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Päpstlicher Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen Unterwegs 1.Internationales Treffen der Pastoral der Straßenkinder Rom, 25. – 26. Oktober 2004 Schlussdokument Das geschehen Das Treffen fand im Sitz des Päpstlichen Rates für die Pastoral der Migranten und der Menschen unterwegs im Vatikan statt. Teilgenommen haben außer den Ratsvorsitzenden und zwei leitenden Angehörigen des Rates zwei Bischöfe und mehrere Geistliche sowie Ordensleute und Laien als Vertreter der Bischofskonferenzen von elf europäischen Nationen, das heißt Österreich, Tschechien, Estland, der Russische Bund, Deutschland, Irland, Italien, Polen, Portugal, Spanien und Ungarn; außerdem sieben weitere Länder anderer Kontinente einschließlich ihrer Experten, nämlich Bolivien, Brasilien, Kongo, Philippinen, Indien, Mexiko und Peru. Es waren neben dem Generalsekretär der Internationalen Caritas auch Delegierte des „Kindermissionswerks“ (Deutschland) und Vertreter der Kongregation der Salesianer, der Schwestern des Guten Hirten und der Brüder der Christlichen Schulen anwesend. Eine aufmunternde Botschaft erreichte die Teilnehmer der Versammlung vonseiten des Heiligen Vaters, der mit einem Telegramm, das die Unterschrift von Staatssekretär Kardinal Angelo Sodano trug, herzlichen Grüße übermittelte und seine wärmsten Glückwünsche für ein gutes Gelingen des Kongresses aussprach. Der Text erinnert an die besondere Vorliebe unseres Göttlichen Meisters für die Kinder, weshalb der „Heilige Vater die Hoffnung ausspricht, dass dieses gewiss nützliche Treffen dazu beitrage, konkrete Vorschläge und wirksame Mittel für die Aufnahme und den Beistand für diese Jugendlichen zu formulieren, die in Gefahr sind, weil sie kein Zuhause und keine Familie haben, und für die Verteidigung der Rechte und der Würde jedes einzelnen Jungen und jedes einzelnen Mädchens, dass sich in Schwierigkeiten befindet.“ Zur „Besiegelung“ dieser „unbedingt erforderlichen sozialen und religiösen Aktion“, hat Seine Heiligkeit allen Teilnehmern, die sich der Welt der Jugendlichen und ihrer Evangelisierung widmen, sowie all jenen, die ihrer Sorge anvertraut sind, ein wohlmeinendes Gebet zugesichert Der Präsident des Päpstlichen Rates, S.E. Kardinal Stephen Fumio Hamao hat die Arbeiten mit einem sehr herzlichen Gruß und mit einem Beitrag zum Thema „Die Kinder, darunter auch die Kinder der Straße, im Lichte der jüngsten Lehren von Johannes Paul II.“ Er hat besonders die Bedeutung dieses Phänomens unterstrichen, dass die Aufmerksamkeit und die seelsorgerische Fürsorge der Universellen Kirche und der Ortskirchen erfordert. Im Besonderen – so bekräftigte der Kardinal – „wird die Straße Ort der Planung für eine besondere Pastoral für die Kinder sein, die auf ihr leben.“ Erzbischof Agostino Marchetto, Sekretär des Dikasteriums, hat dagegen in einem Beitrag unter dem Titel: ‚Die Pastoral der Aufnahmebereitschaft zugunsten der Straßenkinder’ einige Kriterien zur Beurteilung dieses Phänomens dargelegt. In ihr hat er ein großes und wichtiges Gebiet des Apostolats besonders hervorgehoben, das auch eine neue Art von Objekten-Subjekten der Pastoral voraussetzt. Er bezog sich dabei vor allem auf die Jungen und Mädchen, von denen viele innerhalb unserer großen und kalten Städte leben. Die sich anschließenden Beiträge der Teilnehmer an diesem Treffen haben jeweils verschiedene Aspekte der heutigen „Realität“ auf der Straße besonders hervorgehoben. Die Kirche beobachtet diese Welt voller Sympathie und fordert dazu auf, die spirituellen und theologischen Werte aufzugreifen, die einem seelsorgerischen Einsatz zugrunde liegen, der auch den Straßenkindern das Wohlwollen Gottes enthüllt, wobei sich alle der Tatsache bewusst sind, von welchen Tragödien diese Erfahrung durchdrungen ist. Dies ist der Grund für die besondere Sorge um das dramatische Anwachsen der Zahl der Straßenkinder und der Kinder auf der Straße, eine Sorge, aus der sich die dringende Notwendigkeit einer seelsorgerischen Tätigkeit neben den bereits bestehenden lobenswerten Hilfsinitiativen ergibt, aber auch die Schwierigkeit, eine