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ANSPRACHE VON KARD. TARCISIO BERTONE,
STAATSSEKRETÄR,
VOR DEM SENAT DER ITALIENISCHEN REPUBLIK

Dienstag, 28. Juli 2009

 

Am Anfang der Enzyklika Benedikts XVI. steht als Einleitung eine reichhaltige und tiefe Reflexion, die die beiden Begriffe des Titels aufgreift, der die »caritas« und die »veritas«, die Liebe und die Wahrheit, eng miteinander verbindet. Es handelt sich dabei nicht nur um eine Art »explicatio terminorum«, eine einführende Klärung der Begriffe, sondern es wird auf die Prinzipien und Grundperspektiven ihrer ganzen Lehre hingewiesen. Wie in einer Symphonie durchzieht das Thema der Wahrheit und der Liebe das ganze Dokument, denn gerade hier liegt, wie der Papst schreibt, »der hauptsächliche Antrieb für die wirkliche Entwicklung eines jeden Menschen und der gesamten Menschheit«[1].

Es stellt sich jedoch die Frage: Um welche Wahrheit und um welche Liebe handelt es sich? Es besteht kein Zweifel, daß gerade diese Begriffe heute Mißtrauen hervorrufen (vor allem der Begriff der Wahrheit), oder Mißverständnissen unterworfen sind (das gilt vor allem für den Begriff der Liebe). Daher muß unbedingt geklärt werden, von welcher Wahrheit und von welcher Liebe in der neuen Enzyklika die Rede ist. Der Heilige Vater gibt uns zu verstehen, daß diese beiden grundlegenden Realitäten nicht außerhalb des Menschen angesiedelt sind oder ihm sogar aufgezwungen werden im Namen einer wie auch immer gearteten Ideologie, sondern daß sie tief in der Person selbst verwurzelt sind. »Liebe und Wahrheit«, so sagt der Heilige Vater, »sind die Berufung, die Gott ins Herz und in den Geist eines jeden Menschen gelegt hat«[2], jenes Menschen, der gemäß der Heiligen Schrift »nach dem Bild und Gleichnis« seines Schöpfers geschaffen ist, des biblischen Gottes, »der zugleich ›Agape‹ und ›Logos‹ ist: Caritas und Wahrheit, Liebe und Wort«[3].

Von dieser Wirklichkeit zeugt nicht nur die biblische Offenbarung, sondern sie kann von jedem Menschen guten Willens erfaßt werden, der, wenn er über sich selbst nachdenkt, von seinem Verstand rechten Gebrauch macht.[4]. In diesem Zusammenhang sind einige Inhalte eines wichtigen Dokuments, das kurz vor der Enzyklika Caritas in veritate veröffentlicht wurde, sehr aufschlußreich. Die Internationale Theologenkommission hat vor einigen Monaten eine Schrift herausgegeben, die den Titel trägt: Alla ricerca di un’etica universale: nuovo sguardo sulla legge naturale [Auf der Suche nach einer universalen Ethik: ein neuer Blick auf das Naturrecht]. Sie greift sehr wichtige Themen auf, auf die ich den hier versammelten Senat als eine Institution, die in erster Linie der Gesetzeserzeugung dient, ganz besonders hinweisen und sie ihm ans Herz legen möchte. Im vergangenen Jahr sagte der Heilige Vater vor der UN-Vollversammlung in New York bei seinem Besuch im Glaspalast über die Grundlage der Menschenrechte: »Diese Rechte haben ihre Grundlage im Naturrecht, das in das Herz des Menschen eingeschrieben und in den verschiedenen Kulturen und Zivilisationen gegenwärtig ist. Die Menschenrechte aus diesem Kontext herauszulösen, würde bedeuten, ihre Reichweite zu begrenzen und einer relativistischen Auffassung nachzugeben, für welche die Bedeutung und Interpretation dieser Rechte variieren könnten und derzufolge ihre Universalität im Rahmen kultureller, politischer, sozialer und sogar religiöser Vorstellungen verneint werden könnte.«[5] Diese Überlegungen gelten nicht nur für die Rechte des Menschen, sondern für eine jede Maßnahme der rechtmäßigen Autorität, die den Auftrag hat, das Leben der Gemeinschaft im Sinne wahrer Gerechtigkeit zu regeln durch Gesetze, die nicht Frucht einer bloßen Konvention sind, sondern die auf das wahre Wohl der Person und der Gesellschaft abzielen und daher auf das Naturrecht Bezug nehmen.

