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Kard. Robert Sarah                      
Pr
äsident,                                                                         
P
äpslischen Rates Cor Unum 


Die ekklesiologische Dimension karitative

(
Freiburg, Deutschland, 23.4.2013)


Liebe Mitbrüder im Bischofsamt, Liebe Freunde,

In erster Linie will ich heute meinen Dank aussprechen. Ich danke für die Einladung, nach Freiburg zu kommen, einen Besuch beim Deutschen Caritasverband abzustatten und an dieser Universität zu sprechen. Der Besuch selbst will die Anerkennung des Heiligen Stuhls für die bedeutende Arbeit vom Deutschen Caritasverband im Inland und im Ausland zum Ausdruck bringen. Was darüber hinaus diese Lehranstalt kennzeichnet, ist die Tatsache, dass hier schon seit 1925 über karitative Tätigkeit der Kirche auch theologisch und wissenschaftlich reflektiert wird. Ich finde es eine eindrucksvolle und geradezu prophetische Einsicht, dass hier an dieser Universität 1925 einen Caritaswissenschaftlichen Lehrstuhl eingerichtet wurde. Handeln muss von Reflexion begleitet werden. Auch hier hat Deutschland eine Vorreiterrolle gespielt und davon machen wir auch universalkirchlich Gebrauch. Erst vor einem Monat hat Cor Unum Experte aus dem deutschsprachigen Bereich, u.a. auch Prof. Pompey, Prof. Baumann und Frau Prof. Nothelle-Wildfeuer aus dieser Universität, eingeladen, um Formen einer theologischen Begleitung unserer karitativen Tätigkeit auszuarbeiten. Geben Sie diese gute Tradition nicht auf, in der Bindung an die Universalkirche und im ständigen Austausch die gegenseitige Bereicherung und Förderung im Bereich der Caritas zu ermöglichen. Gerade in meiner Aufgabe als Präsident des Päpstlichen Rates Cor Unum, als der Instanz vom Heiligen Stuhl, die nach den Worten von Benedikt XVI. für die Orientierung der kirchlichen karitativen Arbeit verantwortlich ist, möchte ich heute mit Ihnen auf den Grund und den letzten Sinnhorizont von kirchlicher Caritas eingehen, die in der Einbettung in einer kirchlichen Identität gerade den Beitrag, auch den geistigen und geistlichen Beitrag geben kann, den die Welt von ihr verlangt.

1. Was bedeutet die Caritas als organisierte Liebestätigkeit für die Kirche in ihrem Wesen und ihrer Sendung, zumal für unsere Zeit und unsere Welt von heute mit all ihrer Vielfalt? Als Papst Benedikt XVI. am 11. November 2012 ein Motu Proprio unterzeichnete, um kirchenrechtliche Ergänzungen für das Feld der organisierten Caritas zu erlassen, wollte er dieses Dokument mit den Worten „Intima Ecclesiae natura“ [IEN] beginnen lassen. Ich zitiere:
„»Das Wesen der Kirche drückt sich in einem dreifachen Auftrag aus: Verkündigung von Gottes Wort (kerygma-martyria), Feier der Sakramente (leiturgia), Dienst der Liebe (diakonia). Es sind Aufgaben, die sich gegenseitig bedingen und sich nicht voneinander trennen lassen« (Enzykl. Deus caritas est [Dce], 25).“ Dieses Zitat aus seiner Enzyklika Deus caritas est erläuterte Papst Benedikt im Motu Proprio so: „Auch der Dienst der Liebe ist ein konstitutives Element der kirchlichen Sendung und unverzichtbarer Ausdruck ihres eigenen Wesens (vgl. ebd.)“ (IEN, Einleitung, Abs. 2).
Wir können darum auch sagen: Caritas hat es mit dem innersten Wesen der Kirche zu tun – bzw. umgekehrt: Die Kirche kommt in der Caritas mit ihrem innersten Wesen in Berührung; ohne Caritas kann sie ihr Wesen nicht realisieren und ebenso wenig ihre „Sendung im Dienst der Liebe“ (Dce 42). Ich habe es während unserer Vollversammlung im vergangenen Januar so formuliert: „Die Caritas ist kein Spezialgebiet innerhalb der Kirche. Sie ist der Saft, der aus dem Rebstock kommt, sie ist das Leben des ganzen Leibs, sie ist ein universaler Aufruf, unseren Glauben zu leben und unserer Menschheit zum Wachsen zu verhelfen durch das Evangelium.“

