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BEITRAG DES HL. STUHLS
BEIM DRITTEN GIPFELTREFFEN DER STAATS- UNDREGIERUNGSCHEFS
DER MITGLIEDSSTAATEN DES EUROPARATES
(WARSCHAU, 16.-17. MAI 2005)

BEITRAG VON ERZBISCHOF GIOVANNI LAJOLO

Montag, 16. Mai 2005

 

I. Europäische Einheit und europäische Werte

1. Es ist mir eine Ehre, allen Anwesenden die herzlichen Grüße des neuen Papstes Benedikt XVI. zu überbringen, der mit der Wahl seines Namens auch an einen der großen Baumeister der europäischen Zivilisation erinnern wollte. Er hat in vielen seiner früheren Vorträge und Publikationen eine Reihe sowohl historischer als auch lehrmäßiger Überlegungen zum Thema europäische Einheit und europäische Werte vorgenommen, die nach wie vor aktuell und beachtenswert sind.

2. Diesem Thema, dem das derzeitige Gipfeltreffen gewidmet ist, kommt für den Heiligen Stuhl besondere Bedeutung zu. Bereits Pius XII. schlug in seiner Weihnachtsbotschaft des Jahres 1944 für Europa eine »auf Freiheit und Gleichheit gegründete echte Demokratie« vor (AAS 37 [1945] 14) und am 9. Mai 1945 sprach er von »einem neuen Europa…, das auf der Achtung vor der Menschenwürde, vor dem geheiligten Prinzip der Gleichheit der Rechte für alle Völker, alle Staaten, große wie kleine, schwache wie starke, aufgebaut ist« (ebd., 129–130). Demselben Thema widmete Papst Paul VI. zunehmend lebhafte Aufmerksamkeit. Und alle wissen um das unablässige, leidenschaftliche und engagierte Eintreten von Papst Johannes Paul II. für ein Europa, das seiner geographischen und besonders seiner historischen Identität immer vollkommener entsprechen soll. Ich freue mich ganz besonders, hier, in seiner polnischen Heimat, an seine große und liebenswerte Persönlichkeit zu erinnern.

3. Europa wird von seinen Bürgern nur dann geliebt werden und seine Rolle als Kraft des Friedens und der Zivilisation in der Welt nur dann erfüllen, wenn es von bestimmten grundlegenden Werten beseelt ist:

a) die Förderung der Menschenwürde und der menschlichen Grundrechte, unter denen die Gewissens- und Religionsfreiheit die erste Stelle einnehmen;

b) das Streben nach dem Gemeinwohl in einer solidarischen Gesinnung;

c) die Achtung der nationalen und kulturellen Identität.

Diese Werte werden offensichtlich von allen geteilt; wenn sie jedoch konkret geltend gemacht werden und sich nicht im glanzlosen Allgemeinen erschöpfen sollen, werden sie auf die Geschichte Europas Bezug nehmen müssen, weil diese Europa in seiner geistigen Identität darstellt. Deshalb sieht der Heilige Stuhl mit Genugtuung die in Paragraph 6 der Präambel der Erklärung festgeschriebene Verpflichtung »zu den allgemeingültigen, im kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas verwurzelten Werten und Grundsätzen«. Die herausragende Rolle des Christentums bei der Ausformung und Entwicklung dieses kulturellen, religiösen und humanistischen Erbes ist allen bekannt und kann nicht bestritten werden.

II. Herausforderungen für die europäischen Gesellschaften

Die Herausforderungen, vor denen Europa steht, sind einerseits auf seine eigene innere Dynamik zurückzuführen und berühren andererseits Europas Auseinandersetzung mit den weltweiten Problemen. Europa kann nicht nur die einen Herausforderungen erfolgreich in Angriff nehmen, ohne auch auf die anderen hinreichend einzugehen.

1. Was die erstgenannten Herausforderungen betrifft, sieht sich der Europarat als Garant der auf der Achtung der Menschenrechte und des Rechtsstaates basierenden demokratischen Sicherheit mit zwei Forderungen konfrontiert:

a) der Notwendigkeit zu verhindern, daß das Prinzip der Gleichheit den Schutz der gerechtfertigten Unterschiede beeinträchtigt. Gerechtigkeit erfordert in der Tat, daß gleiche Beziehungen gleich behandelt und unterschiedliche Beziehungen unterschiedlich behandelt werden;

b) der Notwendigkeit zu verhindern, daß das Prinzip der individuellen Freiheit von seiner natürlichen Einbindung in die Gesamtheit der sozialen Beziehungen abgekoppelt wird und dadurch das Prinzip der sozialen Verantwortung beeinträchtigt wird, das in der Tat einen wesentlichen Bestandteil des positiven Wertes der individuellen Freiheit ausmacht.

