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Paul Josef Kardinal Cordes

Pressesaal des Heiligen Stuhls

Hinführung zur Enzyklika Caritas in veritate

 „Liebe in der Wahrheit“ ist die lang erwartete Sozialenzyklika Benedikts XVI. Hatte der Papst schon in seinem ersten Lehrschreiben „Deus caritas est – Gott ist die Liebe“ originelle und tiefgreifende Anregungen zum kirchlichen Einsatz für die Würde des Menschen gegeben, so widmet sich das neue Dokument ausschließlich der Soziallehre. Dabei haben beide Texte die „Caritas/Liebe“ als ihren Zentralbegriff. Das ist kein Zufall: Es kennzeichnet grundsätzlich die Verkündigung des römischen Bischofs und seine Sicht des Kampfes gegen Elend und Not in der Welt.

Erwartungsgemäß verankert der Papst die von ihm an den Anfang gestellte „Liebe“ wie in seinem ersten Lehrschreiben in der Heilsgeschichte. Sie gründet in der göttlichen Liebe, die in Christus Gestalt angenommen hat. Hier liegt die Inspirationsquelle für Handeln und Denken des Christen in der Welt. In ihrem Licht wird die Wahrheit ein „Geschenk (...) das nicht von uns erzeugt, sondern immer gefunden, oder besser, empfangen“ wird (Nr. 34). Sie kann nicht reduziert werden auf ein schlichtes gegenseitiges Wohlwollen oder auf die Philanthropie.


Die Soziallehre innerhalb der kirchlichen Sendung

Es ist nicht Aufgabe der Kirche, eine gerechte Gesellschaft zu schaffen

Die Kirche ist von Christus begründet worden, um Sakrament des Heils für alle Völker zu sein (Zweites Vatikanisches Konzil, Konstitution Lumen gentium 1). Ihrer spezifischen Mission steht ein verbreitetes Mißverständnis entgegen: Mancher ist geneigt, sie als irdische Institution zu sehen bis hin zu dem Punkt, sie zu einem politischen Handlungsträger zu verformen. Die Kirche inspiriert, aber sie macht keine Politik. Mit Rückgriff auf die Enzyklika Populorum progressio von Papst Paul VI. stellt die vorliegende Enzyklika klar und deutlich fest: „Die Kirche hat keine technischen Lösungen anzubieten und beansprucht keineswegs, sich in die staatlichen Belange einzumischen“ (Nr. 9). Die Kirche ist keine politische Partei und auch kein Akteur, der politische Mittel einsetzt. Keinesfalls darf die Mission der Kirche auf eine innerweltliche Pressure Group mit politischen Belangen reduziert werden. Kardinal Joseph Ratzinger selbst ist als Präfekt der Glaubenskongregation in der Auseinandersetzung mit bestimmten Formen der Befreiungstheologie diesem möglichen Irrtum entgegengetreten (Instructio vom 6. August 1984).
Das bedeutet wiederum, daß die Soziallehre der Kirche keinen „dritten Weg“ darstellt; sie hat kein politisches Programm, dessen Realisierung zu einer perfekten Gesellschaft führte. Wer sie so versteht, läuft paradoxerweise Gefahr, einem „Gottesstaat“ Vorschub zu leisten, bei dem die gültigen Glaubensprinzipien kurzerhand zu Prinzipien für das menschliche Zusammenleben würden, anzuwenden gleichermaßen auf Gläubige wie Nichtgläubige unter Einschluß von Gewaltanwendung. Angesichts solcher Thesen plädiert die Kirche für die Religionsfreiheit und die rechte Autonomie der Schöpfungsordnung, entsprechend der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils.