2. In welcher Weise ist diese fundamentale Bedeutung der Caritas für die Kirche, ihre ekklesiologische Bedeutung zu verstehen? Zuerst eine Vorbeugung gegen zwei leicht entstehende Missverständnisse:
Zwar betonte Papst Benedikt in Caritas in veritate, 2, dass für die Kirche die Liebe, die caritas, alles ist. Er meinte damit jedoch nicht die als „Caritas“ bezeichnete und bezeichenbare organisierte Liebestätigkeit der Kirche, sondern deren Quelle: Die Liebe, die Gott selbst ist. So heißt es in Caritas in veritate 2 weiter: „Aus der Liebe Gottes geht alles hervor, durch sie nimmt alles Gestalt an, und alles strebt ihr zu. Die Liebe ist das größte Geschenk, das Gott den Menschen gemacht hat, sie ist seine Verheißung und unsere Hoffnung.“ (Civ 2). Die Liebe Gottes ist die Lebensquelle der Kirche und ihrer Caritas. Dies wird noch klarer in der Reflexion über die erste Enzyklika von Benedikt XVI., Deus caritas est, über den Liebesdienst der Kirche. Weil Gott Liebe ist, widerspiegelt die Kirche in ihren Gliedern diese göttliche Tugend. Die organisierte Caritas ist Kirche, sie ist Teil ihres dreifachen Auftrages, aber sie ist selbst nicht alles. Sie braucht eine lebendige innere Verbindung mit Liturgie und Verkündigung wie diese sie zur Caritas brauchen, damit sie alle einander gegenseitig stärken, fördern und – wo nötig – korrigieren.
In der Hl. Messe „für die Kirche“ in der Sixtinischen Kapelle zur Beendigung des Konklaves am 14. März dieses Jahres warnte der Hl. Vater Papst Franziskus im Blick auf die Bewegung der Kirche, wenn das Bekenntnis zu Jesus Christus fehlt: „Wir werden eine wohltätige NGO, aber nicht die Kirche, die Braut Christi.“ Eine wohltätige NGO ist nicht dasselbe wie die Kirche. Und die organisierte Caritas? Sie ist eine wohltätige NGO; ja, das ist sie in vielen Fällen aus notwendigen, praktischen Gründen auch. Um ihren Auftrag erfüllen zu können, braucht sie auch die zivilrechtlichen Rahmenbedingungen, in denen sie dem Gemeinwohl der ganzen Gesellschaft dient. Aber sie ist bei weitem nicht nur eine wohltätige NGO, eine austauschbare Variante im allgemeinen Wohlfahrtswesen (vgl. Dce 31; IEN Einleitung Abs. 6). Wer in der Caritas trotz der meist notwendigen zivilen Rechtsform nur eine NGO sieht, liegt völlig falsch. Denn dann wird übersehen, dass sie zugleich die organisierte Liebestätigkeit der Kirche und selbst Kirche ist. Für die Caritas ist wesentlich, dass in ihr die Kirche handelt – so Papst Benedikt: „Die karitativen Organisationen der Kirche stellen dagegen ihr opus proprium dar, eine ihr ureigenste Aufgabe, in der sie nicht mitwirkend zur Seite steht, sondern als unmittelbar verantwortliches Subjekt selbst handelt und das tut, was ihrem Wesen entspricht. Von der Übung der Liebestätigkeit als gemeinschaftlich geordneter Aktivität der Gläubigen kann die Kirche nie dispensiert werden“ (Dce 29, fett ergänzt). Selbst wenn es in der Vielfalt von NGOs sozusagen genügend andere gibt, kann die Kirche nicht darauf verzichten, in systematisch organisierter Weise karitativ zu wirken; die Caritas ist intrinsisch kirchlich, auch wo sie eine NGO ist.
Wir finden uns mit beiden Bemerkungen – von Papst Benedikt wie Papst Franziskus – mitten in der Frage der theologischen Identität der Kirche und ihrer Caritas. Die Kirche wie ihre Caritas ist nur sie selbst im Bekenntnis zu Jesus Christus und seinem Heilswerk, das erfüllt ist von der Liebe Gottes bis zu Jesu Tod am Kreuz. Darum präsentiert sich die Caritas zu Recht nach außen fast immer mit dem Kreuz mit Liebesflammen, dem sog. Flammenkreuz. Die Heiligen der Caritas brannten stets von Liebe zu unserem gekreuzigten und auferstandenen Herrn Jesus Christus.

