtn
31,9), er lehrt (Mal 2,6-7) die verschiedenen Vorschriften, die
es bilden (Dtn 33,10). Durch seine kultische Funktion heiligt sich der
Priester selbst und mit ihm die ganze Gemeinde Israel (Lev 21,8), um die
Darbringung eines wohlgefälligen Opfers vor
Gott zu ermöglichen (Dtn 33,10). Insofern der Kult die vergangenen
Heilsereignisse feierte(Ps 132; 136) und die Verpflichtungen Israels
gegenüber seinem Gott in Erinnerung rief (Jes 1,10-20; Hos 8,11-13; Am
5,21-25; Mi 6,6-8), ist der Wert der kultischen Rolle des Priesters
nach dem keineswegs zweideutigen Zeugnis der Propheten durch die
Erfüllung seiner Funktion als Gesetzesdiener bedingt (Hos 4,6-10).
c) Der Prophet hat in der Heilserfahrung Israels eine wichtige
Rolle gespielt. Heimgesucht vom «Wort» Gottes (Jer 18,18), ist er in den
kritischen Augenblicken dieser Geschichte anwesend (Jer 1,10). Er muß
zunächst die Taten der Untreue des Volkes und seiner politischen und
religiösen Anführer anklagen (1 Kön 18). Zur Ehre Gottes fordert er, den
Menschen in seiner Person und seinem Besitz zu respektieren, gemäß dem
Sinaibund (1 Kön 21; Am 2,6-8; 5,7-13; Hos 4, 1-2; Mi 3,1-4; Jer
7,9). Die Verachtung des Gesetzes zieht das Urteil Gottes
auf das sündige Volk herab, was selbst durch die
Fürbitte des Propheten nicht abgewendet werden kann (Am 7,7-9;
8,1-3). Nur eine wahre Umkehr des untreuen Volkes könnte es Gott
erlauben, erneut sein Heil zu offenbaren (Am 5,4-6;
Jer 4,1-2; Ez 18,21-23; Joel 2,12-17). Weil sich aber diese Umkehr immer
nur als eine vorübergehende und kurzfristige erwies (Hos
6,4), wenn nicht sogar als unmöglich (Jer 13,23), kann
allein Gott sie verwirklichen (Jer 31,18; Ez 36,22).
Daher kann der Prophet eine bessere Zukunft ankündigen, selbst in
dem Augenblick, wo das Scheitern am schlimmsten ist
(Hos 2,20-25; Jes 46,8-13; Jer 31,31-34; Ez 37). Diese Pädagogik
bereitet den Sieg der Liebe Gottes über die Sündenverfallenheit
der Menschen vor (Hos 11,1-9; Jes 54,4-10).
d) Es kommt dem Weisen zu, den Sinn dieses Universums, das der
Schöpfer dem Menschen übergeben hat, zu verstehen (Sir 16,24-17,14),
weil es zugleich Geschenk und Abglanz seiner Güte ist (Gen 1,1-2,4; Ps
8). Ihm obliegt es auch, die verschiedenen Erfahrungen des Menschen als
soziales und
verantwortliches Wesen zu sammeln und im Licht der Offenbarung
auszuwerten, um sie den zukünftigen Generationen
als ein Ideal zur Verwirklichung zu
hinterlassen (Spr 1-7) oder als ein zu achtendes Geheimnis (Spr 30,18-19).
Unterdessen kann es vorkommen, daß der Weise den Wert seiner Ratschläge
überschätzt (Jes 5,21; 29,13-14) und durch seine eigenen Ratschläge
selbst dem Gesetz YHWH's Gewalt antut (Jer 8,8-9). Daher ist es wichtig
für ihn, die Grenzen einer solchen Weisheit ermessen zu können, um
dem Menschen Glück und Erfolg zu verleihen (Koh 1,12-2,26).
2.1.3.2. Die Geschichte hat gezeigt, daß diese verschiedenen
Vermittlungen die Menschen nicht in eine dauerhafte Verbindung mit
Gott zu bringen vermochten. Infolge dauernden Scheiterns weckte Gott im
religiösen Bewußtsein seines Volks die Hoffnung auf neue Heilsmittler,
die fähig sind, sein Reich endgültig aufzurichten.
a) Obwohl, verglichen mit den davidischen Königen, der Messiaskönig bescheiden
und demütig ist, wird er allem Krieg ein Ende setzen und allen Völkern
den Frieden bringen (Sach 9,9-10; vgl. Ps 2,10-12).
Die Errichtung dieses messianischen Reiches ist zweifellos das Werk
Gottes selber (Dan 2,44-45), aber er will es doch durch die Vermittlung
seines heiligen
Volkes verwirklichen (Dan 7,27), und zwar beim Kommen der «ewigen
Gerechtigkeit» und der «Salbung des Heiligen der Heiligen» (Dan 9,24).
b) Der «Gottesknecht», noch in seinem tiefen Geheimnis
verhüllt, wird den ewigen Bund besiegeln, wird der ganzen Welt den
einzig wahren Erlösergott offenbaren und die von Gott erlassene Ordnung
aufrichten (Jes 42,1-4; 49,1-6). Mit den Leiden des irrenden Volks
solidarisch, wird er die Last seiner Sünden auf sich nehmen, um sodann
die Vielen zu rechtfertigen (Jes 52,13-53,12).
c) Schließlich wird in der Fülle der Zeit eine Gestalt wie ein Menschensohn erscheinen (dann gedeutet als »Volk der Heiligen des Allerhöchsten», Dan 7,18) und vor Gott gelangen «mit
den Wolken des Himmels», um die ewige Herrschaft über alle Völker
der Erde, die ihm gehorchen sollen, zu empfangen (Dan 7,13-14.27).