Die Soziallehre der Kirche ist ein Element der Evangelisierung

In positiver Hinsicht erläutert die Enzyklika Caritas in veritate die Bedeutung der Soziallehre für die kirchliche Sendung, wenn etwa ausgehend von Populorum progressio der Zusammenhang von Evangelisierung und menschlichem Fortschritt behandelt wird (Nr. 15). Während der Hauptakzent der Soziallehre bislang eher die Verbreitung von Gerechtigkeit anzielte, kommt durch sie jetzt die Pastoral im weitesten Sinn in den Blick: Die Soziallehre wird als Element der Evangelisierung herausgestellt. Das heißt, die Verkündigung des Todes und der Auferstehung Christi, die die Kirche seit Jahrhunderten übt, erfährt ihre Aktualität auch im Hinblick auf das soziale Leben.
Diese Feststellung beinhaltet zwei Aspekte: Wir können die Soziallehre nicht unabhängig vom Kontext des Evangeliums und seiner Verkündigung lesen. Die Soziallehre entsteht, wie diese Enzyklika zeigt, im Licht der Offenbarung und muß auch in diesem Licht interpretiert werden.
Andererseits läßt sich die Soziallehre nicht mit der Evangelisierung gleichsetzen, sondern sie ist nur eines ihrer Elemente. Das Evangelium betrifft das menschliche Leben auch hinsichtlich der sozialen Beziehungen und meint auch die Institutionen, die aus diesen Beziehungen entstehen; aber man kann den Menschen nicht auf sein Sozialleben allein reduzieren. Dieser Gedanke wurde von Johannes Paul II. in der Enzyklika Redemptoris missio mit Nachdruck herausgestellt (Nr. 11). Folglich umfaßt die Verkündigung des Evangeliums von Mensch zu Mensch mehr als die Soziallehre der Kirche.

Die Soziallehre: nicht ohne die Offenbarung

Ein kurzer historischer Überblick: Angesichts der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und ihrer unheilvollen Auswirkungen hat die Kirche mit ihren Appellen dringend ein Eingreifen des Staates gefordert, um mit naturrechtlicher Argumentation die soziale Gerechtigkeit und die Würde der Person einzuklagen. In der Enzyklika Pacem in terris befaßte sich Papst Johannes XXIII. später stärker mit dem Horizont des Glaubens und sprach von der Sünde und ihrer Überwindung durch die Kraft göttlichen Heils. Johannes Paul II. führte dann den Ausdruck „Strukturen der Sünde“ ein und wandte das Heilsgeschehen auch auf den Kampf gegen menschliches Elend in all seinen Formen an. Seine Enzyklika Sollicitudo rei socialis hat die Sozialehre in die Moraltheologie eingefügt: „Sie gehört daher nicht in den Bereich der Ideologie, sondern der Theologie, insbesondere der Moraltheologie“ (Nr. 41). Von da ab bewegt sich die Soziallehre eindeutig in den Bereich der Theologie. Die Prinzipien der Soziallehre sind also nicht länger rein philosophischer Natur, sondern haben ihren Ursprung in Christus und in seinem Wort. In Deus caritas est schreibt Benedikt XVI., daß der Glaube die Vernunft reinigt und ihr so hilft, eine gerechte Ordnung in der Gesellschaft zu errichten (Nr. 28a); hier ist die Soziallehre zu verorten. Sie stützt sich also auf einen jeder Vernunft zugänglichen Diskurs und daher auf das Fundament des Naturrechts. Aber sie anerkennt auch die Abhängigkeit von der Glaubenswahrheit.
Der vorliegende Lehrtext übernimmt die Glaubenssicht expliziter und entschiedener als seine Vorläufer und stellt die Problematik in das Licht der Caritas, der Liebe. Er lehrt, daß „die Liebe der Hauptweg der Soziallehre der Kirche“ ist (Nr. 2). Die hier gemeinte Liebe ist von Gott „empfangen und geschenkt“ (Nr. 5). Die Liebe des Vaters, des Schöpfergottes, und des Sohnes, des Erlösers, uns eingegossen durch den Heiligen Geist, ermöglicht das Gemeinschaftsleben des Menschen auf der Grundlage bestimmter Prinzipien. Die Enzyklika hält für die Entwicklung des Menschen fest, daß „die Liebe im Zentrum steht“ (Nr. 19). Die Weisheit, heißt es weiter, die fähig ist, den Menschen zu leiten, „muß mit dem ‚Salz‘ der Liebe ‚gewürzt’ sein“ (Nr. 30). Diese einfachen – und selbstverständlich erscheinenden – Feststellungen erhalten wichtige Implikationen: Losgelöst von der christlichen Erfahrung, wird die Soziallehre genau jene Ideologie, die Johannes Paul II. als irrig abgelehnt hat. Oder sie wird gar ein politisches Manifest ohne Seele. Die Soziallehre verpflichtet den Christen hingegen vor allem andern, seinen Glauben zu „verleiblichen“. So heißt es in der Enzyklika: „Die Nächstenliebe offenbart auch in den menschlichen Beziehungen immer die Liebe Gottes; diese verleiht jedem Einsatz für Gerechtigkeit in der Welt einen theologalen und heilbringenden Wert“ (Nr. 6). Auf die oft gestellte Frage: „Welchen Beitrag leistet der Christ zur Errichtung der Welt?“ gibt die Soziallehre der Kirche die Antwort.