3. Christliche Liebestätigkeit als gemeinschaftlich geordnete Aktivität der Gläubigen trägt bereits in neutestamentlicher Zeit im Kern Sorge dafür, dass es „innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen […] keine Armut derart geben [darf], dass jemandem die für ein menschenwürdiges Leben nötigen Güter versagt bleiben.“ (Dce 20) Dafür Sorge zu tragen – in praktischer, systematisch geordneter Nächstenliebe – nennt Benedikt XVI. ein „ekklesiales Grundprinzip“. Caritas ist „Durchführung dieses ekklesialen Grundprinzips“ (Dce 21). Sie wehrt den Nöten in der Kirche als Familie Gottes, und sie greift stets auch über die Grenzen der Kirche hinaus aus zu den Armen und Bedrängten aller Art (vgl. Dce 25b). Gerade in diesem Wirken in die ganze Gesellschaft hinein, wirkt sie wie ein Sauerteig, der mit der Liebe Gottes zu den Leidenden die menschlichen Kulturen und Gesellschaften durchsäuert (vgl. Mt 13,33). Die Caritas dient auf diese Weise wesentlich der umfassenden, im wahrsten Sinn des Wortes katholischen Sendung der Kirche, wie Kardinal Bergoglio in seiner inzwischen veröffentlichten Rede im Vorkonklave eindringlich skizzierte: „Sie ist aufgerufen, aus sich selbst herauszugehen und an die Ränder zu gehen. Nicht nur an die geografischen Ränder, sondern an die Grenzen der menschlichen Existenz: die des Mysteriums der Sünde, die des Schmerzes, die der Ungerechtigkeit, die der Ignoranz, die der fehlenden religiösen Praxis, die des Denkens, die jeglichen Elends.“ Sowohl in der Sorge ad intra als auch ad extra der Kirche, in ihrem Dienst mitten in der Welt und für die Welt mit ihren Nöten, die Gott so sehr geliebt hat (vgl. Joh 3,16), ist Caritas christliche Religionsausübung – analog etwa zur Liturgie. Das Recht auf freie Religionsausübung schließt darum den Dienst der Kirche auch durch ihre Caritas ein. Ihr humanitäres Engagement ist zugleich zutiefst religiöses Engagement – und die religiöse Praxis der Kirche ist in ihrer Caritas ganz konkrete humanitäre Praxis. Beides kann nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern gehört aus christlicher Sicht innerlich untrennbar zusammen, nach dem christologischen Prinzip von „vere homo et vere deus“.