Bei der Darlegung des Naturrechts erläutert die Internationale Theologenkommission die Tatsache, daß Wahrheit und Liebe Grundbedürfnisse eines jeden Menschen und tief in dessen Sein verwurzelt sind. »Auf der Suche nach dem sittlichen Gut versucht die menschliche Person zu ergründen, was sie ist und wird sich der grundlegenden Bestrebungen ihrer Natur bewußt.«[6] Diese lassen den Menschen nach den Gütern streben, die für seine sittliche Verwirklichung notwendig sind. »Traditionell unterscheidet man zwischen drei großen Komplexen natürlicher Dynamiken … der erste, den sie mit jedem substantiellen Wesen gemeinsam hat, besteht im wesentlichen in dem Bestreben, die eigene Existenz zu bewahren und zu entfalten. Der zweite, den sie mit allen Lebewesen gemeinsam hat, besteht in dem Bestreben, sich fortzupflanzen, um die Art zu erhalten. Der dritte, der ihr als rationales Wesen zu eigen ist, bringt das Bestreben mit sich, die Wahrheit über Gott zu erkennen und in Gesellschaft zu leben.«[7]. Die Internationale Theologenkommission vertieft diese dritte Dynamik, die in jeder Person vorhanden ist, und sagt, daß sie »spezifisch ist für den Menschen als geistliches Wesen, das einen Verstand besitzt und in der Lage ist, die Wahrheit zu erkennen, in Dialog mit den anderen zu treten und freundschaftliche Beziehungen zu knüpfen … So ist sein ganzheitliches Wohl eng an das Leben in Gemeinschaft gebunden, die sich als politische Gesellschaft organisiert kraft eines natürlichen Strebens und nicht einer bloßen Konvention. Das auf Beziehung beruhende Wesen der Person kommt auch zum Ausdruck durch den Hang, in Gemeinschaft mit Gott oder mit dem Absoluten zu leben …

Natürlich kann er verneint werden von jenen, die die Existenz eines persönlichen Gottes leugnen, aber er bleibt implizit vorhanden in der Suche nach Wahrheit und Sinn, die in jedem Menschen vorhanden ist«[8].

Der Mensch ist dazu geschaffen, durch die »erweiterte Vernunft«[9], die Wahrheit in ihrer ganzen Bandbreite zu erkennen, sich also nicht darauf zu beschränken, technisches Wissen zu erlangen, um die materielle Wirklichkeit zu beherrschen, sondern sich zu öffnen bis hin zur Begegnung mit dem Transzendenten, und um in ganzer Fülle die zwischenmenschliche Dimension der Liebe zu leben, »das Prinzip nicht nur der Mikro-Beziehungen – in Freundschaft, Familie und kleinen Gruppen –, sondern auch der Makro- Beziehungen – in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen«[10]. Gerade die »veritas« und die »caritas« zeigen uns die Anforderungen des Naturrechts, das Benedikt XVI. der moralischen Reflexion über die derzeitige sozioökonomische Realität als wesentliches Kriterium zugrundelegt: »›Caritas in veritate‹ ist das Prinzip, um das die Soziallehre der Kirche kreist, ein Prinzip, das in Orientierungsmaßstäben für das moralische Handeln wirksame Gestalt annimmt.«[11].

Daher sagt der Heilige Vater sehr treffend: »Die Soziallehre der Kirche … ist ›caritas in veritate in re sociali‹: Verkündigung der Wahrheit der Liebe Christi in der Gesellschaft. Diese Lehre ist Dienst der Liebe, aber in der Wahrheit.«[12].

