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 KATECHESE VON KARDINAL LEHMANN,  
BISCHOF VON MAINZ,  
VORSITZENDER DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ,
BEIM WELTJUGENDTAG IN TORONTO

Freitag, 26. Juli 2002

 

Es ist gut, zu dem Kernsatz »Laßt euch mit Gott versöhnen!« (2 Kor 5, 20) den Kontext vor Augen zu haben. Er lautet (5, 14 –21): 

Denn die Liebe Christi drängt uns, da wir erkannt haben: Einer ist für alle gestorben, also sind alle gestorben. Er ist aber für alle gestorben, damit die Lebenden nicht mehr für sich leben, sondern für den, der für sie starb und auferweckt wurde. Also schätzen wir von jetzt an niemand mehr nur nach menschlichen Maßstäben ein; auch wenn wir früher Christus nach menschlichen Maßstäben eingeschätzt haben, jetzt schätzen wir ihn nicht mehr so ein. Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden. 

Aber das alles kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat. Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete und uns das Wort von der Versöhnung (zur Verkündigung) anvertraute. Wir sind also Gesandte an Christi Statt, und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi Statt: Laßt euch mit Gott versöhnen! Er hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden. 

Auch wenn es ein klein wenig nach theologischem Hörsaal oder gar schulmeisterlich klingt, lassen Sie mich ein paar Worte sagen über den zweiten Korintherbrief des hl. Paulus. Wenn man länger mit ihm vertraut wird, entdeckt man seine große Bedeutung. Manche Schriftausleger, die sich viele Jahre mit ihm beschäftigt haben, sagen uns, er sei bis in die Textgestalt hinein einer der schwierigsten, aber auch theologisch einer der schönsten Briefe im Neuen Testament. Paulus hatte große Schwierigkeiten mit der Gemeinde in Korinth, die er gegründet hatte. Seine Gegner sind in die Gemeinde eingedrungen. Er macht einen Zwischenbesuch, reist nach einem Eklat und tief enttäuscht wieder ab und schreibt den sogenannten Tränenbrief, in dem er offenbar seiner Enttäuschung und seinem Zorn freien Lauf läßt. Zugleich schickt er seinen bewährten Mitarbeiter Titus als persönlichen Boten nach Korinth. Der Brief und der Bote tun ihre Wirkung. Die Gemeinde denkt über ihre Feindseligkeiten nach und möchte die gestörte Beziehung zu Paulus wieder in Ordnung bringen. Paulus gibt sich großmütig und friedfertig. Damit ist auch schon das Thema Versöhnung angeschlagen. 

In den letzten Jahren ging es im weltweiten ökumenischen Gespräch, besonders zwischen der lutherischen und der katholischen Kirche, um eine Einigung in den Grundwahrheiten der sogenannten Rechtfertigung. Über dieser elementaren Streitfrage, wie der Mensch gerade in seinen Unzulänglichkeiten und bei seinen Verfehlungen, ja in seiner Verlorenheit jemals und immer wieder gerecht werden kann vor Gott, ist die abendländische Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts ausgebrochen. Es wird vermutlich als Meilenstein in der evangelisch-katholischen Geschichte der Entfremdung und der Versöhnung angesehen werden, daß am 31. Oktober 1999, dem Erinnerungstag von Luthers Veröffentlichung der Ablaß-Thesen an der Schloßkirche zu Wittenberg (Reformationsfest), in Augsburg eine fundamentale Übereinstimmung in Grundwahrheiten dieser über Jahrhunderte währenden Belastungen möglich geworden und feierlich unterzeichnet worden ist. 