2.1.3.3. Um dieses Handeln Gottes in Welt und Geschichte
darzustellen, griff der israelitische Glaube auf Gestalten bestimmter
Mächte zurück, welche in den anderen Religionen manchmal als
Gottheiten betrachtet wurden, die Israel aber dem
Gott Abrahams unterworfen hat, um dessen schöpferische
und heilspendende Gegenwart in Erinnerung zu rufen.
a) Der Geist ist eine Kraft Gottes, die bei der Erschaffung
aller Dinge vorherrschend war und sie ohne Unterlaß erneuert
(Ps 104,29-30). Er wirkt vor allem in der Geschichte, indem er
als Kraft Gottes zu bestimmten Aufgaben und Sendungen fähig macht. Er
bemächtigt sich der Richter, um Israel zu befreien (Ri 3,10; 6,34;
11,29); er kommt auf David herab (1 Sam 16,13), auf den idealen
König (Jes 11,2) und den Gottesknecht (Jes 42,1-4), um sie zu wahren
Heilsmittlern der Gottesherrschaft in der Welt zu machen. Er ist es
auch, der im Propheten
die Einsicht in die gegenwärtige Zeit (Ez 2,1-7; Mi 3,8) und die
Hoffnung auf das zukünftige Heil (Jes 61,1-3) hervorbringt. In der
Endzeit wird derselbe Geist das neue Volk schaffen, das aus dem Tod
auferstehen wird (Ez 37,1-14), um die Gebote Gottes zu halten (Ez
36,26-28). Jedem Menschen wird dieser Geist schließlich innewohnen und
ihm den Zugang zum Heil eröffnen (Joel 3,1-5).
b) Das Wort Gottes ist nicht nur seine an Menschen
gerichtete Botschaft (vgl. Dtn 4,13 und 10,4: die «Zehn Worte»); es ist
auch zuerst eine aktive Kraft und offenbart alles. Durch sein Wort
«spricht er, und alles geschah» (Ps 33,6-9; vgl. Gen 1,3 ff), und
diese Schöpfung ist zugleich das Werk seines Wortes und seines Geistes
(Ps 33,6). Die Worte Gottes, die den Propheten in den Mund gelegt werden
(Jer 1,9), werden ihnen bald zur Freude (Jer 15,16), bald zu einem Feuer
in ihren Knochen (Jer 20,9; vgl. 23,29). Schließlich wird das Wort wie
der Geist nach und nach mit ganz persönlichen Zügen vorgestellt, es
befindet sich im Mund und im Herzen Israels (Dtn 30,14); es
«bleibt auf ewig und steht fest» wie der
Himmel (Ps 119,89); es wird gesandt und erfüllt Aufträge
(Weish 18,15-16) und kehrt nicht ohne Ergebnis zu Gott zurück
(Jes 55,11). Die rabbinische Tradition wird dieses Bild später
betont hervorheben, daß das Wort des Herrn (Memra) das Handeln Gottes in
seinen Beziehungen zur Welt selbst darstellen wird.
c) Im Buch der Sprüche ist die Weisheit nicht mehr bloß eine
Eigenschaft der Könige oder eine Kunst erfolgreichen geglückten Lebens,
vielmehr stellt sie sich als schöpferisch-göttliche Weisheit dar (Spr
3,19-20; 8,22 ff). Durch sie können die Könige regieren (8,15-16). Sie
lädt die Menschen ein, ihren Wegen zu folgen, so daß sie das Leben
finden werden (8,32- 35). Vor allen Dingen erschaffen, herrscht sie beim
Erscheinen des Weltalls, und sie findet ihre Freude darin, mitten
unter den Menschen zu wohnen (8,22-31). Später wird sie für «aus dem
Mund des Allerhöchsten hervorgegangen» gehalten (Sir 24,3), um sich in
der Folge mit dem Bundesbuch und dem Gesetz des Mose zu identifizieren
(Sir 24,23; Bar 4,1). Das Buch der Weisheit Salomos teilt ihm den Besitz
jenes Geistes zu, der alles durchdringt (Weish 7,22), und sieht in ihm
einen «Widerschein des ewigen Lichts, den ungetrübten Spiegel von Gottes
Kraft» (7,26).
2.1.4. Die Bilanz einer einzigartigen religiösen Erfahrung
2.1.4.1. Die Bücher des Alten Testaments, die ja
ohne Unterbrechung neu gelesen und ständig neu interpretiert wurden,
sind und bleiben die autorisierten Zeugen der Erfahrungen und der
Hoffnung, die hier kurz noch einmal in Erinnerung gerufen
wurden. Zur Zeit Jesu hatte die Hoffnung der Juden unterschiedliche
Züge angenommen, je nach den in den Strömungen
und Parteiungen vorherrschenden Meinungen. So sehr ihre
endzeitliche Verwirklichung als gewiß betrachtet wurde, so sehr blieben
doch die Bedingungen ihrer Erfüllung im Unbestimmten. Während zum
Beispiel die Pharisäer an die Ankunft des davidischen
Messias glaubten, erwartete man bei den Essenern neben diesem
königlichen Messias (dem Gesalbten), dem die politische Macht
zusteht, einen priesterlichen Messias (vgl.
Sach 4,14; vgl. Lev 4,3), der ihm überlegen ist, und einen beiden Messiassen vorausgehenden Propheten (Dtn 18,18; Makk 4,46; 14,41).
2.1.4.2. Die Erwartung des Gottesreiches, Heilsträger für alle
Menschen und Ursache radikaler Veränderung der Daseinsumstände des
Menschen, bildet in jedem Fall den Mittelpunkt und das Herzstück des
Glaubens und der Hoffnung Israels. Seine Ankunft, Inhalt einer Guten
Nachricht, wird Jerusalem neu erstehen lassen und die ganze Welt
erleuchten (Jes 52,7-10). Gegründet auf Recht und
Gerechtigkeit, wird dieses Reich allen Menschen die wahren Ausmaße der
Heiligkeit Gottes, der das Heil aller will, vorführen (Ps 93; 96-99).