Der Inhalt der Enzyklika hat weder ideologischen Charakter, noch ist er jenen vorbehalten, die den Glauben an die göttliche Offenbarung teilen, sondern er gründet auf wesentlichen anthropologischen Gegebenheiten – wie der Wahrheit und der Liebe, die recht verstanden werden müssen. In der Enzyklika selbst heißt es, daß sie dem Menschen geschenkt und von ihm empfangen, nicht willkürlich von ihm erzeugt werden[13]. Benedikt XVI. will alle daran erinnern, daß man nur in der Verankerung in dieses zweifache Kriterium der »veritas« und der »caritas«, die untrennbar miteinander verbunden sind, das wahre Wohl des Menschen, der für die Wahrheit und die Liebe geschaffen ist, aufbauen kann. Der Heilige Vater schreibt: »Nur mit der vom Licht der Vernunft und des Glaubens erleuchteten Liebe ist es möglich, Entwicklungsziele zu erreichen, die einen menschlicheren und vermenschlichenderen Wert besitzen.«[14].

Nach diesem notwendigen Vorwort, in dem ich einige anthropologische und theologische Aspekte des päpstlichen Schreibens hervorheben wollte, die von den Medien vielleicht weniger kommentiert wurden, möchte ich jetzt nur einige Punkte erläutern, ohne den Anspruch zu erheben, den ganzen Inhalt der Enzyklika abzudecken, die im übrigen bereits von maßgeblicher Seite, im »L’Osservatore Romano« und an anderer Stelle, kommentiert und vertieft wurde.

Eine wichtige Botschaft, die die Enzyklika Caritas in veritate uns übermittelt, ist die Aufforderung, die bereits überholte Dichotomie zwischen dem wirtschaftlichen und dem sozialen Bereich zu überwinden. Die Moderne hat uns die Idee hinterlassen, daß man bei einer Tätigkeit im wirtschaftlichen Bereich unbedingt auf Profit ausgerichtet sein und vorwiegend die eigenen Interessen vor Augen haben muß. Praktisch hieße das, man könne nur dann Unternehmer sein, wenn man nach Gewinnmaximierung strebe. Wenn das nicht der Fall sei, müsse man sich damit begnügen, zum sozialen Bereich zu gehören.

Diese Auffassung, die die Marktwirtschaft, also den »genus«, mit einer ihr zugeordneten »species«, dem kapitalistischen System, verwechselt, hat dazu geführt, daß die Wirtschaft mit dem Ort der Produktion von Reichtum (oder Ertrag) und das Soziale mit dem Ort der Solidarität für eine gerechte Verteilung desselben gleichgesetzt wird.

Die Enzyklika Caritas in veritate dagegen lehrt uns, daß eine Unternehmensführung auch dann möglich ist, wenn man sozial nützliche Ziele verfolgt und das eigene Handeln von Motivationen pro-sozialer Art bestimmt ist. Das ist eine konkrete – wenn auch nicht die einzige – Weise, um das Gefälle zwischen dem Wirtschaftlichen und dem Sozialen zu überwinden, denn wirtschaftliches Handeln, das nicht auch die soziale Dimension in sich einschließt, wäre ethisch nicht vertretbar. Andererseits wäre soziales Handeln, das auf bloßer Umverteilung beruht und die Gebundenheit an die Ressourcen nicht in Rechnung stellt, auf lange Sicht nicht tragbar: Bevor man nämlich verteilen kann, muß man produzieren.

Besonders dankbar muß man Benedikt XVI. für die Hervorhebung der Tatsache sein, daß das wirtschaftliche Handeln die tragenden Prinzipien der Soziallehre der Kirche – Zentralität der menschlichen Person, Solidarität, Subsidiarität, Gemeinwohl – durchaus berührt und ihnen nicht fremd ist.

Die praktische Auffassung, der zufolge die Werte der Soziallehre der Kirche nur in Werken sozialer Natur Raum finden sollten, während die Wirtschaftsführung Aufgabe der Experten in Sachen Effizienz sei, muß überwunden werden. Diese Enzyklika besitzt das sicherlich nicht nebensächliche Verdienst, zur Beseitigung dieses – kulturellen und auch politischen – Mangels beizutragen.

Im Gegensatz zur allgemeinen Annahme ist nicht die Effizienz das »fundamentum divisionis« zur Unterscheidung dessen, was ein Unternehmen ist und was kein Unternehmen ist, und zwar aus dem einfachen Grund, daß die Kategorie der Effizienz auf der Ebene der Mittel und nicht auf der Ebene der Ziele angesiedelt ist. Man muß effizient sein, um das Ziel am besten zu verfolgen, das man seinem Handeln durch freie Entscheidung gesetzt hat. Der Unternehmer, der sich von einer Effizienz leiten läßt, die Selbstzweck ist, läuft Gefahr, einem übertriebenen Leistungsstreben zu verfallen, das heute eine der häufigsten Ursachen der Zerstörung von Reichtum ist, wie die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzkrise leider bestätigt.