Paulus verwendet für dieses Gerechtwerden des Menschen vor Gott verschiedene Begriffe und Wörter. Er spricht zentral und vielleicht am tiefsten von »Rechtfertigung«. Aber er kann dasselbe in einer anderen Perspektive auch »neues Leben«, »Erlösung«, »Befreiung«, »Wiedergeburt« und schließlich »Versöhnung« nennen. Dieses Wort ist uns vielleicht geläufiger als die anderen Leitworte. Wir wissen aus dem Alltag, was es heißt, unversöhnlich zu sein und sich zu versöhnen. Aber so oft kommt das Wort auch bei Paulus nicht vor. Es begegnet uns freilich überhaupt nur bei ihm. Von den sechs Stellen kommt das Verbum dreimal in unserem heutigen Text vor (vgl. 2 Kor 5, 18.19.20, vgl. auch 1 Kor 7, 11 und zweimal Röm 5, 10). Das Substantiv »Versöhnung« findet sich viermal beim hl. Paulus, davon auch wiederum zweimal in unseren Versen (vgl. 2 Kor 5, 18. 19 und Röm 5, 11; 11, 15). Es ist also beim hl. Paulus gewiß ein sehr mit Bedacht gewähltes Wort. Dabei steht fast immer die Beziehung des Menschen zu Gott im Mittelpunkt. 

Das Wort, das wir mit »versöhnen« wiedergeben, hat im Griechischen zunächst die Grundbedeutungen tauschen, vertauschen, verändern, anders machen. Dies wird näher konkretisiert, wenn wir einen unseligen Zustand zum Besseren hin ändern, Feindschaft gegen Freundschaft austauschen, Krieg durch Frieden ersetzen. In 1 Kor 7, 11 steht das Wort z.B. auch für die Überwindung von Unfrieden in der Ehe. Dabei fällt uns auf, daß in 2 Kor 5, 20 von regelrechten »Gesandten« die Rede ist. Es geht darum, daß der »Gesandte« in einer wichtigen Mission erscheint. Dieses Wort hat einen geradezu feierlichen offiziellen Klang. In der Tat ist der Gesandte ein bevollmächtigter Vertreter seines Auftraggebers. Wir werden an kaiserliche Gesandtschaften der damaligen Zeit erinnert, die im Auftrag der höchsten Autorität unterwegs sind, Verhandlungen führen und gelegentlich auch Verträge oder gar Bündnisse schließen. 

In der Predigt und der Seelsorge des hl. Paulus kommt also Gott selbst zu Wort. Was Gott durch Jesus Christus tat, kommt durch den Verkündiger zur Sprache und kann nur auf diesem Wege die Menschen verändern. Dabei fällt auf, daß die angemessene sprachliche Gestalt für diese Botschaft nicht – wie man es vielleicht meinen könnte – so etwas wie ein Befehl ist, sondern Paulus nennt dies mit großer Betonung eine Bitte: »Wir bitten an Christi Statt: Laßt euch mit Gott versöhnen.« Dieser Aufruf, sich doch versöhnen zu lassen, zielt unmittelbar auf die Gemeinde in Korinth. 

Die Korinther wissen auch mehr und mehr, daß sie in Paulus einen solchen bevollmächtigten, autorisierten Träger der Versöhnungsbotschaft haben und brauchen. Dabei wird die ganze weite Theologie der Versöhnung angesprochen, wenn z.B. gesagt wird: »Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat Â…« Es gibt geradezu eine kosmologische, also auf die ganze Welt und das Weltall ausgerichtete Verkündigung dieser Botschaft. Gleichzeitig wird sie streng auch auf den einzelnen Menschen hin ausgesagt. In dieser Hinsicht handelt Paulus in einzigartiger Weise von seinem apostolischen Dienst, in dessen Zentrum die Versöhnung steht. Darum kann Paulus auch viele Leiden annehmen und tragen (vgl. 2 Kor 6, 1–10). 

Wenn man den Text genauer ansieht, kann man drei Ebenen feststellen. Sie gehören zusammen, unterscheiden sich aber doch jeweils: 

Zuerst geht es in den Versen 19 und 21 um das Versöhnungshandeln Gottes. Gott hat selbst die Initiative ergriffen und von sich aus den Graben überwunden, der sich zwischen dem Menschen und ihm aufgetan hatte. Dadurch ist auch die ganze Sündenlast und Negativbilanz der Menschheit getilgt worden. 