Die Mächte dieser Welt haben sich das Königtum Gottes angemaßt und
widerrechtlich angeeignet. Sie werden daher ihrer eitlen und
ruhmsüchtigen Ansprüche beraubt (Dan 2,31-45). Eine der großen
Manifestationen des Gottesreiches mitten unter den Menschen wird sein
Sieg über den Tod auf Grund der Verheißung der Auferstehung sein (Jes
26,19; Dan 12,2-3; 2 Makk 7,9.24; 12,43-46). Johannes dem Täufer kommt
es zu, die bevorstehende Ankunft dieses endgültigen Reiches
anzukündigen, welches ein «Stärkerer als er» (Mt 3,11-12 Parr.)
aufrichten wird. Jetzt sind die Zeiten erfüllt, jeder Mensch, der
seine Sünden bereut, kann sich wirklich des Heils erfreuen (Mk 1,1-8; Mt
3,1-12; Lk 3,1-18).
ABSCHNITT 2: DIE ERFÜLLUNG DER HEILSVERHEISSUNGEN IN JESUS CHRISTUS
2.2.1. Person und Sendung Jesu Christi
2.2.1. 1. Das Zeugnis des Evangeliums
Jesus von Nazareth, «von einer Frau geboren, unter das Gesetz
gestellt», ist in der «Fülle der Zeit» (Gal 4,4) gekommen, um die Hoffnung Israels zu erfüllen. Wie er in seiner Evangeliumsverkündigung
sagte, «ist die Zeit erfüllt und das Reich Gottes nahe» (Mk 1,15).
Dieses Reich ist in seiner Person bereits anwesend und wirksam (vgl. Lk
17,21 und die Gottesreichgleichnisse). Die Wunder und Machttaten, die er
kraft des Geistes Gottes vollbringt, zeigen, daß das Reich Gottes
angekommen ist (Mt 12,28). Jesus ist nicht gekommen, «um das Gesetz und
die Propheten abzuschaffen, sondern um sie zu erfüllen» (Mt
5,17). Diese «Erfüllung» kann jedoch nicht mit jener deckungsgleich eingestuft werden, die seine Zeitgenossen
aus ihrer Lektüre der Schriften ableiten. Um herauszufinden, wie sehr sie sich
davon unterschied, muß man sorgfältig das Zeugnis der Evangelien
überprüfen. Diese gehen letztlich auf die Jünger zurück, die
die Erfahrung seiner Worte und Taten gemacht (Apg 1,1) und sie uns mit
der Autorität des Heiligen Geistes überliefert haben (2 Tim 3,16;
vgl. Joh 16,13). Dessen Wirken bestand sicher nicht einfachhin darin,
eine materiell
getreue Überlieferung zu gewährleisten. Sie hat vielmehr einen Denkprozeß
befruchtet, der im Laufe der Zeit einen immer reicheren und mehr und
mehr entwickelten Ausdruck der Geschichte und der Jesus zugeschriebenen
Gegebenheiten hervorbrachte. Von
daher die Unterschiede im Ton, in der Konzeption oder im Vokabular,
die man zum Beispiel zwischen den Synoptikern und dem vierten Evangelium
beobachten kann. Aber die Zusicherung, daß diese Reifung der Erinnerung
und der Reflexion im Schoß der apostolischen Urgemeinde durch den Geist
Gottes angeleitet worden ist, ermächtigt den Christen, der diese
Darstellungen Jesu und seiner Botschaft durch die
verschiedenen Entwicklungsebenen hindurch empfängt, dazu, sie mit
demselben Glauben als authentisches Wort Gottes, das
durch die Kirche gewährleistet ist, anzunehmen.
2.2.1.2. Jesus und die Tradition des Alten Testaments
Die von Jesus eingenommene Haltung sowohl dem Gesetz gegenüber wie
auch hinsichtlich der verschiedenen Titel, die die Schriften den
Heilsmittlern übertragen, hängt wesentlich von jener Beziehung ab, die
er mit Gott unterhält, nämlich die des Sohnes zu seinem Vater
(unten 2.2.1.3.).
a) Es ist nicht erstaunlich zu sehen, wie Jesus die
Bezeichnung «Meister» (Mk 1,38 u. ö.) und «Prophet» (Mt
16,14; Mk 6,15; Joh 4,19) ohne weiteres für sich zuläßt, ja sogar sich
letzteren Titel selbst zuerteilt (Mt 13,57; Lk 13,33). Obwohl er es
zurückweist, König oder Messias in einem bloß irdischen
Sinn zu sein (vgl. Lk 4,5-7; Joh 6,15), lehnt er dennoch die
Bezeichnung Sohn Davids nicht ab (z.B. Mk 10,47 u. ö.). Mehr
noch, am Tag seines Einzugs in Jerusalem unter dem Beifall der
Volksmenge verhält er sich wie der davidische König, «damit die Schrift
erfüllt wird» (Mt 21,1-11; vgl. Sach 9,9 f). Darauf handelt er im Tempel
«wie jemand, der
Vollmacht hat», aber er will den Priestern nicht sagen, kraft welcher
Vollmacht er diese Dinge tut (Mk 11,15-16.28). An dieser Stelle zeigt
seine Sendung mehr prophetische als königliche Züge (vgl. Mk 11,17,
wo Jes 65,7 und Jer 7,11 angeführt werden).
b) Im Namen der zwölf Jünger läßt Jesus Petrus bekennen, daß er der Christus (d.