Anthropozentrische Annäherung

Das Herz der Soziallehre bleibt der Mensch. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß die Aufmerksamkeit dieser Disziplin in einer ersten Phase vor allem auf die Problemlagen der Gesellschaft gerichtet war: Regelung der Arbeit, Zugang zu einem gerechten Lohn, Vertretung der Arbeiter. Später wurden die Probleme angegangen, die sich international auftun: das Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich, die Entwicklung, die internationalen Beziehungen.
Mit der theologischen Akzentsetzung bei Johannes XXIII. rückt die Frage stärker in den Mittelpunkt, was das alles für den Menschen bedeutete – damit sind wir in einer zweiten Entwicklungsphase dieser Disziplin. Johannes Paul II. hat solches Bewußtsein noch weiter geschärft, indem er die Reflexion über die soziale Frage auf das anthropologische Problem hin ausgerichtet hat. Seine Perspektive ist deutlich erkennbar in dem vorliegenden Dokument: „Das erste zu schützende und zu nutzende Kapital ist der Mensch, die Person in ihrer Ganzheit“ (Nr. 25); „die soziale Frage ist in radikaler Weise zu einer anthropologischen Frage geworden“ (Nr. 75). Ein Fortschritt, der diesen Namen verdient, muß daher den Menschen in seiner Ganzheit wachsen lassen: Wir finden in dem Text Hinweise auf die Umwelt, den Markt, die Globalisierung, die Frage der Ethik, das Leben, die Kultur, das heißt auf die unterschiedlichsten Bereiche, in denen der Mensch tätig ist. Diese Ziele aufzuzeigen, ist ein kostbares Erbe der Soziallehre seit ihren Anfängen.
Bei längeren Nachdenken impliziert die anthropologische Frage jedoch, daß man sich auch dem zentralen Problem stellen muß: Welchen Menschen wollen wir fördern? Können wir eine Entwicklung als förderlich ansehen, die den Menschen in einen innerweltlichen Horizont einschließt, bestehend nur aus materiellem Wohlstand; die die Frage der Werte, des Sinns, des Unendlichen ausläßt, zu dem der Mensch berufen ist? Kann eine Gesellschaft überleben ohne tragfähige Grundlagen, ohne Blick auf die Ewigkeit, ohne dem Menschen eine Antwort zu geben auf seine tiefsten Fragen? Kann es wahre Entwicklung geben ohne Gott?
In der Logik dieser Enzyklika tritt nun ein weiterer Schritt hervor – wohl eine dritte Phase in den Überlegungen zur Soziallehre. Es ist kein Zufall, daß sich die Liebe als des Rätsels Lösung erweist, nämlich die göttliche Liebe, auf die bei Menschen eine theologale Tugend antwortet. Der Mensch stellt sich nicht nur als Objekt eines Prozesses dar, sondern er wird Subjekt dieses Prozesses: Der Mensch, der Christus kennengelernt hat, arbeitet aktiv an der Veränderung mit, damit alle katholische Soziallehre nicht totes Papier bleibt. Benedikt XVI. schreibt: „Ohne rechtschaffene Menschen, ohne Wirtschaftsfachleute und Politiker, die in ihrem Gewissen den Aufruf zum Gemeinwohl nachdrücklich leben, ist die Entwicklung nicht möglich“ (Nr. 71). Hier sehen wir eine direkte Kontinuität zur Enzyklika Deus caritas est, die in ihrem zweiten Teil auch auf die Eigenschaften der Menschen eingeht, die in caritativen Einrichtungen arbeiten. Und der Blick weitet sich auf die Welt des öffentlichen Lebens hin, bei dem wir oft, im Norden und im Süden, allseits bekannte Phänomene beobachten, die das Wachstum eines Volkes verhindern: Korruption und Illegalität (Nr. 22), der Hunger nach Macht (Deus caritas est 28). Die „Ursünde“, so erinnert der Text in der Nummer 34, verhindert vielerorts den Aufbau der Gesellschaft; sie verführt auch die, die in der Gesellschaft besondere Verantwortung haben. Man kann die soziale Frage nicht lösen, ohne sich auf die ethische Frage zu beziehen. Die Enzyklika erwähnt den neuen Menschen im biblischen Sinn (Nr. 12): Es gibt keine neue Gesellschaft ohne „neue Menschen“. Die Soziallehre bleibt nur dann nicht Papier oder Ideologie, wenn Christen bereit sind, diese mit Gottes Hilfe aus der Nächstenliebe heraus zu leben. Sie erwartet Authentizität von seiten aller Akteure. Benedikt XVI. formuliert ohne Umschweife: „Fern von Gott ist der Mensch unstet und krank“ (Nr. 76). Es ist höchst bemerkenswert, daß die letzte Ziffer der Enzyklika (Nr. 79) dem Gebet und der Notwendigkeit der Umkehr gewidmet ist: Gott erneuert das Herz des Menschen, damit dieser sich einem Leben in Liebe und Gerechtigkeit widmen kann. Deshalb stehen die Christen auch nicht einfach am Fenster und schauen zu oder protestieren, angesteckt von der modernen „Kultur des Einspruchs“, sondern lassen sich bekehren, um in Gott eine neue Kultur zu gestalten. Das gilt auch für die Mitglieder der Kirche, als einzelne oder in Gemeinschaft.