Daß Versöhnung möglich ist, hat Paulus am eigenen Leib erfahren. Er hat sich ja der Botschaft Jesu Christi widersetzt und die Christen verfolgt. An ihm selbst hat Gott augenfällig demonstriert, was es bedeutet, eine unheilvolle Situation zum Besseren zu verändern und aus Feinden Freunde zu machen. Ja, Gott hat ihn künftig zu einem besonders fähigen und bevorzugten Botschafter bestimmt, der die Kunde von der Versöhnung in alle Welt hinaustragen soll. 

Das Versöhnungsgeschehen im Tod Jesu Christi am Kreuz ist ein einmaliges Ereignis in der gewesenen Geschichte. Wenn diese Botschaft die Menschen erreichen soll, an die sie gerichtet ist, bedarf es der ständigen Vergegenwärtigung. Dies geschieht für Paulus nicht nur, aber vorwiegend in der Verkündigung. Darum gehört die Predigt ganz tief in den Vollzug der Versöhnung hinein. In der Verkündigung des Paulus werden Gottes Wort und Christi Stimme laut (vgl. 5, 20). Dabei vertraut Paulus nicht primär dem starken Wort, wie es ein Befehl wäre, sondern eher einer schwächlich erscheinenden Gestalt des Wortes, die aber eine eigene »Macht« in sich trägt, nämlich der inständigen Bitte. Dahinter steht eine tiefe Theologie. Denn diese inständige Bitte spiegelt etwas von dem armen Jesus am Kreuz. Auch wurde Paulus wegen seines schwächlichen Erscheinungsbildes zeitweise von den Korinthern geradezu lächerlich gemacht. Aber eine solche inständige Bitte hat es in sich. Auch Jesus ist bei aller Verlassenheit von Gott und den Menschen nicht im Tod geblieben.

Jetzt gehen uns die ganze Wucht und die volle Tiefe unseres Leitwortes für die Katechese auf: Laßt euch mit Gott versöhnen! Dies ist gewiß ein Aufruf, der irgendwie an alle Hörer des Evangeliums Jesu Christi ergeht. So hat er gewiß auch eine missionarische Bedeutung. Aber konkret – und Versöhnung ist zunächst immer konkret – geht dieser Ruf an die Korinther. Paulus erinnert sie daran, daß sie endlich das nachvollziehen und gleichsam nachholen, was Gott in Jesus an Versöhnung für die Welt gestiftet hat. Paulus erinnert damit aber auch daran, daß die Gemeinde und er selbst sich versöhnen und damit den heftigen Konflikt besiegeln sollen. Sonst wäre ja irgendwie diese Botschaft der Versöhnung für die ganze Welt unglaubwürdig, wenn man im Inneren der Kirche heillos untereinander zerstritten ist. Wir kennen dies nicht nur von der Geschichte der Spaltungen in der Kirche durch die Jahrhunderte, sondern auch von den Streitigkeiten und Konflikten in unseren eigenen Gemeinden und Gemeinschaften. 

Damit können wir zur wichtigen zentralen Aussage von der Versöhnung zurückkehren. Versöhnung setzt eine Situation der Friedlosigkeit, ja manchmal auch der Unversöhnlichkeit voraus. Wir kennen dies alle. Wir drücken uns davor, Meinungsverschiedenheiten mit legitimen Mitteln auszutragen. Wir sind Meister im Verdrängen. Wir schieben eigene Schuld auf andere. Bei manchen Problemen drücken wir uns vor der Einsicht in eigene Mitschuld und wollen andere an den Pranger stellen. Dies gilt in den kleinen und großen Lebensbereichen. Es gibt eine Verweigerung der Einsicht, aus der ein Lernprozeß entstehen kann. Heute sind viele Beziehungen unter den Menschen zwischen Individuen, Stimmen, Rassen und Klassen von einer tiefen Unbußfertigkeit geprägt. Es gibt ein raffiniertes, manchmal unbewußtes Spiel von Ausreden und Ausweichmanövern. 