h. der Messias) ist; aber er verbietet zugleich, jemandem davon
zu erzählen (Mk 8,30 ff), wohl weil dieses Glaubensbekenntnis noch
unvollkommen ist und Jesus selbst schon an sein letztendliches
Scheitern und seinen Tod denkt (Mk 8,31 u. ö.). Seine
Vorstellung vom Messias als Sohn Davids unterscheidet sich tatsächlich
von derjenigen der Schriftgelehrten; das sieht man, wenn er ihnen
aufweist, daß nach Psalm 110,1 dieser der Herr Davids ist (Mt
22,41-47 und Parr.). Wenn der Hohepriester ihn in den synoptischen
Evangelien befragt, um herauszufinden, ob er der Christus (der
Messias), der Sohn Gottes (oder: des Gepriesenen) sei [vgl. 2 Sam
7,14; Ps 2,7], gibt er eine Antwort, deren Gehalt bei den Synoptikern
unterschiedlich ist (Mk 14,62; Mt 26,64; Lk 22,69.70, wo die Frage
selbst zweigeteilt ist). In allen drei Fällen bekennt er
jedoch ganz offen, daß er «von nun an als der Menschensohn (vgl. Dan
7,13-14) zur Rechten Gottes (oder: der Macht) sitzen wird», wie ein
König in der göttlichen Herrlichkeit. Wenn der Prokurator Pilatus ihn im
Johannesevangelium verhört, um zu erfahren, ob er «der König der
Juden» sei, stellt er richtig, daß sein Königtum «nicht von (ek,
griech. aus) dieser Welt ist» und daß er es ausübt, indem er «für die
Wahrheit Zeugnis ablegt» (Joh 18,36-37). In der Tat verhält sich Jesus
nicht wie ein Gebieter, sondern wie ein Diener und sogar wie ein Sklave
(Mk 10,45; Lk 22,27; Joh 13,13-16).
c) Die Bezeichnung «Menschensohn», die sich Jesus in den Texten des
Evangeliums selbst gibt, ist von großer Bedeutung, insofern sie ihn als
Heilsmittler bezeichnet, entsprechend dem Buch Daniel (vgl. Dan 7,13).
Aber bis zu seiner Passion, mindestens bis zu seiner Antwort vor
Kaiphas, beinhaltet sie eine gewisse Zweideutigkeit, denn es kann sich
manchmal im Aramäischen um eine geläufige Form der Selbstbezeichnung
handeln. Kurz und gut, Jesus verhält sich und redet in einer
Weise, daß er anscheinend das Geheimnis - oder das Mysterium - seiner
Person niemals ausdrücklich enthüllt, weil die Menschen ihn nicht
begreifen könnten. Nach dem vierten Evangelium spricht er nur aus, was
seine Jünger «ertragen können» (Joh 16,12).
d) Zur selben Zeit aber deutet er vorsichtig viele Dinge an, die sich
erst später im Geist (Joh 16,13) aufklären werden. So scheint er in den
Kelchworten beim letzten Abendmahl (Mk 14,24 und Parr.) auf
die Sendung des leidenden Gottesknechtes anzuspielen, der sein
Leben «für die Vielen» dahingibt (Jes 53,12), um in seinem Blut den
Neuen Bund zu besiegeln (vgl. Jes 42,6; Jer 31,31). Man kann
glauben, daß er daran schon denkt, wenn er sagt, er sei gekommen «nicht
um bedient zu werden, sondern zu dienen und sein Leben als Lösegeld
für die Vielen hinzugeben» (Mk 10,45).
e) Und mehr noch. Gott hat sein Kommen nicht nur durch menschliche
Persönlichkeiten angekündigt. Er hat auch die
Vermittlung des Heils durch göttliche Attribute in Erinnerung
gerufen: sein Wort, sein Geist, seine Weisheit (vgl. oben
2. 1.3.3.). Tatsächlich stellt sich Jesus als jenen dar, der
im Namen des Vaters und mit dessen Autorität spricht, sowohl im
vierten Evangelium (vgl. Joh 3,34; 7,16; 8,26; 12,49; 14,24
und den Prolog, der ihm den Titel Logos «Wort» gibt), als auch in
den Synoptikern: «Euch wurde gesagt ..., ich aber sage euch ... » (Mt
5,21 ff; vgl. 7,24.29). Andererseits erklärt
er, daß er durch den Heiligen Geist spricht und handelt (Mt 12,28), daß er über diese göttliche
Kraft verfügt und sie seinen Jüngern aussenden wird (Lk 24,49;
Apg 1,8; Joh 16,7). Und schließlich läßt er durchblicken, daß die Weisheit in seiner Person west und handelt
(Mt 11,29; vgl. Lk 11,31). So begegnen sich in
Jesus Christus die beiden Wege, der von oben und der von unten, welche
Gott im Alten Testament vorgezeichnet hatte, um sein Kommen mitten unter
die Menschen vorzubereiten: Von oben die immer dichteren Anrufe
seines Wortes, seines Geistes und seiner Weisheit, die in unsere Welt
herabsteigen; von unten die immer klarer gezeichneten Konturen eines
Messias, Königs der Gerechtigkeit und des Friedens, eines demütigen
Leidensknechtes, eines
geheimnisvollen Menschensohnes, die die Menschheit mit sich hinaufführen
auf Gott zu. Von daher erklären sich die
zwei Verfahrensweisen, die sich in
der Christologie anbieten: Einerseits in Jesus Christus Gott
entdecken, der zu den Menschen kommt, um sie zu retten, indem er ihnen
sein Leben mitteilt; andererseits in Jesus Christus die Menschlichkeit
entdecken, die im neuen Adam die Erstberufung der Adoptivsöhne Gottes
wiederfindet.
2.2.1.3. Jesus vor Gott
a) Jesu letztes Geheimnis - oder besser Mysterium - besteht
wesentlich in seiner Sohnesbeziehung zu Gott. Tatsächlich redet er
in seinem Gebet Gott mit «Abba» an. Im Aramäischen bedeutet dieser
Begriff «Vater» mit einer Nuance familiärer Vertrautheit (vgl. Mk 11,36
u. ö.). Er gibt sich selbst den Namen «Sohn» ausgerechnet in jenem
Satz, wo er sagt, daß nur der Vater den Gerichtstag kennt (Mk
13,32), und zwar nicht nur unter Ausschluß der Engel, sondern selbst des
Sohnes. Diese Art und Weise, sich als «der Sohn» vor «dem Vater»
darzustellen, begegnet sowohl an mehreren Stellen des vierten Evangeliums (wie
etwa Joh 17,1: «Vater, die Stunde ist gekommen, verherrliche deinen
Sohn, damit dein Sohn dich verherrliche»; vgl. auch noch Joh 3,35-36;
5,19-23), als auch
im sogenannten «johanneischen Logion» bei Matthäus und Lukas (Mt
11,25-27 = Lk 10,20-21). Hier erscheint Jesu Beziehung zu Gott so intim, daß er sagen kann: «Alles ist mir von meinem Vater
übergeben worden, und niemand kennt den Sohn, nur
der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will» (Mt 11,27 = Lk 10,22).