4. All dies ist im Grunde nicht neu, doch muss es stets neu wieder gewonnen werden wie die Neuheit unseres Glaubens in jeder Generation neu entdeckt, angeeignet, gelebt und weitergeben werden muss. Diese Aufgabe der Neuentdeckung und Weitergabe des Glaubens – wir können auch sagen: der Evangelisierung oder Neuen Evangelisierung – ruht auf zwei Säulen, von deren Unterstützung sie ganz notwendig abhängig ist: von Bekenntnis und Liebe, von confessio und caritas. Papst Benedikt XVI. wollte damit die Arbeiten der Bischofssynode zur Neuen Evangelisierung im vergangenen Oktober (08.10.2012) nicht nur einleiten, sondern diesen Arbeiten auch ein klares Profil im Heiligen Geist geben. " Die 'confessio" ist keine abstrakte Angelegeheit, sie ist 'caritas', Liebe. Nur so ist sie wirklich ein Spiegel der göttlichen Wahrheit, die als Wahrheit auch untrennbar Liebe ist. Und er fährt im Auslegen des Heilig-Geist-Hymnus fort: Das ist die Weise der Evangelisierung: 'Accendat ardor proximos', die Wahrheit werde in mir Liebe und die Liebe entzünde wie Feuer den anderen. Nur in diesem Entzünden des anderen durch die Flamme unserer Liebe wächst die Evangelisierung wirklich, die Gegenwart des Evangeliums, das nicht nur einfach Wort ist, sondern gelebte Wirklichkeit.
Bewusst verwendete Papst Benedikt das Wort „caritas“, das in einer glücklichen Namenswahl die organisierte Liebestätigkeit der katholischen Kirche mit der Gründung des Deutschen Caritasverbandes über all ihr Tun schreibt und in all ihrem Tun leben und bezeugen will. Denn „caritas“ steht für das neutestamentliche „Agape“, das die einzigartige Liebe Gottes zu uns Menschen in der ganzen Schöpfungs- und Heilsgeschichte bezeichnet und zugleich die richtige Antwort des Menschen und des Gottesvolkes als Gottes- und Nächstenliebe (vgl. Mk 12,28-34 parr), wie Jesus Christus sie verwirklicht hat (vgl. Joh 15,12). Darum kann man mit den Deutschen Bischöfen die christliche Berufung wie die göttliche Berufung aller Menschen mit vollem Recht als Berufung zur caritas bezeichnen (vgl. Die deutschen Bischöfe, Berufen zur caritas, Bonn 2009). Es ist die Liebe, die in den Herzen der Menschen Resonanz sucht und findet, weil wir für die Liebe geschaffen sind. Darum ist für die Kirche die Liebe alles (s.o., Civ 2) – und ohne die Liebe wäre die Kirche mit all ihrem Tun nichts (vgl. 1 Kor 13). Dasselbe gilt aber auch für die organisierte Caritas: in ihr muss die Liebe erfahrbar, spürbar, berührbar sein und so den Menschen beschenken – den Empfangenden wie auf oft erstaunliche Weise auch den Gebenden. So ereignet sich auf geheimnisvolle, gleichsam sakramentale Weise, was Benedikt XVI. herausstellen wollte, dass nämlich „die Nächstenliebe ein Weg ist, auch Gott zu begegnen, und dass die Abwendung vom Nächsten auch für Gott blind macht.“ Auf diese sakramentale Dimension möchte ich gleich nochmals zurückkommen. Hier wird deutlich, wie sehr die gelebte Caritas das Fundament aller Glaubensweitergabe ist, wie Papst Paul VI. in Evangelii nuntiandi (z.B. EN 29) bemerkte, und dem Bekenntnis erst seine Glaubwürdigkeit verleiht.

5. Ich sagte, all dies sei im Grunde nicht neu. Es wurzelt im wichtigsten Gebot (vgl. Mk 12,28-34 par), das Jesus seinem Volk in Erinnerung gerufen und seiner Kirche aufgetragen hat, getragen von der Liebe Gottes zu uns bis zur Vollendung, bis zu Jesu Tod am Kreuz. Von Anfang an war unter den Gläubigen klar, dass im Heiligen Geist nicht nur die einzelnen, sondern auch die Gläubigen als Gemeinschaft zur Liebe als tatkräftiger Sorge für Notleidende berufen sind. Im Hören auf Christi Ruf zur Gottes- und Nächstenliebe haben Gläubige die ganze Geschichte der Kirche hindurch als wache Zeitgenossen die Nöte ihrer Zeit miterlebt und Abhilfe zu schaffen gesucht, indem sie anpackten, sich zusammentaten und Not zu lindern und zu beseitigen trachteten. Oft wurden sie dabei von ihren Priestern und Bischöfen unterstützt, die ihrerseits solche lebendige Sorge für die Nöte der Gläubigen und aller Menschen ihrer Zeit spürten. Die Bischöfe wie die Priester haben tatsächlich besondere Verantwortung dafür, dass ihre Ortskirchen auf Pfarrei- wie Diözesanebene diese Liebestätigkeit nie unterlassen, sondern Initiativen von Laien zu fördern und subsidiär auch selbst ins Leben zu rufen (vgl. IEN 1,1). Jede Diözese braucht ihre diözesane Caritas. Die Bischöfe haben pastorale Leitungsverantwortung dafür, dass die in der Regel zahlreichen Initiativen, gerade wo und weil sie bewusst aus dem Glauben erwachsen, ihre Dienste gut tun und miteinander als kirchliche Realitäten miteinander harmonieren. Das hatte Papst Benedikt in seinem Motu Proprio IEN im Sinn. Darum auch seine Einladung, auf diözesaner Ebene einen Ort der gemeinsamen Begegnung und Orientierung für die Pastoral der Caritas zu schaffen und in jeder Pfarrei eine Pfarreicaritas. Neben den normativen kirchenrechtlichen Vorschriften bzw. für deren möglichst gute Erfüllung im Sinne der Normen – z.B. was Dinge wie Verantwortung und Kontrolle von Verwaltung und Budgets angeht – bedürfen die Bischöfe und Priester freilich auch der Kompetenzen von gläubigen Fachleuten. Wir wissen um deren zahlreiche Präsenz unter dem großen Dach von Caritas Internationalis wie auch des Deutschen Caritasverbandes. Weltweit wie auch in Deutschland leisten sie den Bischöfen hierfür sehr gute Dienste mit Rat und Tat.