Ich möchte für einen Augenblick über den Horizont des Themas hinausgehen. Wenn man von »Markt« spricht, bedeutet dies Wettbewerb, und zwar in dem Sinne, daß es keinen Markt geben kann, wo kein Wettbewerb stattfindet (auch wenn das Gegenteil nicht zutrifft). Und jeder weiß, daß die Fruchtbarkeit des Wettbewerbs in der Tatsache liegt, daß ein Streben vorhanden ist, eine Dialektik, welche die Anwesenheit eines anderen und die Beziehung zu einem anderen voraussetzt. Ohne Streben gibt es keine Bewegung, aber die Bewegung – und genau das ist der Punkt –, die durch das Streben erzeugt wird, kann auch todbringend sein, kann also den Tod hervorbringen.

Wenn der Zweck des wirtschaftlichen Handelns nicht das Streben nach einem gemeinsamen Ziel ist – wie es das lateinische Stammwort »cum-petere« [des Wortes »Kompetition« = Wettbewerb] klar zum Ausdruck bringt –, sondern das »mors tua vita mea« im Sinne von Hobbes, dann wird das soziale Band auf die Geschäftsbeziehung reduziert und tendiert die wirtschaftliche Tätigkeit dazu, inhuman und letztlich ineffizient zu werden. Daher ist auch in bezug auf den Wettbewerb »die Soziallehre der Kirche der Ansicht, daß wahrhaft menschliche Beziehungen in Freundschaft und Gemeinschaft, Solidarität und Gegenseitigkeit auch innerhalb der Wirtschaftstätigkeit und nicht nur außerhalb oder ›nach‹ dieser gelebt werden können. Der Bereich der Wirtschaft ist weder moralisch neutral noch von seinem Wesen her unmenschlich und antisozial. Er gehört zum Tun des Menschen und muß, gerade weil er menschlich ist, nach moralischen Gesichtspunkten strukturiert und institutionalisiert werden«[15].

Aus der Enzyklika Caritas in veritate erwächst uns ein gewiß nicht geringer Nutzen: Hier wird nämlich einem – für die Tradition bürgerlicher Wirtschaftsauffassung charakteristischen – Marktverständnis große Beachtung geschenkt, demzufolge die menschliche Soziabilität nur innerhalb und nicht außerhalb oder am Rande eines normalen Wirtschaftslebens gelebt werden kann. Dieses Verständnis könnte man als alternativ bezeichnen, sowohl gegenüber jenem, das den Markt als Ort der Ausbeutung und der Unterdrückung des Schwächeren durch den Stärkeren betrachtet, als auch gegenüber jenem, das ihn auf der Linie der anarchisch geprägten Freihandelslehre als Ort betrachtet, der eine Lösung für alle gesellschaftlichen Probleme bietet.

Diese Art des Unternehmertums unterscheidet sich von der Wirtschaft in der Tradition von Adam Smith, die den Markt als die einzige Einrichtung betrachtet, die für die Demokratie und die Freiheit wirklich notwendig ist. Die Soziallehre der Kirche dagegen ruft uns ins Gedächtnis, daß eine gute Gesellschaft natürlich Frucht des Marktes und der Freiheit ist, daß es aber auch auf das Prinzip der Brüderlichkeit zurückzuführende Bedürfnisse gibt, die nicht umgangen und nicht nur in die Privatsphäre oder in den Bereich der Philanthropie verwiesen werden können. Vielmehr schlägt sie einen mehrdimensionalen Humanismus vor, in dem der Markt nicht bekämpft oder »kontrolliert«, sondern als wichtiges Moment des öffentlichen Bereichs betrachtet wird. Dieser Bereich geht weit über den staatlichen Bereich hinaus. Wenn er als Ort aufgefaßt und gelebt wird, der auch für die Prinzipien der Gegenseitigkeit und des Geschenks offen ist, kann er ein gesundes bürgerliches Zusammenleben aufbauen.