Es ist ja auch recht schwierig, Schuld in der richtigen Weise zu tragen. Man kann von Schuld erdrückt werden. Man möchte sie deswegen vielleicht abschütteln. Aber irgendwie holt sie uns ein. Wir müssen uns zuerst zur Annahme von Schuld bekennen. Dies ist nur möglich, wenn der Mensch sich zu seiner Würde bekennt, nämlich zu Freiheit, Verantwortung und zum Gewissen. Der Mensch unterscheidet sich hier ganz grundlegend vom Tier. Das Tier kann sich aufgrund seiner Instinktsicherheit kaum verfehlen. Wir sind so frei, daß wir uns auch selbst verfehlen und unsere Freiheit aufheben können. Die Verantwortung bindet uns jedoch an uns selbst, damit wir uns nicht dauernd in Ausreden und Alibis flüchten. Das Gewissen ist der Ort, wo wir aus der Scheinwelt ständiger Entschuldigungen herausgerissen werden, das eigene Versagen erkennen, vom Antlitz des Nächsten und seiner unerbittlichen Stimme angeklagt werden und unsere Schuld eingestehen. Ohne Abkehr vom eigenen Versagen gelingt keine Umkehr. Darum tut das Eingestehen von Versagen und Schuld immer auch weh. Aber dieser Schmerz ist nicht alles. Zu Schuld und Sünde gehört seit alters das entschiedene Bekenntnis (vgl . Ps 91, 1ff.; 51, 3ff.; 130). 

Es gibt das klare individuelle Versagen, vor allem gegenüber einem konkreten Menschen. Es gibt schließlich Konflikte in Gemeinschaften. Wir entdecken heute aber auch mit Recht unsere Verstrickung in einen weit über unsere Köpfe hinausreichenden Unheilszusammenhang. Wenn ich eine Banane zum Billigpreis esse, verhindere ich damit möglicherweise, daß lateinamerikanische Plantagenarbeiter gerecht entlohnt werden. Man entrinnt seiner weltweiten Verantwortung nicht leicht; Umweltschäden, Verzerrungen in der Weltwirtschaftsordnung zu Ungunsten der ärmsten Länder, Mißachtung der Menschenrechte und absurdes Wettrüsten sind weitere Beispiele dafür. Darum fühlen sich heute auch junge Menschen oft einer ausweg- und heillosen Ohnmacht ausgeliefert und in einer objektiven Schuldsituation mitgefangen, die sie leiden läßt. Schulderfahrung und auch Versöhnung haben für uns eine spürbare leibliche und soziale Dimension erhalten. 

Ich habe gerade als Seelsorger hier immer wieder eine gewisse Zwiespältigkeit, eine Ambivalenz erfahren. Nicht selten hat man überall schnell Versagen und Sünde gesehen. Aber gerade dadurch ist man auch soweit gekommen, daß man sie nirgendwo mehr wahrgenommen hat (vgl. dazu auch das Apostolische Schreiben von Papst Johannes Paul II. im Jahr 1984 Versöhnung und Buße, Nr. 18). Man kommt dann zu einer manchmal fast schicksalhaften Deutung dessen, was hinter »Schuld« steht: Es ist eben beim Weltjugendtag in Toronto am 26. Juli 2002 passiert. Es sind die Umstände, die dies verursacht haben. Es ist das Pech, das man gehabt hat. Es ist eben Schicksal. Und manches sieht so aus, als ob es wie ein Naturereignis wäre, wie ein Blitz aus heiterem Himmel oder ein Gewitter. Dies alles spielt gewiß eine zum Teil nicht unbeträchtliche Rolle. Man macht den Menschen jedoch neurotisch, wenn man überall nur sein persönliches Versagen feststellt und ihn dafür beinahe ausschließlich in Pflicht nimmt. Aber es gehört auch zur Würde des Menschen, daß man sich zu Versagen und zur Schuld bekennt. 