6. Der päpstliche Rat Cor Unum hat seinen Namen empfangen vom Zeugnis der Apostelgeschichte über die Jerusalemer Urgemeinde: „Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele“ (vgl. Apg 4,32a; vgl. 4,32-37; 2,43-47). Dieser Einheit des Herzens auf und zwischen allen Ebenen der Kirche für ihre „Sendung im Dienst der Liebe“ (Dce 42) will unser Päpstlicher Rat dienen, zumal der Einheit der Bischöfe, Priester und Diakone und aller in Werken der Nächstenliebe tätigen Gläubigen und sonstigen Menschen guten Willens. Wir wollen und sollen in unserem Bereich jene comunio garantieren, die theologisch zum Wesen der Kirche gehört und der das petrinische Amt wesentlich dient. Als ein Element für das Gelingen dieser Einheit und mehr noch für das Leben dieser Sendung selbst hat Papst Benedikt im Motu Proprio auch das Erfordernis von Formation durch geeignete curricula angesprochen (IEN Art. 7 § 2).
Wie schon in der Vergangenheit könnte hierfür zusammen mit dem Deutschen Caritasverband die Caritaswissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg auch künftig einen wertvollen Dienst leisten. Die beiden ersten Präsidenten des Deutschen Caritasverbandes, die Prälaten Lorenz Werthmann und Benedikt Kreutz, haben sich weitsichtig sehr für ein solches unabhängiges caritaswissenschaftliches Institut für Forschung und Lehre eingesetzt und um seine Errichtung an der Universität Freiburg verdient gemacht. Spätestens mit dem Lehramt Papst Benedikts, doch auch schon vom II. Vatikanischen Konzil her, ist offenkundig, dass im Theologiestudium für die Aufgaben der Liebestätigkeit der Kirche mehr curriculare Elemente zu wünschen sind.