solche Tätigkeit in die bestehenden kirchlichen Strukturen einzuschließen. Der Beitrag von Prof. Mario Pollo mit dem Titel: „Die Pastoral der Straßenkinder“ (Überblick), lieferte ein allgemeines Bild der Situation, wie es sich aus der Beantwortung der Fragebögen ergibt, die zuvor an alle Teilnehmer versandt worden sind. Aus diesem Bild resultiert ein Mangel gerade im Hinblick auf den im eigentlichen Sinne seelsorgerischen Aspekt der bisherigen Unternehmungen. Während des Gesprächs am Runden Tisch, an dem sich sechs Fachleute beteiligten, wurde versucht, „in großen Linien eine spezifische Pastoral zu entwickeln“. Am Ende dieses internationalen Treffens, bei dem Informationen, Meinungen und gründliche Untersuchungen zum Thema ausgetauscht wurden, hat man mit Dankbarkeit zur Kenntnis genommen, wie viele Initiativen es bereits gibt, aber auch wie unterschiedlich die Situation in den verschiedenen Ländern ist. Es wurde der Entschluss bekräftigt, die in diesen beiden Tagen begonnene Arbeit fortzusetzen und die Teilnehmer haben „Taktiken“ und „Strategien“, Methoden und Zielvorstellungen für die Zukunft geprüft und erwägt, die in diesem Schlussdokument zusammengefasst sind. Schlussfolgerungen 1. Gerade wie für die allgemeine und politische Gesellschaft stellen die Straßenkinder zweifellos auch für die Kirche eine der anspruchvollsten und beunruhigendsten Herausforderungen unseres Jahrhunderts dar. Wir stehen einem Phänomen von ungeahnten Ausmaßen gegenüber, die auch die öffentlichen Einrichtungen überraschen: eine Bevölkerung von etwa einer Million Kinder nach den Schätzungen von „Amnesty International“ (150 Millionen nach Angaben der Internationalen Organisation der Arbeit); ein Phänomen, das zudem fast überall im Ansteigen begriffen ist: in jeder Hinsicht ein pastoraler, aber auch ein sozialer Notfall. 2. Man hat festgestellt, dass die öffentlichen Einrichtungen, auch wenn sie deutlich machen, dass sie sich der Bedeutung des Phänomens voll bewusst sind, nicht in einer Weise aktiv werden, die ausreicht, um dieses Bewusstsein in ein wirksames Eingreifen zugunsten der Vorsorge und der Wiedereingliederung zu verwandeln. Und in der Gesellschaft allgemein finden wir vorwiegend eine Einstellung sozialen Alarms, denn man sieht sich einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung gegenüber. Man hat sich daher eher um den persönlichen Schutz vor dieser Gefahr, die die Straßenkinder darstellen, gesorgt, als um Maßnahmen, ihnen zu helfen. Nur zögernd entwickelt sich ein humanitäreres Interesse und Solidarität angesichts dieses Problems, und darüber hinaus eine christliche Einstellung ihm gegenüber. 3. Es hat sich während des Treffens deutlich gezeigt, dass die Straßenkinder im engeren Sinn keinerlei Beziehung zu der Familie haben, aus der sie stammen. Wir sprechen von den Jugendlichen, die aus der Straße ihren Wohnsitz gemacht haben und oft gezwungen sind, dort auch zu schlafen. In ihrem Kreise trifft man auf die unterschiedlichsten Situationen. Um nur die wichtigsten zu erwähnen: da sind die, die eine traumatische Erfahrung gemacht haben, als ihre Familie auseinandergebrochen und sie alleine geblieben sind, oder die, die von zu Hause fortgejagt worden oder weggelaufen sind, weil sich niemand um sie gekümmert hat oder weil sie misshandelt wurden. Da sind die, die ihr Zuhause ablehnen oder von ihm abgelehnt werden, weil sie mit Formen der Abweichung zu tun hatten (Drogen, Alkohol, Diebstahl und verschiedene andere Methoden, um sich durchzuschlagen); da sind jene, die durch die Versprechungen, Verführung oder auch durch Gewalt vonseiten der Erwachsenen oder durch kriminelle Banden dazu gebracht worden sind, auf der Straße zu leben. Dies passiert besonders jungen Ausländern, die gezwungen werden, sich zu prostituieren oder für minderjährige Ausländer ohne Begleitung, die zum Betteln gezwungen werden. Diese machen die Erfahrung, dass die Ordnungskräfte oder auch das Gefängnis bald in ihrem Leben eine Rolle spielen. In den Entwicklungsländern ist die Zahl der Kinder, die in diese Kategorie fallen, erschreckend hoch. 4. Ganz anders als die Kategorie, von der