Die Auswirkungen dieser Konfrontation auf der Ebene der zwischenstaatlichen Beziehungen sowie der sozialen, familiären und individuellen Bereiche liegen auf der Hand.

2. Andererseits ergeben sich viele konkrete Herausforderungen aus den großen weltweiten Problemen, die eine Erblast des 20. Jahrhunderts sind: der nuklearen Bedrohung, die nunmehr der exklusiven historischen Verantwortung der Großmächte zu entgleiten droht; dem Auftreten verschiedener Formen des politischen und religiösen Fundamentalismus; der Massenmigration ganzer Völker und bestimmten Situationen einer gefährlichen staatlichen Instabilität gerade auch im europäischen Bereich. Ich denke dabei im besonderen an die Situation in Bosnien-Herzegowina und in der Region Kosovo, für beide steht eine zuverlässige Lösung dringend an, eine Lösung, die aber nicht erreicht werden kann, ohne wirksame Garantien für die Minderheiten sicherzustellen.

3. Der Heilige Stuhl bietet im Geist des Dienstes seine und die Unterstützung der ganzen katholischen Kirche an, um auf diese Herausforderungen angemessen antworten zu können. Er ist davon überzeugt, daß die im Evangelium enthaltene Botschaft der Brüderlichkeit, der umfassende karitative Einsatz der katholischen Organisationen, die Verpflichtung zum ökumenischen und interreligiösen Dialog naturgemäß mit der Verpflichtung zum politischen, interreligiösen und interkulturellen Dialog verbunden werden können, wie er in der Abschlußerklärung dieser Versammlung erwähnt wird und zu dem der Heilige Stuhl gern ermutigen möchte.

III. Der Aufbau Europas

Ich will noch ein Wort zum Thema des Aufbaus Europas sagen. Die Delegation des Heiligen Stuhls maßt sich nicht an, technische Lösungen vorzuschlagen, möchte aber als Beitrag zu unserem gemeinsamen Reflexionsprozeß einige einfache Überlegungen anbieten.

1. Eine bessere Koordinierung unter den europäischen Organisationen ist nicht nur ein Gebot politischer und konzeptioneller Geschlossenheit oder bilanzpolitischer Erwägungen, sondern eine Forderung des ursprünglichen kreativen Geistes des Projektes Europa. Das Gelingen dieses Projektes verlangt in der Tat nicht nur das reibungslose Funktionieren jeder einzelnen wichtigen Institution, sondern das gemeinsame ausgeglichene Zusammenwirken aller dieser Institutionen, so daß es den Bürgern Europas ermöglicht wird, Europa als ihr »gemeinsames Haus« im Dienst des Menschen und der Gesellschaft zu sehen.

2. Die Erfahrung des Europarates, dessen Kompetenz auf dem Gebiet der Rechtsfragen weithin anerkannt wird, ist von besonderer Bedeutung, weil sie die Umrisse zu einem Entwurf einer europäischen Gesellschaft skizzieren könnte. Die bisher verabschiedeten mehr als 150 Konventionen des Europarates – zu den Fragen Erziehung, Kultur, Minderheiten, Flüchtlinge, Zuwanderung, Ökologie, Medien usw. – decken einen beachtlichen Teil der Bereiche ab, die sich mit der sozialen Dimension befassen.

Außerdem rückt der Europarat durch seine territoriale Erweiterung näher an die »Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (OSZE) heran. Die OSZE ist jedoch auch durch ihre transatlantische Dimension gekennzeichnet, was für die Aufrechterhaltung des Friedens in einer globalisierten Welt und für die Erfüllung ihres Auftrags im Fall von Konflikten unverzichtbar ist. Von den in den drei Entwürfen der OSZE skizzierten Wegen zum Aufbau Europas – Sicherheitspolitik, Zusammenarbeit im Bereich von Wirtschaft und Ökologie, die humane Dimension – bietet verständlicherweise der letzte Faktor das breiteste Feld für die Zusammenarbeit zwischen Europarat und OSZE.

3. Was die Europäische Union betrifft, so zeichnen sich im Rechtsbereich bezüglich der Menschenrechte weitere konkrete Möglichkeiten für eine engere Kooperation zwischen den Institutionen ab. Die gemeinsame Bestätigung der Menschenrechte und der gesetzliche Schutz europäischer Bürger – bekräftigt durch den Willen der Europäischen Union, sich an die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der fundamentalen Freiheiten zu halten – muß in den Vorschlägen, die von der im Dezember 2004 eingerichteten Koordinierungsgruppe vorgelegt werden sollen, in angemessener Weise zum Ausdruck gebracht werden.

4. Ich möchte zum Abschluß mit aller Klarheit feststellen, daß der Heilige Stuhl auch weiterhin zuverlässig seine Mitarbeit beim Aufbau des großen Projektes Europa anbieten wird.

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