7. Lassen Sie mich diesen Hinweis auf das II. Vatikanische Konzil in wenigen Strichen konkretisieren. Es sind ja nun über 50 Jahre seit dem Beginn des Konzils. Ich möchte mit einer Wortstatistik beginnen. Eine Wortstatistik der Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils (LThK 2. Aufl., Erg.Bd. III, Index Terminologicus, S.735-746, hier: 736) zeigt für den Begriff „caritas“, dass er 154 mal verwendet wurde, der Begriff „veritas“ hingegen nur 102 mal. Am häufigsten wurde „caritas“ in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ benutzt, nämlich 42 mal; mehr noch als in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“– dort 23 mal. Sodann 11 mal im Dekret über das Apostolat der Laien, „Apostolicam Actuositatem“. Freilich ist caritas im Sinne von agape ein Grundwort des christlichen Glaubens, weil sie sogar das Wesen Gottes aussagt. Zu Recht sprach der 2003 verstorbene Freiburger Caritaswissenschaftler Richard Völkl davon, dass die Ekklesiologie des II. Vatikanums eine „ecclesia caritatis“ lehre.1
Was bedeutet die Caritas für die Kirche, zu allen Zeiten, besonders aber in unserer Zeit und Welt von heute? Lassen sie mich mit der Kernaussage von Lumen gentium beginnen.
7.1 Die Caritas wirkt auf entscheidende Weise mit, dass erfahrbar wird, was die Kirche nach LG 1 ist: „gleichsam Sakrament, Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit in Christus.“ Wo die organisierte Caritas im tagtäglichen Dienst Menschen in ihrer Not und Bedürftigkeit nicht allein lässt, sondern sie aufsucht und ihnen kompetent und zugewandt beisteht, schafft und erhält sie Verbindung untereinander: „Einheit“ unter Menschen. Und sie lässt in ihrem Beistehen die Liebe Gottes gerade für die Armen und Leidenden erfahren; sie öffnet oft auch ohne Worte den Horizont auf den Gott, der die Liebe ist, allein dadurch, dass sie Liebe erfahren lässt: „Vereinigung mit Gott“, den auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesem Tun selbst immer wieder beglückend erfahren dürfen. Gott ist da: in ihrem Dienst, in denen, die die Hilfe brauchen, in den Angehörigen, die mit-leiden und mit-tragen und ihre Sorgen teilen, so wie der auferstandene Herr seine Jünger nach Emmaus begleitete und mit dem Geschenk seiner Gegenwart, mit seinem Wort und Sakrament stärkte (vgl. Lk 24). So ist die Caritas ein sehr konkretes Werkzeug, das in seinem vielfältigen Einsatz als Sauerteig wirkt, sich die Hände schmutzig macht, analog zu Christus, der für uns Mensch wurde (vgl. LG 8). Vorzüglich mit der Caritas „umgibt die Kirche alle mit ihrer Liebe, die von menschlicher Schwachheit angefochten sind, ja in den Armen und Leidenden erkennt sie das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war. Sie müht sich, deren Not zu erleichtern, und sucht Christus in ihnen zu dienen.“ (LG 8.3) In wenigen Tagen beginnt hier in Freiburg eine Diözesanversammlung, die Sie, lieber Herr Erzbischof, unter dem Leitwort „Christus und den Menschen nah“ einberufen haben. „Christus und den Menschen nah“ – als Leitwort für die Kirche ist es doch zugleich – wie ich meine – tagtägliche Realität besonders in Ihrer Caritas.
7.2 Diese Grundausrichtung findet sich wieder in der berühmten Formulierung am Beginn von Gaudium et spes: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“ (GS 1) Die Dienste und Einrichtungen der Caritas und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind lebendige Ort der Bewahrheitung dieser Zeilen, insbesondere in der Nähe zu den Armen und Bedrängten aller Art.
7.3 Im Dekret über das Apostolat der Laien, Apostolicam actuositatem, verdichtet das II. Vatikanische Konzil wesentliche Gesichtspunkte für die Organisationen und Werke christlicher Nächstenliebe. Mit deren Integration in dieses Dekret wird deutlich, dass Caritas am besten von den Graswurzeln des christlichen Lebens in der Welt geschieht und nicht primär von der Initiative der Hirten abhängen sollte. Denn die Berufung aller Gläubigen zur Heiligkeit findet ihr Synonym in der Berufung zur caritas. Das Laiendekret erinnert an die innige Verbindung der Caritas mit der Eucharistie von Anfang der Kirche an. Es formuliert zugleich die Pflicht und das Recht der Kirche zur Ausübung von Werken der Nächstenliebe: „Wenn sie sich auch über alles freut, was andere in dieser Hinsicht tun, nimmt sie [die Kirche] doch die Werke der Liebe als ihre eigene Pflicht und ihr unveräußerliches Recht in Anspruch.“ (AA 8.3) In einer globalisierten Welt ist dieses Recht und diese Pflicht sogar entgrenzt: „Das caritative Tun kann und muss heute alle Menschen und Nöte umfassen. Wo immer Menschen leben, denen es an Speise und Trank, an Kleidung, Wohnung, Medikamenten, Arbeit, Unterweisung, notwendigen Mitteln zu einem menschenwürdigen Leben fehlt, wo Menschen von Drangsal und Krankheit gequält werden, Verbannung und Haft erdulden müssen, muss die christliche Hilfe sie suchen und finden, alle Sorge für sie aufwenden, um sie zu trösten und mit tätiger Hilfe ihr Los zu erleichtern.“ (AA 8.4) Was hier leicht als Überforderung empfunden werden kann, ist gleichwohl Teil einer Praxis, die ohne nach irgendwelchen anderen Aspekten zu diskriminieren einfach den Menschen in Not beistehen will – unter Achtung der Freiheit und Würde jedes Menschen, in Lauterkeit der Absicht, auch die Wurzeln von Not anpackend und wo möglich als Hilfe zur Selbsthilfe (vgl. AA 8.5).