wir bisher sprachen, stellt sich die der „Kinder auf der Straßen“ dar, das heißt jener Jugendlichen, die einen großen Teil ihrer Zeit auf der Straße verbringen, auch wenn sie nicht ohne ein „Zuhause“ sind und sehr wohl Beziehungen zu ihrer Herkunftsfamilie haben. Sie ziehen es vor, in wenig empfehlenswerter Gesellschaft in den Tag hineinzuleben ohne sich für ihre Ausbildung oder ihre Zukunft verantwortlich zu fühlen. Normalerweise leben sie außerhalb der Familie, auch wenn sie dorthin zurückkehren und einen Unterschlupf zum Schlafen finden können. Ihre Zahl ist auch in den entwickelten Ländern besorgniserregend. 5. Zahlreiche verschiedene Gründe führen zu diesem sozialen Phänomen von immer alarmierenderen Ausmaßen. Unter den wichtigsten wurden die folgenden genannt: - Der zunehmende Zerfall der Familien, Situationen der Spannung zwischen den Eltern, aggressive, gewalttätige und manchmal perverse Verhaltensweisen den Kindern gegenüber; - Emigration mit der sich daraus ergebenden Entwurzelung aus der gewohnten Lebensumgebung mit der Folge von Orientierungslosigkeit; - Bedingungen der Armut und des Elends, die dem Betroffenen die Würde und auch das zum Leben Unentbehrliche nehmen; - Die zunehmende Verbreitung von Drogenabhängigkeit und Alkoholismus; - Die Prostitution und die Sexindustrie, die auch weiterhin eine erschreckende Zahl an Opfern fordert, die oft mit unvorstellbarer Gewalt in fürchterlichste Sklaverei gebracht werden; - Die Kriege und die sozialen Unruhen, die auch für die Minderjährigen die Normalität des Lebens zerstören; - Die Tatsache, dass sich vor allem in Europa eine „Kultur der Exzesse und der Transgression“ verbreitet; - Das Fehlen von Werten zur Orientierung, die Einsamkeit und das immer stärker werdende Gefühl einer existentiellen Leere, die die Welt der Jugendlichen im Allgemeinen kennzeichnet. 6. Je alarmierender das Ausmaß dieses Problems und je größer der Mangel an wirksamer Präsenz der öffentlichen Gewalt ist, desto mehr und als um so wertvoller wird in diesem Bereich der Einsatz der privaten Sozialarbeit und des Volontariats anerkannt. Die Vereinigungen im kirchlichen Bereich oder auch christlicher Prägung sind sehr aktiv und wirksam, aber sie sind nicht ausreichend angesichts eines ungeheuren Bedarfs. In der Mehrzahl der Fälle arbeiten sie zudem ohne einen Anschluss an eine spezifische organische Seelsorge. So wurde festgestellt, dass die Diözesen und die nationalen Bischofskonferenzen sich dieses Problems noch nicht ausreichend angenommen haben, weder im Hinblick auf die Vorsorge, noch hinsichtlich der Wiedereingliederung der Kinder. Es gibt jedoch bereits positive Initiativen, die eine Ermutigung und ein Anreiz für diejenigen bedeuten können, die dieses Gebiet für zu undankbar halten, um hier größere Energien einzusetzen. 7. Im Laufe des Treffens wurde festgestellt, dass die Aktivitäten in der Mehrzahl der Fälle von außerordentlich motiviertem und beruflich sehr qualifizierten Personen durchgesetzt und vorangebracht werden, voller Respekt sowohl vor den Verantwortlichen dieser Initiativen wie auch vor der Gruppe der freiwilligen Helfer. 8. Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze, scheint es doch eine Übereinstimmung zu geben, was das Wesentliche der Ziele betrifft, das heißt: - Die Straßenkinder wieder in ein normales Leben eingliedern, das heißt, die Wiedereingliederung in die Gesellschaft, aber vor allem in eine familiäre Umwelt, möglichst in ihre Herkunftsfamilie oder auch in eine andere Familie, ansonsten in Heime, immer jedoch sehr familiärer Art; - Dem Kind das Vertrauen in sich selbst zurückgeben, ihm wieder Achtung vor sich selbst geben, den Sinn für die eigene Würde und damit die Verantwortung für sich selbst; - In ihm den echten Wunsch wach werden lassen, die Schule zu absolvieren und sich beruflich auf eine Eingliederung in die Gesellschaft auch in beruflicher Hinsicht vorzubereiten, um so aus eigener Kraft und unabhängig von anderen anständige und befriedigende Pläne für das eigene Leben zu entwickeln. 