b) Derart ist das innerste Geheimnis, in dem alle Taten und das
Verhalten Jesu ihre Quelle finden, anders gesagt, sein wirkliches
Sohn-Sein. Von jugendlichem Alter an war er sich dessen bewußt (Lk
2,49), und er brachte es durch seinen vollkommenen Gehorsam gegenüber
dem Willen des Vaters zum Ausdruck (Mk 14,36 und Parr.). Diese
Eigenschaft als Sohn hindert ihn jedoch nicht daran, auch vollkommen ein
Mensch zu sein, der «an Weisheit, Alter und Gnade vor Gott und den
Menschen heranwuchs» (Lk 2,52). Stufenweise erwirbt er so ein immer
genaueres Sendungsbewußtsein, von seiner Jugend an bis zum Kreuz. Am
Ende wird seine Todeserfahrung von ihm genau so grausam gespürt wie von
jedem anderen Menschen (vgl. Mt 26,39; 27,46 und Parr.): «Obwohl er der
Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt» (Hebr 5,8)
2.2.1.4. Jesus an den Anfängen der Christologie
Deswegen sind sämtliche Titel,
Funktionen und Heilsmitteilungen, von denen in den
Heiligen Schriften die Rede ist, in der Person Jesu aufgehoben und
vereinigt. Für diejenigen aber, die an ihn glaubten, war es notwendig,
diese auf eine neue Weise zu interpretieren.
Paradoxerweise ist das Reich des Messias (d. h. des Christus)
durch das Ärgernis des Kreuzes angekommen, nachdem Jesus selbst als
leidender Gottesknecht den Tod erduldet hatte (1
Petr 2,21-25, unter Aufnahme von Jes 53) und nachdem er durch seine
Auferstehung in die Herrlichkeit des Menschensohnes eingeführt
worden war (Apg 7,56; Offb 1,13; vgl. Dan 7,13 f). Daher konnte er im
Glauben als «Christus, Sohn Davids» erkannt werden, als «Gottessohn in
Macht» (Röm 1,3-4), als Herr (Apg 2,36; Phil 2,11 u. ö.), als Weisheit Gottes (1
Kor 1,15; vgl. Kol 1,15-16; Hebr 1,3), als Wort Gottes (Offb 19,13;
1 Joh 1,1; Joh 1,1-14), als Lamm Gottes, geopfert und
verherrlicht (Offb 5,6 ff; Joh 1,29; 1 Petr 1,19), als treuer Zeuge (Offb 1,5),
als wahrer Hirte (Joh 10,1 f; vgl. Ez 34), als Mittler des neuen Bundes,
der mit dem königlichen Priestertum ausgestattet ist (Hebr 8,1-10,18) und selbst als
«der Erste und der Letzte» (Offb 1,17), ein Titel, der im Alten Testament
nur Gott zustand (Jes 41,8; 44,6). Demnach wurden in Jesus die Schriften
anders und besser erfüllt, als sich Israel das vorgestellt hatte. Das
aber kann nur im Akt des Glaubens an ihn erkannt werden, wenn er als
Messias, Herr und Gottessohn bekannt wird (Röm 8,29; Joh 20,31).
2.2.2. Die Ursprünge des Glaubens an Jesus Christus
2.2.2.1. Das Licht von Ostern
a) Obwohl die Jünger Jesu seit langem «an ihn geglaubt hatten», blieb
ihr Glaube doch zu Jesu Lebenszeit recht unvollkommen. Durch seinen Tod
wurde er nach dem Zeugnis aller
Evangelisten sogar stark erschüttert. Als aber Gott dem Auferstandenen
die Gnade verlieh, sich den Seinen zu zeigen (Apg 10,41 f; vgl. 1,3; Joh
20,19-29), wurde ihr Glaube vollständiger und klarer. Die Erscheinungen,
durch die sich Jesus «durch viele Beweise als Lebender erwies» (Apg
1,3), waren
von seinen Jüngern nicht erwartet worden, wenn sie auch jetzt «ohne
Zögern die Wahrheit seiner Auferstehung annahmen» (hl. Papst Leo, Sermo
61,4; vgl. Mt 28,27; Lk 24,11). Aber diese Erscheinungen führten sie zur
Anerkennung, daß «der Herr wahrhaft auferstanden ist» (Lk 24,34).
b) Im Licht von Ostern erhellten sich bestimmte Aussagen
Jesu, die auf den ersten Blick recht schwierig erschienen waren (Joh
2,22), und ebenso bestimmte Taten von ihm (Joh 12,16).
Vor allem seine Passion und sein Tod bekamen erst ihren
vollen Sinn, als er ihnen «zum Verstehen der Schriften den Geist
geöffnet hatte» (Lk 24,32.45). Auf diese Weise wurden die «Zeugen»
aufgestellt, auf deren Wort sich der Glaube der
Urgemeinde gegründet hat (Lk 24,48; Apg 1,8; vgl. 1 Kor 15,4-8). Ihr Zeugnis führte in der Tat zum Verstehen all
dessen, was «im Gesetz des Mose, der Propheten und der
Psalmen» (Lk 24,44) über Jesus geschrieben war, und zur
Rechenschaft über die Art und Weise, wie Gottes Verheißungen sich in ihm
erfüllt haben.
c) Diese «Manifestationen» (Apg 10,40 f; Mk 16,12-14) erhellen
zugleich den Sinn der Ereignisse, die sich als Folge der Auferstehung
aus den Toten darstellten, nämlich die Gabe des Heiligen Geistes am
Abend des Ostertages (Joh 20,22), die Herabkunft des Heiligen Geistes
auf die Jünger an Pfingsten (Apg 2,16-21.33), die «im Namen Jesu»
gewirkten Heilungen (Apg 3,6 u. ö.). Von diesem Zeitpunkt an hatte der
apostolische Glaube nicht nur das Gottesreich, dessen Kommen Jesus
verkündigt hatte (Mk 1,15), als Mittelpunkt, sondern auch die Person
Jesu selbst, in der dieses Reich seinen Anfang genommen hatte (vgl. Apg
8,12; 19,8 u. ö.), Jesus, wie sie ihn vor seinem Tod gekannt hatten und
wie er durch seine Auferstehung aus den Toten in seine Herrlichkeit
eingetreten ist (Lk 24,26; Apg 2,36).