8. Hier fügen sich wie in einer Synthese sehr gut die drei Dienstdimensionen an, in welchen auch der Deutsche Caritasverband sein ganzes diakonisches Wirken sieht: als personennahe Hilfen und Dienste, als Stiften von Brüderlichkeit und gegenseitiger Barmherzigkeit, so dass viele zusammenwirken für das Wohl aller, und als prophetischen Einsatz im Geist Jesu für gerechtere (sozial-) politische Gesetze und Regelungen, besonders für die Benachteiligten, die meist nicht selbst die Stimme erheben und kompetent argumentieren können. Auch hierin ist sie kirchlicher Dienst, indem sie im gesellschaftspolitischen Diskurs die katholische Soziallehre für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik fruchtbar macht und nicht nur auf Missstände hinweist, sondern auch gute Argumente und bessere Alternativen für eine gerechtere Sozialordnung vorschlägt. Gerade im Zusammenhang der Wechselbeziehung zur Gesellschaft stellt sich auch die Frage nach der Qualität und nach dem christlichen Zeugniss unserer zahlreichen Strukturen kirchlichen Liebesdienstes. Sie haben wie schon in der Vergangenheit gewissermaßen eine Modellfunktion auszuüben im breiten Markt der Angebote – eine Modellfunktion für die Realisierung, wie Papst Benedikt formulierte, eines „wahren Humanismus, der im Menschen das Ebenbild Gottes erkennt und ihm helfen will, ein Leben gemäß dieser seiner Würde zu verwirklichen.“ (Dce 31b) Auf dieses Element hin sollen sich unsere Institutionen quantitativ und qualitativ messen lassen und auch darin ihre Sinnhaftigkeit erkennen.
Die Caritas ist in all diesen Dimensionen ein wesentlicher Faktor der gesellschaftlichen Diakonie der Kirche auf allen Ebenen: als Sakrament für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit – in der Verwirklichung ihrer Sendung im Dienst der Liebe Gottes (vgl. Dce 42). Gerade in dieser sowohl kirchlich als auch gesellschaftlich relevanten Zeit des Umbruchs kann Papst Franziskus sich auf die karitative Tätigkeit der Kirche verlassen für die Realisierung dessen, woran er die Kardinäle im Vorkonklave eindringlich erinnert hat und das ich gern nochmals wiederhole:
Die Kirche „ist aufgerufen, aus sich selbst herauszugehen und an die Ränder zu gehen. Nicht nur an die geografischen Ränder, sondern an die Grenzen der menschlichen Existenz: die des Mysteriums der Sünde, die des Schmerzes, die der Ungerechtigkeit, die der Ignoranz, die der fehlenden religiösen Praxis, die des Denkens, die jeglichen Elends.“ (http://blog.radiovatikan.de/die-kirche-die-sich-um-sich-selber-dreht-theologischer-narzissmus/ (03.04.2013)) – In ihrem tagtäglichen Hinausgehen an die Ränder lebt die Caritas die Berufung der Kirche, gerade in dieser Zeit der Neuevangelisierung. Sie hilft auch dazu, das Übel kirchlicher Selbstbezogenheit und theologischen Narzissmus‘ zu überwinden. Das ist im besten theologischen Sinn die ganz praktische, kontinuierliche Bedeutung der Caritas für die Kirche, damit diese als ganze ihrer Sendung treu bleibt und sie in freudiger Hingabe lebt. In dieser Aufgabe brauchen wir nicht von ganz neu anzufangen. Die Geschichte der Kirche ist auch eine Geschichte der Heiligen. Und viele Heiligen haben gerade im Liebesdienst das beste Zeugnis ihrer Gottesbeziehung gegeben. Die Heiligen der Vergangenheit sind uns ein Beispiel. Aber solche Heilige, meist im Verborgenen, haben wir auch heute. Das Feuer des Flammenkreuzes steht auch für die brennenden Herzen unzähliger solcher Menschen im Dienst am Nächsten. Es steht für eine meist ungeschriebene, aber wesentliche Kirchengeschichte, Kirchengegenwart und Kirchenzukunft. Eine Kirche, die auch als Gemeinschaft Liebe übt, und wir als ihre Glieder können aus einer inneren Beziehung zu Christus auch heute diese Sendung leben und dieses Zeugnis geben. Mögen die Hoffnung und der Mut dazu in uns richtig brennen (vgl. Lk 12,49)! Ich danke Ihnen.


1 Vgl. Richard Völkl, Exkurs: Die „Kirche der Liebe (Ecclesia Caritatis)“ nach den Dokumenten des Vaticanum II, in: LThK, 2. Aufl., Erg.Bd. III, 1968, 580-586; ders., Dienende Kirche, Kirche der Liebe, Freiburg: Seelsorge-Verlag 1969.


 

 

 

 

 

  

 

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