9. Sehr unterschiedlich und verschiedener Art waren dagegen die Arten der Aktivitäten zugunsten der Straßenkinder: - Der sogenannte Straßeneinsatz, der den Kontakt mit den Jugendlichen an den Orten vorsieht, wo sie zusammenkommen, um so mit Einfühlungsvermögen eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, die es den Jugendlichen ermöglicht, sich mit all ihrem Unbehagen und ihrer Abweichung dem Erzieher gegenüber zu öffnen; - Die Tageszentren, die sich um die Förderung der wesentlichen Lebensbedingungen der Jugendlichen kümmern, damit sie anständig leben können; - Die Hilfsinitiativen, die die primären Bedürfnisse befriedigen sollen: Essen, Kleidung sowie soziale und sanitäre Hilfe; - Strukturen zur Erziehung und Ausbildung: Heime, Schulen und Kurse für die Berufsausbildung ; - Auffangstellen mit Unterbringung, wo auch eine schulische oder berufliche Ausbildung angeboten wird, wo aber vor allem Wert auf die menschliche Nähe gelegt wird und wo die Unterstützung auch im sozialpädagogischen Bereich gegeben ist; in einigen Fällen wird auch für eine geistliche Begleitung auf dem mühevollen Weg zu einer inneren Genesung und zur Heilung des Herzens gesorgt, die auf dem Evangelium basiert; - Aktivitäten, die auf die Wiedereingliederung des Jugendlichen in seine eigentliche Herkunftsfamilie abzielen oder auf seine Adoption durch andere Gemeinschaften; - Die Aktivität mit dem am weitesten gestreuten Tätigkeitsgebiet, die das Ziel hat, die allgemeine und die kirchliche Gemeinschaft anzusprechen, und zwar nicht nur, um sie zu informieren, sondern um sie für diese Probleme empfänglicher zu machen und sie teilhaben zu lassen an den Bemühungen, diesem Phänomen vorzubeugen, und dabei zu helfen, diese Jugendlichen wieder in ihre natürliche Umgebung einzugliedern; - Schulungen und Kurse zur Ausbildung für die in diesem Bereich Beschäftigten und die freiwilligen Helfer, damit alle über solide berufliche Kenntnisse verfügen. 10. Was die Methode betrifft, so wurden auf dem Treffen die folgenden Dinge als grundlegend betrachtet: - Arbeit in der Gruppe für alle Helfer; - Paralleler Einsatz auch zur Unterstützung der Eltern, wenn sie auffindbar und für eine Mitarbeit zu gewinnen sind; - Wiedereingliederung in die Schule und in die Berufsausbildung; - Aufbau und Erweiterung von Gruppen, die freundschaftlich miteinander verbunden sind, auch außerhalb der Aufnahmestrukturen; - Große Bedeutung kommt dem spielerischen und sportlichen Aspekt zu, der den Jugendlichen dazu anregt, aktiv eine verantwortliche und kreative Rolle zu übernehmen. 11. Der Einsatz bei den Straßenkindern ist sicher nicht einfach, im Gegenteil, oft scheint er vergeblich und frustrierend und in einem solchen Fall kann die Versuchung mächtig werden, die Waffen zu strecken und sich zurückzuziehen. Das ist der Augenblick, um auf die tieferen Gründe zurückzugreifen, die den Betroffenen einmal dazu veranlasst haben, sich diesem verdienstvollen Werk zu widmen. Für den Gläubigen handelt es sich in erster Linie um Motivationen durch den Glauben. Es ist in jedem Falle nützlich, die Aufmerksam auf jene zu richten, die eindeutig positive Erfahrungen machen, sowie - das ist während des Treffens deutlich geworden - auf jene, die richtigerweise behaupten, dass die Arbeit in vielen, ja manchmal sogar in der Mehrheit der Fälle, zufriedenstellende Ergebnisse bringt. Die Klugheit gebietet jedoch, die Bestätigung hierfür der Zeit zu überlassen, um zum Beispiel nach fünf Jahren zu prüfen, ob die Wiedereingliederung und die Normalisierung der betroffenen Person „gehalten“ hat. Es könnte nämlich zu einem Rückfall kommen, zu einer Rückkehr auf die Straße; auch das Gegenteil sollte jedoch überprüft werden bei Personen, die sich in einem ersten Moment unempfänglich den Bemühungen eines Erziehers gegenüber gezeigt haben, und die sich vielleicht später auf den Weg zur Wiedereingliederung machen und sich den Werten öffnen, die ihnen vorgeschlagen worden waren. 