Der Fortschritt

Abschließend möchte ich noch die Vorstellung des Dokuments vom Fortschritt ansprechen. Paul VI. – auch daran erinnert diese Enzyklika – hat ihn in deutlichen Worten behandelt (Populorum progressio, 21). Leider wurde oft behauptet, daß die menschliche Entwicklung unabhängig sei von der Frage des Glaubens, daß es also auf der einen Seite den menschlichen Fortschritt und andererseits die Verkündigung des Glaubens als je getrennte Bereiche gebe. Aber in Populorum progressio kulminiert der Fortschritt, christlich verstanden, im Glauben an Christus und in der Liebe zu ihm. Über die Vereinigung der beiden Dimensionen hinaus, führt dieses Dokument ein weiteres Element in den Begriff des Fortschritts ein: die Hoffnung (Nr. 34).
Wie Benedikt XVI. in seiner Enzyklika „Über die Hoffnung“ – Spe salvi betonte, kann die Hoffnung jedoch nicht auf einen Fortschritt gerichtet sein, der auf Erden für immer ein Reich des Wohlstands errichten will (Nr. 30), weil dies die menschliche Freiheit unberücksichtig ließe: Die Grundlage der christlichen Hoffnung ist hingegen Gottes Gnade. Die Hoffnung hilft uns also, den Fortschritt nicht einzuengen auf die Errichtung eines diesseitigen Reiches Gottes, sondern sie öffnet uns für das Ewige: In Gott findet die Sehnsucht des Menschen nach dem Guten ihre Krönung. Genau in diesem Beziehungsgefüge formuliert die Kirche ihre Soziallehre. Und die Christen finden in ihr die Inspiration für ihren Einsatz in dieser Welt.

Das Interesse an der Enzyklika Caritas in veritate ist groß. Aufmerksam gelesen stellt der Text Benedikts XVI. ein Licht für die Gesellschaft dar und nicht zuletzt für uns Christen.


Bollettino della Sala Stampa della Santa Sede (459/2009), 7. Juli 2009

   

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