Ich wende mich jetzt einem in der Enzyklika vorhandenen Thema zu, das ein gewisses öffentliches Interesse geweckt hat aufgrund der Neuheit, die die Prinzipien der Brüderlichkeit und der Unentgeltlichkeit im wirtschaftlichen Handeln darstellen. Eine »Entwicklung, die wahrhaft menschlich sein will«, so Benedikt XVI., muß »dem Prinzip der Unentgeltlichkeit … Raum geben «[16]. Es bedarf »Formen solidarischen Wirtschaftslebens«. Markt und Politik brauchen »Menschen, die zur Hingabe aneinander bereit sind«[17]. Bedeutsam ist in diesem Sinne das Kapitel, das der Zusammenarbeit der Menschheitsfamilie gewidmet ist. Hier wird hervorgehoben: »Die Entwicklung der Völker hängt vor allem davon ab, sich als eine einzige Familie zu erkennen«, und »ein solches Denken verpflichtet auch zu einer kritischen und beurteilenden Vertiefung der Kategorie der Beziehung«. Weiter heißt es: »Das Thema der Entwicklung der Völker fällt mit dem der Einbeziehung aller Personen und Völker in die eine Gemeinschaft der Menschheitsfamilie zusammen, die auf der Basis der Grundwerte der Gerechtigkeit und des Friedens in Solidarität gebildet wird.«[18] Es handelt sich um Themen, die in der heutigen Zeit, in der die Wirtschaftskrise die Welt ergriffen hat, besonders spürbar sind. Für diese Krise jedoch hat »die Kirche keine technischen Lösungen anzubieten und beansprucht keineswegs, ›sich in die staatlichen Belange einzumischen‹. Sie hat aber zu allen Zeiten und unter allen Gegebenheiten eine Sendung der Wahrheit zu erfüllen für eine Gesellschaft, die dem Menschen und seiner Würde und Berufung gerecht wird«[19].

Das Schlüsselwort, das heute besser als jedes andere dieses Bedürfnis zum Ausdruck bringt, ist das der Brüderlichkeit. Die franziskanische Schule hat diesem Begriff die Bedeutung verliehen, die er im Laufe der Zeit bewahrt hat. Er ist die Ergänzung und die Erhöhung des Prinzips der Solidarität. Während nämlich die Solidarität das Prinzip sozialer Organisation ist, das es den Ungleichen erlaubt, gleich zu werden aufgrund der Gleichheit ihrer Würde und ihrer Grundrechte, so ist das Prinzip der Brüderlichkeit jenes Prinzip sozialer Organisation, das es den Gleichen erlaubt, unterschiedlich zu sein, in dem Sinne, daß sie ihren Lebensplan oder ihr Charisma unterschiedlich zum Ausdruck bringen können.

Ich möchte das etwas erläutern. Die Zeiten, die hinter uns liegen, das 19. und vor allem das 20. Jahrhundert, waren durch schwere kulturelle und politische Kämpfe im Namen der Solidarität gekennzeichnet. Das war gut: Man denke nur an die Geschichte des Gewerkschaftsbewegung oder an den Kampf um die Erlangung der Bürgerrechte. Der Punkt ist, daß eine auf das Gemeinwohl ausgerichtete Gesellschaft sich nicht mit der Solidarität begnügen kann, sondern eine Solidarität braucht, die die Brüderlichkeit widerspiegelt. Denn während die brüderliche Gesellschaft auch solidarisch ist, ist das Gegenteil nicht unbedingt der Fall.

Wenn man die Tatsache vergißt, daß eine menschliche Gesellschaft nicht tragbar ist, in der das Bewußtsein der Brüderlichkeit schwindet und alles darauf reduziert wird, die Transaktionen zu verbessern, die auf dem Austausch von Gegenwerten basieren, oder öffentliche Hilfsmaßnahmen zu verstärken, dann wird man sich bewußt, warum man trotz der Qualität der intellektuellen Kräfte auf diesem Gebiet noch immer nicht zu einer überzeugenden Lösung des großen »Trade-off« zwischen Effizienz und Gerechtigkeit gelangt ist. Die Enzyklika Caritas in veritate hilft uns, uns bewußt zu machen, daß die Gesellschaft nicht zukunftsfähig ist, wenn das Prinzip der Brüderlichkeit sich auflöst. Sie kann keine Fortschritte machen, wenn nur die Logik des »Gebens, um zu haben« oder des »Gebens aus Pflicht« existiert und weiterentwickelt wird. Aus diesem Grund können weder die liberal-individualistische Weltanschauung, in der alles (oder fast alles) Handel ist, noch die zentralstaatliche Gesellschaftsauffassung, in der alles (oder fast alles) Pflicht ist, uns sicher aus dem Sumpf herausführen, in die unsere heutige Gesellschaft hineingeraten ist.