12. Ganz allgemein wurde jedoch festgestellt, dass ein Eingreifen dringend ist: der Name der Kindheit ist „heute“, morgen ist schon zu spät. Außerdem ist eine Wiedereingliederung im Kindesalter relativ einfach, sicher ist nicht mehr so einfach, wenn einmal die Adoleszenz begonnen hat. 13. Leider ist das Abkommen der UNO über die Rechte der Kinder aus dem Jahr 1989 in vielen Ländern zwar formal anerkannt, aber in der Durchsetzung wird es noch immer weitgehend missachtet. Empfehlungen (Vorschläge) 1. Es ist offensichtlich geworden, dass man sich der Ernsthaftigkeit des Phänomens stärker bewusst werden muss und dass wir einen intensiveren und systematischeren Einsatz brauchen, um uns mit ihm zu befassen. Das gilt auch für den kirchlichen Bereich, wo die Initiativen humanitärer Art zugunsten der Straßenkinder von dem vorrangigen Ziel der Evangelisierung begleitet werden müssten. Von allen wurde der Wunsch einer spezifischen Seelsorge für diese Jugendlichen ausgesprochen, die neue Strategien und Modalitäten formuliert, um sie in Kontakt zu setzen mit der befreienden und heilenden Kraft des Evangeliums. 2. Wie jedoch auch aus der Umfrage hervorging, die vor diesem Kongress gemacht wurde, geht auch im kirchlichen Bereich nur eine Minderheit von Initiativen über rein sozialhelferische und sozialpädagogische Eingriffe hinaus, und zumindest in einem ersten Moment gibt es bei dem Versuch die religiöse Seite des Jugendlichen wieder zu gewinnen und ihr einen neuen Wert beizumessen, keine klaren seelsorgerischen Eigenschaften einer ersten oder auch einer neuen Evangelisierung. 3. Es wird also festgestellt, dass es einen zweifachen Weg und eine zweifache Art und Weise einzugreifen gibt. Der eine zielt unmittelbar auf den religiösen Vorschlag und ganz besonders auf die Evangelisierung ab, um den Jugendlichen, wenn er einmal das Gebiet des Glaubens betreten hat, auch für die humanen Werte zu gewinnen und für die Befreiung von den Konditionierungen und den Zerrüttungen, die ihn auf die Straße gebracht haben. Oder man zielt darauf ab, den Jugendlichen vom humanen Gesichtspunkt aus wieder zurückzuholen, um ihm sein Gleichgewicht und seine Normalität, erfüllt von menschlicher Identität, wiederzugeben. Diese geduldige Arbeit wird dann von religiösen Vorschlägen und Hinweisen begleitet, in dem Maße, in dem dies mit der Situation des Jugendlichen und dem Land, in dem er sich befindet, vereinbar ist. Diese Vorschläge – so wird vermutet – stehen durchaus nicht im Gegensatz zueinander. Der eine wie der andere mögen gangbare Wege sein; die Entscheidung hängt von der persönlichen Situation des Jugendlichen und von der Umgebung ab, in der er sich befindet, vor allem aber auch von der Persönlichkeit der Erzieher. 4. Dies stellt in jedem Fall den Bezugsrahmen dar für denjenigen, der unmittelbar bei dem religiösen Vorschlag ansetzt, dem grundlegende Bedeutung zukommt, denn das Problem, das die Menschen auf der Straße miteinander teilen, ist nicht so sehr das Elend, die Drogenabhängigkeit, der Alkoholismus, das abweichende Verhalten, die Gewalt, die Kriminalität, AIDS oder die Prostitution, sondern vielmehr das fürchterliche Übel, der Tod der Seele’ („denn der Lohn der Sünde ist der Tod“ : Röm 6, 23). Es handelt sich hier viel zu oft um Geschöpfe, die zwar in der Blüte der Jugend stehen, aber „innerlich tot“ sind. a) Daher ist es erforderlich, der dringenden Aufforderung zu einer neuen Evangelisierung nachzukommen, die der Heilige Vater seit Jahren wiederholt. Nur die Begegnung mit dem Auferstandenen Christus kann demjenigen, der im Tode ist, die Freude der Wiederauferstehung zuteil werden lassen. Nur die Begegnung mit IHM, der gekommen ist, die Wunden der zerbrochenen Herzen zu verbinden, kann eine grundlegende Heilung der verheerenden Wunden eines Herzens bewirken, das schockiert und versteinert ist durch zu viele Frustrationen und die Gewalt, die ihm zugefügt wurde. b) Es ist deswegen von grundlegender Bedeutung, mit viel Fantasie, Kreativität und Mut von der Pastoral der Erwartung zur Pastoral der Begegnung überzugehen, um die Jugendlichen an ihrem neuen Ort der Begegnung zu treffen, auf der Straße, auf den Plätzen oder auch in den Diskotheken und den „heißen“ Gegenden unserer Großstädte, um diejenigen zutreffen, die diese Orte besuchen. Wir müssen ihnen voller Liebe entgegengehen, um ihnen die frohe Botschaft zu bringen und unsere eigene