Dabei ist es wichtig, daß man nicht nur ein allgemeines Sündenbewußtsein kennt im Sinne von »Wir alle sind Sünder oder gar Sünderlein«. Vielmehr ist es eine ganz wichtige Sache, daß man das konkrete Versagen genau benennt, es ins Wort bringt, sich dann davon distanziert und so schließlich offen und aufrichtig zu einem Eingeständnis sowie zum Bekenntnis kommt. Anerkennung von Schuld und Versöhnung erfolgen nur durch das Springen und Aufdecken des in sich verschlossenen menschlichen Ichs. Der Mensch wird aus jener anonymen Masse herausgerufen, in der er sich verbirgt. Der Mensch, der durch die Neuentdeckung sozialer Verantwortung über sich hinauswächst, kann so aus seiner fatalen Ichbezogenheit herausfinden und sich wieder ganz bewußt der menschlichen Gemeinschaft zur Verfügung stellen. 

Wir haben schon gesagt, es sei nicht leicht, sich dem Eingeständnis von Schuld zu stellen. Aber von Versöhnung darf man gar nicht reden, wenn man nicht um die Bewältigung der Schuld ringt. Man kann nicht nur erfahren, daß Menschen alle Schuld abschütteln, ja absolut ignorieren, sondern auch daß sie sich so sehr, ganz und gar mit ihrer Schuld identifizieren, daß sie keinen Ausweg mehr aus ihr finden. Ich habe einmal einen Mann begleitet, der mutwillig in eine andere Ehe eingedrungen ist und sie endgültig zerstört hat, nicht zuletzt durch das viele Geld, das er anbieten konnte. Als er sah, was er angerichtet hatte, konnte er sich überhaupt nicht mehr vorstellen, daß er irgendwie Verzeihung erlangen könnte. 

Er fand, daß seine Schuld so schwer ist, daß ihm überhaupt nicht vergeben werden kann. Ich hatte viele Monate Mühe, ihm einsichtig zu machen, daß es auch für ihn Vergebung geben könnte. Ich bin bis heute beeindruckt, wie dieser Mann sich verantwortungsvoll mit seiner Schuld identifizierte. Aber ich hatte oft auch Angst, er könnte sich deshalb etwas antun. 

In diesen Situationen ist mir aufgegangen, daß wir viel mehr ernst machen müssen mit der Erkenntnis, daß eigentlich nur Gott wirklich vergeben und versöhnen kann. Wir können es mit seiner Kraft und in seinem Geist. Aber wir können es nicht allein aus uns. Wir Menschen sind – wie unsere Sprache weise sagt – nachtragend. Wir sagen zwar, wir könnten vergessen, aber insgeheim wollen wir doch nicht von der Erinnerung an schlechte Erfahrungen ablassen. Wir bleiben mißtrauisch und rechnen mit neuen Fallen. Wir tragen nach. 

Es gehört wohl eben zum Menschen, daß wir allein nicht unsere Vergangenheit restlos in den Griff bekommen können. Gott trägt nicht nach. Er kann restlos Vergebung schenken. Er macht uns weißer als Schnee. Er kann wirklich Schuld auslöschen und sie zum absoluten Vergessen bringen. Dies kann nur Gott, wie nur er die Schöpfung vom Nichts ins Dasein ruft. Darum kommt jede echte Vergebung und Versöhnung zuerst und zuletzt ganz von ihm selbst. Paulus sagt uns dies mit wunderbarer Klarheit: »Aber das alles kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat. Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat« (2 Kor 5, 18f.). 

Unser Text aus dem zweiten Korintherbrief hat dies in theologisch einmaliger Weise erkannt und zur Sprache gebracht. Wir können und dürfen in der Versöhnung durch Gott neu anfangen, was wir sonst nicht zustande bringen. Wenn wir Menschen uns allein mit der Schuld befassen und sie nicht einfach leugnen, dann bleiben wir im Gefängnis der Vergangenheit, die oft eine Anhäufung von Schuldenlasten bedeutet. Es gibt keinen Ausweg und keinen Ausblick nach vorne. Wenn Gott mit uns neu anfängt, dann gibt es durch die Vergebung wieder eine Zukunft. Es gibt dann auch eine neue Freiheit, aus der heraus wir verantwortungsvoll leben können. Darum ist es so wichtig, daß Gott uns durch die Versöhnung und die Vergebung wirklich neue Hoffnung, neue Freiheit und eine neue Zukunft schenkt. Darum ist es auch ganz falsch, wenn man die Notwendigkeit der Einsicht und der Umkehr – wir haben früher gesagt, daß dies auch schmerzt – mit der Angst verbindet und deswegen vor der Versöhnung flüchtet. 