Es stellt sich also folgende Frage: Wieso taucht plötzlich wie ein unterirdischer Fluß der Aspekt des Gemeinwohls wieder auf, so wie die Soziallehre der Kirche ihn formuliert hat, nachdem man ihn mindestens zwei Jahrhunderte lang aus den Augen verloren hatte? Warum wird durch den Übergang von den nationalen Märkten zum globalen Markt, der im Laufe der letzten 25 Jahre stattgefunden hat, das Thema des Gemeinwohls jetzt wieder aktuell? Ich möchte kurz anmerken, daß das, was gerade geschieht, zu einer größeren Strömung von Ideen in der Wirtschaft gehört, einer Strömung, die die Verbindung zwischen Religiosität und wirtschaftlicher »Performance« zum Gegenstand hat. Ausgehend von der Überlegung, daß der religiöse Glaube von entscheidender Bedeutung ist bei der Herausbildung der Erkenntnislandschaft und der sozialen Verhaltensmuster des Menschen, untersucht diese Strömung, wie sehr die Vorherrschaft einer bestimmten Religionsform in einem Land (oder einer Gegend) die Herausbildung von Kategorien wirtschaftlichen Denkens, die Wohlfahrt, die Schulpolitik und so weiter beeinflußt. Nach so langer Zeit, in der die allbekannte These der Säkularisierung scheinbar einen Schlußstrich unter die religiöse Frage gesetzt hatte, wenigstens was den wirtschaftlichen Bereich betrifft, klingt das, was heute geschieht, wirklich paradox.

Es ist nicht so schwierig, eine Erklärung zu finden für die Rückkehr des Aspekts des Gemeinwohls, des ureigensten Merkmals der katholischen Ethik im sozioökonomischen Bereich. Wie Johannes Paul II. bei vielen Gelegenheiten deutlich gesagt hat, darf die Soziallehre der Kirche nicht als eine ethische Theorie von vielen betrachtet werden, die im Laufe der Zeit formuliert wurden. Vielmehr ist sie eine diesen »gemeinsame Grammatik«, da sie auf einem besonderen Gesichtspunkt gründet: der Sorge um das menschliche Wohl. Die verschiedenen ethischen Theorien nämlich haben ihre Grundlage entweder in der Suche nach Regeln (wie im positivistischen Naturrecht, das die Ethik von der juristischen Norm ableitet) oder im Handeln (man denke an den Neo-Kontraktualismus von John Rawls oder an den Neo-Utilitarismus). Die Soziallehre der Kirche dagegen findet ihren archimedischen Punkt im »Sein mit«. Um das menschliche Handeln zu verstehen – so der Sinn der Ethik des Gemeinwohls – muß man sich in die Perspektive der handelnden Person versetzen und nicht in die Perspektive der dritten Person (wie das Naturrecht es tut) oder des neutralen Betrachters (gemäß der Idee von Adam Smith). Da das moralische Gut eine konkrete Wirklichkeit ist, kennt nämlich nicht in erster Linie derjenige es, der es theoretisch erfaßt, sondern derjenige, der es praktiziert: Er ist es, der es erkennt und der sich daher jedesmal, wenn es in Frage steht, dafür entscheidet.

Jetzt kommen wir also zum Prinzip des Geschenks in der Wirtschaft. Wie wirkt sich der Gesichtspunkt der Unentgeltlichkeit im wirtschaftlichen Handeln auf praktischer Ebene aus? Wenn man dem Prinzip der Unentgeltlichkeit einen vorrangigen Platz im Wirtschaftsleben zuerkennt, dann hat das eine Folge, die mit der Verbreitung der Kultur und der Praxis der Gegenseitigkeit zusammenhängt.