Lebenserfahrung zu bezeugen, dass Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben ist. c) Es ist unerlässlich, Zeugnis abzulegen von dem Licht Jesu, der denen, die von der Finsternis geplagt werden, leuchtet und neue Wege öffnet. Es ist daher dringend, in der christlichen Gemeinschaft die Berufung zum Dienst und zur Mission im Rahmen eines wachsenden und empfundenen Bewusstseins der erlösenden Macht des Glaubens und der Sakramente zu wecken. Zu viele Jugendliche sterben auf der Straße umgeben von der Gleichgültigkeit der meisten: dem betrübten Aufruf des Heiligen Vaters zur neuen Evangelisierung nicht nachzukommen, ist eine wirkliche Unterlassungssünde, weil unseren „sterbenden“ Brüdern nicht geholfen wird. Es ist darum wichtig, innerhalb der Projekte der Seelsorge über die verschiedensten Eingriffsmöglichkeiten nachzudenken, die auch dem, der „fern steht“ die erste Verkündigung bringen, die auch den Straßenkindern die Möglichkeit geben, begleitet zu werden, um mit der Gemeinschaft, der sie angehören oder die sie adoptiert hat, eine neue Beziehung zu sich selbst, zu den anderen und zu Gott aufzubauen und festzustellen, dass es jemanden gibt, der sie liebt. d) Gewünscht wird darum: - Die Schaffung von Gemeinschaften und Gruppen (Pfarrgruppen und andere), wo die Jugendlichen die Möglichkeit haben, das Evangelium in seiner Radikalität zu leben, um höchstpersönlich die heilende Kraft zu erfahren; - Die Einrichtung von Gebetsschulen in den Pfarrgemeinden und den verschiedenen anderen kirchlichen Einrichtungen, damit sie der Kontemplation und der missionarischen Nachfolge in den unterschiedlichen Gruppen neue Impulse geben. - Der Aufbau von Arbeitsgruppen zur Evangelisierung, die in der Lage sind mit Begeisterung für die wunderbare Nachricht Zeugnis abzulegen, die Christus uns gebracht hat, sowie jugendliche ‚Missionare“, die den anderen Jugendlichen und den ‚neuen Armen’ unseres Jahrhunderts die Umarmung des Wiederauferstandenen Christus bringen; - Darüber hinaus die Ausbildung von immer mehr und beruflich immer besser ausgebildeten jungen Menschen in den verschiedenen Diözesen, denen es gelingt, ihre musikalischen und künstlerischen Talente zur Schaffung neuer Darbietungen zusammenfließen zu lassen, die in der Lage sind, entscheidend zur Vorbeugung beizutragen und mit ihrer Botschaft Tausende von Jugendlichen zu erreichen. - Die Schaffung von Ausbildungszentren zur Evangelisierung auf der Straße; die Einrichtung von alternativen Treffpunkten für die Jugendlichen, von Treffpunkten, die Angebote machen, die erfüllt sind von Werten und Bedeutung, Zentren, in denen den Jugendlichen zugehört wird, und Initiativen zur Vorbeugung und zur Evangelisierung in den Schulen. - Das Bemühen, die Massenmedien als wertvolles Instrument zu benutzen, um das Evangelium „Von allen Dächern“ zu verkünden. - Die Einrichtung neuer Gemeinschaften und Auffanggruppen, die die Jugendlichen auf einem langen und mühevollen Weg der inneren Heilung begleiten, der auf dem Evangelium gründet, mit all der Liebe, die Christus uns gelehrt hat, eine Liebe, der es nicht genügt, Nächstenliebe zu üben, sondern die den Schrei, die Angst, die Verletzungen, den Tod der Kleinen und der Armen auf sich nimmt, eine Liebe, die bereit ist, sein Leben für die Freunde zu geben. 5. Während des Treffens wurde jedenfalls festgestellt, dass auch der Erzieher, der nicht von einer ausdrücklichen und starken religiösen Vorschlag ausgeht, eine innere Haltung mitbringen kann – und dies gilt für viele - die von einem Glauben inspiriert, der sich in einem dreifachen evangelischen Bild gut ausdrücken lässt – wir hoffen, dass es viele Menschen inspirieren wird . a) Zuallererst das Bild von Christus vor der Ehebrecherin: der Meister erweist ihr Achtung und Zuneigung, er urteilt nicht und verurteilt nicht den Menschen, sondern durch sein eigenes Beispiel fordert er sie auf, ihr Leben zu ändern. b) Das zweite Bild, das Bild des Guten Hirten, der sich auf die Suche nach dem verirrten Schaf macht (um so mehr, wenn es sich um ein Lämmchen handelt). Er fordert uns auf, nicht zu warten und vor allem, nicht zu erwarten, das es das