Deshalb ist schon die Umkehrbereitschaft so wichtig. Nur so gelangt der Mensch wieder von der Knechtschaft in die Freiheit, von der Enge in die Weite und in das Freie. Mit wunderbarer Genauigkeit sagt Paulus dies auf seine Weise: »Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden« (2 Kor 5, 17). Dies ist die wirkliche Neuheit des Christentums, die allen Moden immer wieder voraus ist und nie überholt werden kann, weil sie in der unendlichen Macht der Liebe Gottes zum Menschen besteht. 

In dieser Kraft und in diesem Geist tritt Paulus auf uns zu und ruft uns zu: »Laßt euch mit Gott versöhnen!« Dabei ist es ganz wichtig – jetzt sehen wir dies ein –, daß Paulus dies wirkmächtig, also mit Erfolg, uns dies nur sagen kann, weil er unmittelbar »Gesandter an Christi Statt« ist und »Gott es ist, der durch uns mahnt« (2 Kor 5, 20). Sonst wäre es nur irgendein Menschenwort, das aber vielleicht so verlogen und trügerisch wäre wie viele Worte, die wir Menschen einander versprechen und oft nicht halten. Darum entwirft Paulus in diesem fünften Kapitel des zweiten Korintherbriefes eine tiefe Theologie des Aposteldienstes und im Kern jedes geistlichen Dienstes. Gott hat uns das Wort von der Versöhnung anvertraut. 

Nun müßte noch viel die Rede sein von den vielen Formen der Versöhnung. Unter Formen verstehen wir einzelne Gestalten und Vollzugsweisen, die sich von anderen Typen der Umkehr unterscheiden. Diese Formen beginnen bei der Geste eines versöhnlichen Händedrucks nach einem Streit als Zeichen der Versöhnung, reichen über das betroffene Klopfen an die Brust oder gar das Zerreißen der Kleider zum Zeichen der Trauer über die eigene Schuld und ereichen einen gewissen Höhepunkt in der Beichte, die selbst wiederum ein Geflecht aus einzelnen Symbolen darstellt: Sündenbekenntnis, Lossprechung. Es gibt für die Bitte um Versöhnung und Befreiung viele eigene Textformen und Rituale, wie die Litaneien und die Klage- und Bußpsalmen. Hinzu kommen symbolhafte Zeichen: Waschung und Reinigung (»Wasche mich, daß ich weißer werde als Schnee«: Ps 51, 9b). 

Man braucht ein lauteres Herz und reine Hände, wenn man sich Gott nähern möchte. Es gibt gerade auch im Alten Bund viele kollektive Formen der Buße: Sich blutig ritzen (vgl. Hos 7, 14), Ausgießen von Wasser (1 Sam 7, 6), Sitzen in Asche, Fasten mit dem Vieh, Sich zu Boden Werfen, Sich im Staub Wälzen, Jammern, Schreien und Heulen. 