Ebenso wie die Demokratie ist die Gegenseitigkeit, die von Benedikt XVI. als »die innerste Verfassung des Menschen«[21] bezeichnet wird, ein Grundwert einer Gesellschaft. Man könnte sogar behaupten, daß die demokratische Regel ihren endgültigen Sinn aus der Gegenseitigkeit erhält.

An welchen »Orten« ist die Gegenseitigkeit zu Hause, wird sie also praktiziert und genährt? Die Familie ist der erste dieser Orte: Man denke an die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sowie zwischen Geschwistern. Im Umfeld der eigenen Familie entwickelt sich jene hinschenkende Beziehung, die für die Brüderlichkeit charakteristisch ist. Außerdem gibt es die Genossenschaft, das Gesellschaftsunternehmen und die verschiedenen Formen von Vereinigungen. Sind die Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Familie oder zwischen Teilhabern einer Genossenschaft etwa keine Beziehungen, die auf Gegenseitigkeit beruhen? Heute wissen wir, daß der zivile und wirtschaftliche Fortschritt eines Landes grundlegend davon abhängt, wie weit verbreitet unter seinen Bürgern die Praxis der Gegenseitigkeit ist. Es gibt heute einen enormen Bedarf an Zusammenarbeit: Daher ist es notwendig, die Formen der Unentgeltlichkeit auszubauen und jene, die bereits existieren, zu verstärken. Eine Gesellschaft, die die Wurzeln des Baumes der Gegenseitigkeit aus ihrem Territorium entfernt, ist zum Untergang bestimmt, wie die Geschichte uns schon seit langem lehrt.

Welche Funktion besitzt das Geschenk? Es soll verständlich machen, daß es neben den Gütern der Gerechtigkeit die Güter der Unentgeltlichkeit gibt und daß daher die Gesellschaft, in der man sich mit nur den Gütern der Gerechtigkeit begnügt, nicht wirklich menschlich ist.

Worin besteht der Unterschied? Die Güter der Gerechtigkeit entstehen aus einer Pflicht; die Güter der Unentgeltlichkeit entstehen aus einer »obbligatio«. Das heißt, es sind Güter, die aus der Erkenntnis heraus entstehen, daß ich an einen anderen gebunden bin, der in gewisser Weise ein Bestandteil meiner selbst ist. Daher kann die Logik der Unentgeltlichkeit nicht einfach auf eine rein ethische Dimension reduziert werden; die Unentgeltlichkeit ist nämlich keine ethische Tugend.

Die Gerechtigkeit ist, wie bereits Platon lehrte, eine ethische Tugend, und wir alle sind uns einig, daß die Gerechtigkeit große Bedeutung besitzt, aber die Unentgeltlichkeit betrifft vielmehr die überethische Dimension des menschlichen Handelns: Ihre Logik ist der Überfluß, während die Logik der Gerechtigkeit die Logik der Gleichwertigkeit ist. In der Enzyklika Caritas in veritate heißt es, daß eine Gesellschaft, die gut funktionieren und Fortschritte machen soll, im Wirtschaftsleben Subjekte braucht, die verstehen, was die Güter der Unentgeltlichkeit sind. Mit anderen Worten, man muß verstehen, daß es notwendig ist, das Prinzip der Unentgeltlichkeit wieder in die Kreisläufe unserer Gesellschaft einfließen zu lassen.

Benedikt XVI. fordert dazu auf, das Prinzip des Geschenks wieder in den öffentlichen Bereich zurückzutragen. Das echte Geschenk, das den Vorrang der Beziehung über die Freistellung bekräftigt, der zwischenmenschlichen Beziehung über das geschenkte Gut, der persönlichen Identität über den Nutzen, muß überall zum Ausdruck kommen können, in jedem Bereich des menschlichen Handelns, auch in der Wirtschaft. Die Enzyklika Caritas in veritate vermittelt uns die Botschaft, daß wir in der Unentgeltlichkeit, und daher auch in der Brüderlichkeit, das Merkmal des Menschseins erkennen und daher das Geschenk als unverzichtbare Voraussetzung für das Funktionieren von Staat und Markt in der Ausrichtung auf das Gemeinwohl betrachten können. Auch ohne das Schenken in großem Umfang zu praktizieren kann man einen effizienten Markt und einen einflußreichen (und sogar gerechten) Staat haben, aber sicherlich wird man den Menschen nicht zur Lebensfreude verhelfen. Denn auch Effizienz und Gerechtigkeit zusammen genügen nicht, um das Glück des Menschen zu gewährleisten.