Schäfchen ist, dass den Weg zurück zum Stall findet. Darum sind die notwendigen, wünschenswerten Phasen für eine Seelsorge der Straßenkinder: - Beobachten, zuhören, die Welt, die so geheimnisvoll ist, von innen her verstehen (der Gute Hirte kennt seine Schafe); - Die Initiative zur Begegnung ergreifen, auf die Straße gehen, damit die Jugendlichen bemerken, dass wir uns auch dort wohl fühlen, wo sie aus freier Entscheidung oder gezwungenermaßen leben (der Gute Hirte verlässt den Stall und geht los); - Eine spontane Beziehung zu ihnen aufbauen, warmherzig, voller Zuneigung und Interesse, voller aufrichtiger Freundschaft, die es nicht nötig hat, dass man sie mit vielen Worten erklärt, da sie sich in allen Gesten zeigt (Der Hirte trägt das Schaf auf seinen Schultern und feiert mit seinen Freunden). c) Das dritte Bild ist das der Jünger von Emmaus: angesichts des Wiederauferstandenen Christus und mit der Aussicht auf die Wiederauferstehung öffnen sie endlich die Augen, nachdem sie einen gewissen Weg hinter sich gebracht haben, während dessen sich ihnen zwar nicht die Augen geöffnet, sich ihnen aber dafür das Herz erwärmt und der Neuheit des Evangeliums geöffnet hat. 6. Es ist offensichtlich, dass mit dieser inneren Einstellung der zweite erzieherische Weg mit dem ersten vieles gemeinsam hat und vor allen Dingen gibt es ein gemeinsames Ziel. Und sie teilen auch den Zweck und die Methode, insbesondere in diesen grundlegenden Zügen, die sich folgendermaßen darstellen lassen: a) Vertrauen und Selbstachtung wecken; damit der Jugendliche versteht und die Erfahrung machen kann, dass er für den Erzieher wichtig ist und der Erzieher es für ihn ist: dies ist der Ausgangspunkt um voller Überzeugung und entschlossen die ersten Schritte in Richtung auf die Entscheidung zu einem anderen Leben zu tun. Man muss ihn bei der Entdeckung der Liebe Gottes durch die konkrete Erfahrung begleiten, dass der Betroffene sich aufgenommen und ohne Einschränkungen angenommen und als Person geliebt fühlt so wie sie ist. Dieser Kontakt, bei dem man mit jemandem auf du und du steht, muss auch fortgesetzt werden, wenn der Jugendliche in die Hände anderer Erzieher übergewechselt ist oder die Aufnahmestelle verlassen hat. b) Man muss dem Jugendlichen Platz einräumen, damit er eine aktive Rolle in der Gemeinschaft übernehmen kann, man muss sein Empfinden für Verantwortung und Freiheit wecken, damit er sich in der Gemeinschaft zu Hause fühlen kann. Das bedeutet jedoch auch, dass in diesem „Zuhause“ die Wärme, die Spontaneität und eine freundschaftliche Nähe den Vorrang haben vor der Ordnung, der Disziplin und einer schriftlich niedergelegten Regel. c) Die Beziehung zu jedem einzelnen Jugendlichen pflegen. Wenn natürlich auch Methoden und allgemeinen Regeln nützlich sind, so gilt doch, dass jeder Jugendliche ein Fall für sich ist, eine ganz eigene Welt mit einer eigenen Geschichte. Viele unter ihnen haben zudem bewiesen, dass sie Intelligenz und Energie besitzen, um auch in schwierigen Situationen zu überleben, sie haben sich als fähig, einfallsreich und listig erwiesen. Genau bei diesen Fähigkeiten, die sich mehr oder minder deutlich in ihrer Persönlichkeit zeigen, muss man auch weiter ansetzen, um ihnen den Weg zu weisen, und „eine neue Richtung“ einzuschlagen, damit sie zu sich selbst finden und Subjekt und nicht nur Objekt der Seelsorge zu ihrer Wiedereingliederung werden. Die pädagogisch-erzieherischen Programme haben also die wichtige Aufgabe, den Jugendlichen dahin zu bringen, dass er das eigene positive Potential wieder entdeckt und für sich verwertet und lernt, die eigenen Talente nutzbringend einzusetzen und die eigenen Fähigkeiten so weit wie möglich weiter zu entwickeln. d) Darauf abzuzielen (und das ist kein utopisches Ziel), dass der Jugendliche sich das erzieherische Projekt zu eigen macht und bis zu einem Punkt verinnerlicht, dass er – vielleicht ein paar Jahre später selbst Hilfe und Anregung für andere Straßenkinder sein kann, auf dass diese den gleichen Weg einschlagen. Auf diese Weise stellt er sich neben seinen Erzieher, er wird selbst zum Erzieher, aktiv in dieser spezifischen