2.2.2.2. Die Entwicklung der Christologie
a) Entsprechend der Verheißung Jesu (Lk 24,49; Apg 1,8) wurden
seine Jünger «mit einer Kraft aus der Höhe, derjenigen
des Heiligen Geistes erfüllt», als die Tage von Pfingsten vollendet
waren (Apg 2,1-4; vgl. 10,44). So sah in der Tat das besondere Geschenk
des neuen Bundes aus: Durch den ersten Bund war dem Volk Gottes
das Gesetz geschenkt worden; durch den neuen Bund wurde der Geist des
Herrn auf alles Fleisch ausgegossen, entsprechend der
prophetischen Verheißung (Apg 2,16-21; vgl. Joel 3,1-5 LXX). Durch
diese «Taufe
im Heiligen Geist» (Apg 11,16; vgl. Mt 3,11 und Parr.) empfingen die
Apostel Mut und Kraft, um für Christus Zeugnis abzulegen
(Apg 2,23-26; 10,39 u. ö.), um das Wort Gottes mit Freimut (parrhesia
Apg 4,29.31) zu verkünden und im Namen des Herrn Jesus Wunder zu
vollbringen (Apg 3,6 u. ö.). So wurde die Gemeinde der an Jesus Christus
Glaubenden begründet. Danach ist die «im Heiligen Geist» auferbaute
Kirche (Apg 9,31; vgl. Röm 15,16-19; Eph 2,20-22) unter den Juden und im
Umfeld der Völker so sehr gewachsen, daß für Christus und das
Gottesreich Zeugnis abgelegt und es «bis an die Enden der Erde»
bekanntgemacht werden konnte (Apg 1,8).
b) Die Überlieferungen des Evangeliums wurden gesammelt und Schritt für Schritt in diesem Licht aufgeschrieben, um dann
schließlich in vier Büchern festgehalten zu werden. Diese sind nicht
einfachhin Sammlungen dessen, «was Jesus getan und gelehrt
hat» (Apg 1,1); sie geben hierzu vielmehr theologische Deutungen (vgl.
die Instruktion der Päpstlichen Bibelkommission vom 14.
Mai 1964; deutsch: Die Wahrheit der Evangelien [SBS 1], Stuttgart [KBW]
1965). Man muß also die Christologie jedes einzelnen Evangelisten erforschen.
Das gilt vor allem für Johannes, der in der Zeit der Kirchenväter den
Beinamen «der Theologe» erhielt. Desgleichen haben alle Verfasser, deren
Schriften das Neue Testament aufbewahrt hat, die Taten und Worte Jesu in
je verschiedener Weise gedeutet, und ganz besonders seinen Tod und
seine Auferstehung. So kann man von der Christologie des Apostels Paulus
sprechen, die sich entwickelt und verändert hat von seinen frühesten
Briefen an bis zu jener Überlieferung, die von ihm selbst dann ausgeht.
Wiederum andere Christologien findet man im Hebräerbrief, im ersten
Petrusbrief, in der Johannesapokalypse, den Briefen des Johannes und
Judas, im zweiten Petrusbrief, wenn auch nicht dieselbe
Entwicklung in all diesen Schriften stattgefunden hat. Diese
Christologien unterscheiden sich nicht nur durch das unterschiedliche
Licht, das sie auf die Person Christi werfen, der das Alte Testament
erfüllt; sondern die eine oder andere bringt dazu noch neue
Elemente, insbesondere die «Kindheitsevangelien» bei Matthäus und
Lukas, welche die Jungfrauengeburt Jesu lehren, während die Schriften
des Paulus und des Johannes uns das Geheimnis seiner Präexistenz
enthüllen. Ein
vollständiger Traktat «Christus Herr, Mittler und Erlöser» wird nirgends
geboten. Tatsache ist, daß die Verfasser des Neuen Testaments als Hirten
und Lehrer mit unterschiedlichen Stimmen in der Symphonie eines
einzigartigen Gesanges ein und denselben Christus bezeugen.
c) Diese Zeugnisse müssen in ihrer umfassenden
Ganzheit und Vollständigkeit angenommen werden, damit die Christologie
als im Glauben begründete und verwurzelte Erkenntnis
Christi bei den christlichen Gläubigen wahr und authentisch ist. Sicher
ist es jedem gestattet, für diese oder jene der Christologien mehr
sensibel zu sein, je nachdem sie von Christus besser zu reden scheinen
gemäß den Geistverwandtschaften der verschiedenen Kulturen. Aber für die
Gläubigen stellt erst ihre Gesamtheit das einzigartige Evangelium dar,
welches von Christus verkündigt wurde und sich auf Christus
bezieht. Keine Christologie kann einfach verworfen werden, so als ob sie
auf Grund einer sekundären Entwicklung nicht das wahre Gesicht
Christi darstellen würde, oder als ob sie ihren Wert verloren hätte,
weil sie von einem altertümlichen kulturellen Kontext gekennzeichnet
ist. Die Auslegung der Texte, die notwendig
bleibt, darf nicht dazu führen, sie ihres Inhalts zu entleeren.