Solche Formen sind uns fremder geworden. Wir haben vieles intellektualisiert und menschlichen Grunderfahrungen ihre volle Wucht genommen. Es bleiben nur noch rudimentäre Zeichen übrig, die wir relativ gedankenlos mitvollziehen. Was bedeutet z.B. das Schlagen an die Brust? Das leibhafte Symbol gibt dem Bekenntnis Nachdruck und konkrete Anschaulichkeit. Es zeigt die Erschütterung des ganzen Menschen. Aber jeder weiß auch, daß diese Formen verkrusten können. Die Propheten sind voll von solchen Warnungen (vgl. Am 4 und 5, 21–24). Alle Bekenntnisse enthalten immer die Gefahr der Automatisierung. Ein formelhaftes Bekenntnis geschieht im Grunde ohne Reue und zieht nicht selten die Wiederholung der Tat nach sich. Nun wäre es notwendig, die einzelnen Formen der Versöhnung zu entfalten. Dies ist hier nicht möglich. Die Tradition der Kirche ist viel reicher als das, was wir heute behalten haben. Es gibt eine reiche Geschichte der Buße und der Beichte: Gewissenserforschung, Aussprache über Schuld und Sünde in der Gemeinschaft, Gesten der Umkehr und der Versöhnung, brüderliche Zurechtweisung, Schuldkapitel in den Orden, Wüstentage und Exerzitien, kirchliche Bußzeiten, Quatembertage, aber auch Vergebung der Sünden in vielen Formen des Betens und der Schriftlegung: bei Gebet und Fürbitte, beim Lesen der Hl. Schrift, beim Gesang der Psalmen, beim Stundengebet und ganz besonders beim Beten des Vaterunsers. Die Schrift und die Väter sehen die Vergebung der Sünden immer wieder in drei großen Quellen: Almosen als Zeichen der Nächstenliebe, Fasten als Leerwerden von den Götzen und Gebet als Hinwendung zu Gott. Ich nenne nur noch die gottesdienstlichen Formen, wie z.B. die Bußgottesdienste im Sinne von Gemeinschaftsfeiern. 

Schließlich dürfen wir nicht vergessen, daß die Eucharistiefeier vom Eingangs-Bußakt bis zur Kommunion Vergebung der wenigstens alltäglichen Sünden zur Folge haben kann. Vor diesem Hintergrund muß man nun die spezifisch sakramentalen Formen der Sündenvergebung nennen: die Feier der Versöhnung für einzelne und schließlich die gemeinschaftliche Feier mit allgemeinem Bekenntnis und Generalabsolution. (Zur Diskussion und Erneuerung vgl. besonders das Apostolische Schreiben von Papst Johannes Paul II. Misericordia Dei vom 7. April 2002. ) Im Grunde dienen auch die sogenannten Kirchenstrafen und ihre Lossprechung der Wiederversöhnung mit der Kirche. 

Zwischen diesen einzelnen Formen herrscht auch eine eigene Dynamik: Sie rufen und fordern einander und führen letztlich auf das Bußsakrament. In der sakramentalen Einzelbeichte verdichten sich alle anderen Formen, wenngleich diese durch die Beichte nicht schlechthin ersetzt werden. Je klarer alle Dimensionen der Umkehr geweckt werden, vom Vaterunser bis zum Fastenopfer, um so deutlicher und überzeugender wird das Bußsakrament geschätzt werden. Dies alles ist freilich so gut wie von Grund auf wieder neu zu entdecken. 

Auch unsere Zeit hat gewisse Formen der Versöhnung wiederentdeckt oder auch neu geschaffen. Sie stellen vor allem die kollektive Verstrickung des Menschen in Schuld heraus. Manchmal sind sie in Gefahr, daß sie die Verantwortung des einzelnen zu sehr übergehen. Ich nenne hier nur die Versöhnung zwischen Deutschen und Franzosen, vor allem durch die Gründung von »Pax Christi« noch in den letzten Kriegsmonaten 1945, zwischen Polen und Deutschen mit dem berühmten Versöhnungsbrief von 1965, zwischen Tschechen und Deutschen im Jahr 1990/91. Nicht unerwähnt lassen darf man neben vielen einzelnen Zeugnissen das Schuldbekenntnis von Papst Hadrian VI. (1522 –1523) und ganz besonders von Papst Johannes Paul II. am 12. März 2000.

Mit gutem Grund ist das zentrale Wort der paulinischen Versöhnungsbotschaft »Laßt euch mit Gott versöhnen!« zum Thema der Katechesen dieses Weltjugendtreffens geworden. Wenn wir die Versöhnung nicht wieder entdecken, hat das Christentum seine tiefste Kraft und sein höchstes Geschenk für die Menschen verloren. Es wird Zeit, höchste Zeit, wieder von der Versöhnung in Gott und darum auch mit den Menschen zu reden.

 

Kardinal Lehmann
Bischof von Mainz

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