Pastoral. e) In dem Einsatz zugunsten der Straßenkinder einen bevorzugten Weg im Dienste des Herrn und der Begegnung mit ihm erkennen: “Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25, 40) 7. Es versteht sich von selbst, dass größte Teil der Mittel, die in diesem Bereich eingesetzt werden, dazu dienen muss, Seelsorger beruflich und geistlich vorzubereiten, die ihrerseits bereits eine große menschliche Reife besitzen, die in der Lage sein müssen, auf unmittelbare Erfolge zu verzichten, und das Vertrauen aufzubringen, dass das Ergebnis ihrer Arbeit sich auch später noch zeigen kann, vielleicht auch nach Augenblicken, in denen alles bereits im Nichts zu enden schien. Sie brauchen zudem eine große Bereitschaft, in Harmonie mit anderen Erziehern zusammenzuarbeiten. 8. Eine Arbeit mit der Herkunftsfamilie anstreben (wenn möglich), die auf die Mechanismen in einer nicht gesunden Familie positiv einwirkt und die der Unterstützung und der Wiederherstellung der familiären Struktur dient und der allmählichen Begleitung und Wiedereingliederung des Jugendlichen in den Schoß seiner Familie. 9. Zugleich ist eine Zusammenarbeit nicht nur innerhalb der eigenen Strukturen anzustreben, sondern auch mit denen, die im gleichen Gebiet in der gleichen Arbeit engagiert sind oder an ihr doch jedenfalls Interesse zeigen. Es sollte auch eine Zusammenarbeit mit anderen Kräften, die nicht kirchlicher Natur sind, gesucht und willkommen geheißen werden, wenn diese eine echte menschliche Empfindsamkeit beweisen, oder auch mit den öffentlichen Behörden, auch wenn es nicht möglich ist oder aufgrund einer eigenen Entscheidung nicht angestrebt wird, sich auf öffentliche Finanzmittel zu verlassen. 10. In jedem Fall muss man vorsichtig sein, damit die Eingriffe, die durch ihren Gemeinsinn oder das Volontariat eine Ersatzfunktion übernehmen, bei denen, deren Aufgabe es eigentlich wäre, einzugreifen, nicht eine Einstellung und den Vorwand schaffen, sich nicht zu engagieren. Auch aufseiten der Kirche muss, wenn dies nötig ist, neben der Funktion des Vorschlagens und der Anregung auch eine Funktion der konstruktiven Kritik und der prophetischen Anklage treten. 11. Außerdem muss man all das in einem Netz zusammenschließen, was in dem Territorium bereits vorhanden ist, um positive Erfahrungen auszutauschen und gegebenenfalls auch als Hilfe vonseiten jener, die bereits über eine lange Erfahrung verfügen für jene, die gerade erst begonnen haben. 12. Die Straßenkinder sind tatsächlich eine „Momentsaufnahme“ der Gesellschaft, in der wir leben, Jugendliche, die sie nicht unterstützt hat, die sie stattdessen in gewisser Weise provoziert und ins Abseits gedrückt hat. Die hier Tätigen müssen der Gesellschaft helfen, sich dieser ihrer Verantwortung bewusst zu werden und in ihr ein gewisses Gefühl gesunder Beunruhigung gegenüber diesen Jugendlichen zu entwickeln. In gleicher Weise sollte sich auch die Ortskirche einsetzen und insbesondere die christliche Gemeinde. 13. Für eine Mobilisierung zugunsten dieser Jugendlichen wird es von großem Nutzen sein, im Rahmen der Bischofskonferenzen und innerhalb der Diözesen selbst, die von diesem Problem besonders betroffen sind, ein besonderes Büro einzurichten (oder auch eine besondere Abteilung innerhalb eine bereits bestehenden Büros), zum Beispiel innerhalb von dem, dass sich mit der Mobilität der Menschen befasst, und dies in Verbindung mit dem für die Jugendlichen oder die Familien. Es ist auch wünschenswert, dass in die allgemeinen seelsorgerischen Vorhaben organisch eingebettete, einschneidende und andauernde Initiativen eingegliedert werden, die der „Pastoral der Straße“ besondere Aufmerksamkeit widmen. Die spezifischen Seelsorger müssen die Empfänglichkeit der kirchlichen Gemeinde und ihre Beteiligung an der Suche nach entscheidenden Antworten für das so dringliche Problem der Straßenkinder vorbereiten. 14. Es ist wünschenswert, dass der Päpstliche Rat für die Migranten und die Menschen unterwegs regelmäßige Treffen einberuft zumindest auf kontinentaler Ebene etwa in der Art des Treffens, das eben zu Ende gegangen ist. Rom, 25-26. Oktober 2004 |