d) Was nun die Ausdrucksformen angeht, deren sich die
Verfasser bedienen, um ihre je eigene Christologie darzulegen,
so verdienen sie größte Aufmerksamkeit. Wie oben schon gesagt wurde
(vgl. oben 2.2.1.4.), sind diese Ausdrucksformen weitgehend den Heiligen
Schriften entliehen. Von dem Augenblick jedoch, wo
die Evangeliumsverkündigung mit den
hellenistischen Philosophien und Religionen in Berührung trat, stellten
sich die Hirten und Lehrer der apostolischen Epoche nach und nach
darauf ein, ganz vorsichtig und klug Ausdrücke und Bilder zu übernehmen,
die in der Sprache der Völker in Umlauf waren, wobei sie entsprechend
den Erfordernissen des Glaubens neu interpretiert wurden. Beispiele
dieser Art sind übrigens nicht zahlreich (siehe den Fall des «Pleroma»
in Kol 1,9). Solche Fälle dürfen keinem falschen Synkretismus
zugeschrieben werden, sie wollen denselben Christus beschreiben, den
andere mit Hilfe anderer Ausdrücke bezeichnen, welche mehr unmittelbar
von der Schrift abhängig sind. Sie öffnen so
den Weg für die Theologen aller Zeiten, die die «Hilfs» Sprachen
finden mußten - und noch finden müssen -, um ihren
Zeitgenossen die besondere und grundlegende Sprache der Heiligen
Schrift klarzumachen, um das Evangelium richtig und in seiner ganzen
Fülle allen zu verkünden.
2.2.3. Christus Heilsmittler
2.2.3.1. Christus gegenwärtig in seiner Kirche
a) Christus bleibt bei den Seinen bis ans Ende der Welt (Mt
28,20). Die Kirche, deren Leben ganz von Christus, dem Herrn, herkommt,
hat als Sendung, sein Geheimnis zu ergründen und es den Menschen bekannt
zu machen. Dies aber kann nur im Glauben und unter dem Einfluß des
Heiligen Geistes verwirklicht werden (1 Kor 2,10-11). In der Tat
verteilt dieser
seine Gaben jedem einzelnen, wie er will (vgl. 1 Kor 12,11), «für den
Aufbau des Leibes Christi. So sollen wir alle zur
Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, damit wir zum
vollkommenen Menschen werden und Christus in seiner vollendeten Gestalt
darstellen» (Eph 4,12-13). Derart in die Welt eingefügt, erfährt die
Kirche in ihrem Glauben die Gegenwart Christi mitten in ihr (vgl. Mt
18,20). Daher ist sie mit einer festen Hoffnung auf die glorreiche
Ankunft ihres Herrn hin ausgerichtet. In ihrem Beten bringt sie diesen
Wunsch zum Ausdruck, besonders wenn sie das Gedächtnis seines Leidens
und seiner Auferstehung feiert (1 Kor
11,26) und dabei inständig um seine Wiederkunft anhält: «Komm, Herr Jesus!» (1 Kor 16,22; vgl. Offb 22,20).
b) Im Wechsel der geschichtlichen Situationen fällt es der
Kirche zu, die Gegenwart und das Handeln Christi authentisch zu
erkennen. Daher müht sie sich, die «Zeichen der Zeit» zu erforschen
und sie immer im Licht des Evangeliums zu deuten (vgl. Gaudium et spes
Nr. 4). Um das zu tun, müssen die Diener des Evangeliums und
die Gläubigen, jeder entsprechend seiner eigenen Rolle, die Lehre von
Gott, unserem Retter, hüten (Tit 2,10) und «das anvertraute Gut
bewahren» (1 Tim 6,20), um nicht «umhergerissen zu werden vom Wind jeder
beliebigen Lehre» (Eph 4,14). Deswegen müssen der wahre Glaube an
Christus, das authentische Handeln des Heiligen Geistes und die rechte
«Praxis» der Christgläubigen immer «unterschieden»
(1 Kor 12, 10) und «geprüft» werden (1 Joh 4,1). Der wahre Glaube ist der Glaube an Jesus Christus, den Sohn
Gottes, der Fleisch geworden ist (1 Joh 4,2), der den Menschen den Namen
des Vaters geoffenbart hat (Joh 17,6), der sich selbst ausgeliefert hat
als Lösegeld für alle (1 Tim 2,6; vgl. Mk 10,45 und Parr.), der am
dritten Tag auferstanden ist (1 Kor 15,4), der in die Herrlichkeit
erhoben wurde (1 Tim 3,16), der zur Rechten Gottes sitzt (1 Petr 3,22)
und dessen Offenbarung in Herrlichkeit am Ende der Zeiten erwartet wird
(Tit 2,13). Eine Christologie, die nicht all das bekennen
würde, würde sich vom Zeugnis der apostolischen Tradition entfernen, die
doch letzte Regel des Glaubens ist nach dem heiligen Irenäus
(Demonstratio apostolica Nr. 3), «Regel der Wahrheit», die in allen
Kirchen dank der apostolischen Sukzession bewahrt wird (Adversus
haereses III,I,2) und die von jedem Christen bei seiner
Taufe übernommen wird (ebd. I,IX,4).
c) Ebenso muß die Wirkung des Heiligen Geistes mit
Hilfe sicherer Zeichen unterschieden werden. Die Kirche ist auf
ihrem Weg vom Geist Gottes geführt. Aber genau wie jeder Gläubige (Röm
8,14) darf auch sie nicht «jedem Geist Glauben
schenken» (1 Joh 4,1). Denn es gibt keinen Geist Gottes als nur «den
Geist Jesu» (Apg 16,7), diesen Heiligen Geist, ohne den niemand sagen
kann: «Herr ist Jesus» (1 Kor 12,3). Derselbe Geist erinnert die Jünger
an alles, was Jesus gesagt hat (Joh
14,26), und führt sie in die volle Wahrheit ein (Joh 16,13), bis in
der Kirche «die Worte Gottes zur Erfüllung gelangen» (Dei Verbum Nr. 8). Durch
diesen Geist hat der Vater Jesus aus den Toten auferweckt (Röm 8,11) und
in ihm den Neuen Menschen «in der Gerechtigkeit und Heiligkeit der
Wahrheit» (Eph 4,24) geschaffen. Durch ihn wird er all jene auferwecken,
die an Christus glauben (Röm 8,11; 1 Kor 6,14). Durch Glaube und Taufe
wurden die Christen zu Gliedern Christi (1 Kor 6,13), mit ihm vereinigt
bis in ihren Leib hinein, der sein Leben empfängt und ein Tempel des
Heiligen Geistes wird (1 Kor 6,19). In ihnen allen stellt er nur einen
einzigen Leib dar, welcher der gekreuzigte und auferstandene Leib
Christi selber ist. Dieser Leib, durch einen einzigen Geist belebt (1
Kor 12,12 ff; Eph 4,4), umfaßt alle Getauften als seine Glieder, und das
ist die Kirche (Kol 1,24; Eph 1,22). Christus ist das Haupt dieses
Leibes, er belebt ihn und läßt ihn wachsen (Kol 2,19) durch die Kraft
(Eph 4,16) seines Geistes. Das ist die «Neue Schöpfung» (2 Kor
5,17; Gal 6,15), in der Christus alles, was die Sünde gespalten hatte,
wieder versöhnt: die Menschen untereinander (Eph 2,11-18), die Sünder
mit Gott, für den sie durch ihr Aufbegehren zu Feinden geworden waren (2
Kor 5,18-20; Röm 5,10; Kol 1,21), und selbst die ganze Welt, wo
Christus die Mächte des Bösen, die die Menschheit tyrannisieren,
besiegt hat (Kol 1,20; 2,15; Eph 1,10.20-22).
2.2.3.2. Der Vollendung in Christus entgegen
a) Das Heil, welches Christus bringt, ist daher «total», denn es
berührt die Menschen bis in ihren Leib dank der Gnade der Taufe (Röm
6,3-4; Kol 2,11-12), der Eucharistie (vgl. 1 Kor 10,16-17) und der
anderen Sakramente (vgl. Röm 12,1). Die Heiligkeit Christi, die sich der
Kirche mitteilt, strahlt so in das konkrete Leben der Christen aus und
durch sie in die Welt, in der sie leben. Sie nehmen nach dem Bild
ihres «erstgeborenen» Bruders (Röm 8,29) am Aufbau des Reiches Gottes
teil, das er unter den Menschen aufzurichten gekommen ist, mit seinem
ganzen Programm der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens (Gal
5,22-23; Phil 4,8; Kol 3,12-15). Nach dem Beispiel ihres Meisters sollen
sie «ihr Leben hingeben für ihre Brüder» (1
Joh 3,16). Jesus ist gekommen, den Armen die Frohe Botschaft zu
verkünden, die Gefangenen zu befreien, die Unterdrückten zu
erlösen (Lk 4,18-21). Seinen Jüngern liegt es am Herzen, dieses Werk
der Befreiung fortzusetzen. Seine Kirche bereitet
das Kommen des Endzeitreiches Christi vor, wenn dieser,
nachdem er alles unterworfen hat, sich selbst seinem Vater
unterwerfen wird, «damit Gott alles in allem sei» (1 Kor
15,28). Schon jetzt fügt sich die Kirche mit dem Blick auf diese
Vollendung durch ihre Glieder in die gegenwärtige Welt ein. Weit
entfernt davon, sie aus der Welt herauszunehmen, arbeitet
sie durch sie, um den Geist des Evangeliums in alle ihre familiären,
sozialen und politischen Strukturen eindringen zu lassen. So breitet der
in der Welt gegenwärtige Christus seine Heilsgnade aus: «Hinabgestiegen
in die Niederungen der Erde» und «hinaufgestiegen über alle
Himmel, erfüllt er das All» (Eph 4,9-10).
b) Das kann nicht ohne Mühe und Leiden geschehen (Mt
5,11; Joh 15,20; 16,33; Kol 1,24). Die Sünde, die seit Anfang in die
Welt eingedrungen ist (Röm 5,12), fährt fort, dort ihre Verwüstungen
anzurichten. Das Gottesreich, obwohl schon begonnen, hat
sich noch nicht voll und ganz manifestiert. Es entwickelt sich nach und
nach in den Schmerzen einer Geburt (Mt 24,8; Joh 16,21-22). Die
Schöpfung selbst, der Vergänglichkeit unterjocht, sehnt sich danach, von
der Knechtschaft des Verderbens befreit zu werden (Röm 8,29-31). Durch
seinen Tod und seine Auferstehung aber hat Christus über die Sünde
triumphiert. Er hat den «Fürst dieser Welt» besiegt (Joh
12,31; 16,11.33). Nach seinem Vorbild und aus seiner Gnade heraus müssen
die Christen daher kämpfen und leiden, falls nötig bis zum Martyrium und
zum Tod (Mt 24,9-13 und Parr; Joh 16,2; Offb 6,9-11), damit das Gute
über das Böse siegt, in
Erwartung des «neuen Himmels und der neuen Erde …wo die Gerechtigkeit wohnen wird» (2 Petr 3,13). Dann
wird jener, der uns als erster geliebt hat (1 Joh 4,19), anerkannt,
geliebt, angebetet und verehrt werden von allen Menschen, die seine
Adoptivkinder geworden sind (Eph 1,5). So vollendet sich in der
glückseligen Ewigkeit das Heilswerk, welches seine barmherzige Treue mit
unermüdlicher Geduld fortführt (vgl. Röm 2,4-5; 3,25-26; 9,22), von
seinem ersten Ruf an, dem sich die
Menschheit entzogen hat, bis zu dem Tag,
an dem alle ihn in nie endendem Glück hochpreisen werden: «Ihm, der auf
dem Thron sitzt, und dem Lamm gebühren Lob und Ehre und Herrlichkeit und
Kraft in alle Ewigkeit» (Offb 5,13).
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