Die Enzyklika Caritas in veritate beschäftigt sich mit den tieferen (und nicht mit den unmittelbaren) Ursachen der derzeitig anhaltenden Krise. Ich möchte sie nicht einzeln aufzählen und werde mich darauf beschränken, die drei Hauptfaktoren der Krise, die erkannt und untersucht werden, zusammenzufassen.

Der erste betrifft den radikalen Wandel in der Beziehung zwischen Finanz, Güterproduktion und Dienstleistung, der sich in den letzten dreißig Jahren konsolidiert hat. Seit Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts haben verschiedene westliche Länder ihre Rentenzusagen an Investitionen gekoppelt, die von der nachhaltigen Profitfähigkeit der neuen Finanzmittel abhingen. So wurde die Realwirtschaft den Wechselfällen der Finanz ausgesetzt und die wachsende Notwendigkeit erzeugt, zusätzliche Quoten zur Vergütung der in diese Finanzmittel investierten Ersparnisse zur Verfügung zu stellen. Der Druck auf die Unternehmen von seiten der Börsen und der »Private-Equity-Fonds« hat sich in mehrere Richtungen ausgewirkt: Auf die Manager, die veranlaßt wurden zu einer immer besseren Performance ihres Managements, um immer mehr Aktienoptionen zu erhalten; auf die Verbraucher, die überzeugt werden mußten, immer mehr zu kaufen, auch ohne die nötige Kaufkraft; auf die Wirtschaftsunternehmen, die zu einer Wertsteigerung für die Aktionisten gebracht werden mußten. So hat sich das ständige Drängen auf immer bessere finanzielle Ergebnisse auf das ganze Wirtschaftssystem ausgewirkt und ist schließlich zu einem echten Kulturmodell geworden.

Der zweite Faktor, durch den die Krise verursacht wurde, ist die Verbreitung des Ethos der Effizienz auf der Ebene der populären Kultur als letztes Kriterium zur Beurteilung und Rechtfertigung der wirtschaftlichen Realität. Das führte einerseits zur Legitimierung der Gier – der bekanntesten und meistverbreiteten Form des Geizes – als einer Art bürgerlicher Tugend: »greed market« anstelle von »free market«. »Greed is good, greed is right« (Gier ist gut, Gier ist richtig) predigte Gordon Gekko, der Protagonist des berühmten Films »Wall Street« aus dem Jahre 1987.

Schließlich widmet sich die Enzyklika Caritas in veritate auch der Ursache aller Ursachen für die Krise: dem besonderen kulturellen Verhaltensmuster, das sich in den letzten Jahrzehnten konsolidiert hat – im Zuge des Globalisierungsprozesses einerseits und durch das Aufkommen der dritten industriellen Revolution, der Revolution der infotelematischen Technologien, andererseits. Ein besonderer Aspekt dieses Verhaltensmusters betrifft die immer weiter um sich greifende Unzufriedenheit darüber, wie das Prinzip der Freiheit ausgelegt wird. Die Freiheit hat bekanntlich drei grundlegende Dimensionen: Autonomie, Immunität, Handlungsfähigkeit.

Autonomie bedeutet Entscheidungsfreiheit: Man ist nicht frei, wenn man nicht entscheiden kann. Immunität dagegen bedeutet, keinem Zwang durch einen äußeren Faktor unterworfen zu sein. Im Grunde genommen ist sie die negative Freiheit (oder die »Freiheit von«). Handlungsfähigkeit schließlich bedeutet Entscheidungsfähigkeit, also die Möglichkeit, die Ziele, die man sich setzt, wenigstens teilweise oder in gewissem Maße zu verfolgen. Man ist nicht frei, wenn man nie (oder nicht wenigstens teilweise) den eigenen Lebensplan verwirklichen kann.

Wie man unschwer erkennt, ist die Herausforderung, der es sich zu stellen gilt, die, alle drei Dimensionen der Freiheit unter einen Hut zu bringen: Aus diesem Grund ist das Paradigma des Gemeinwohls eine Perspektive, deren Erforschung ungemein interessant erscheint.

Im Licht des bisher Gesagten verstehen wir, warum die Finanzkrise kein unerwartetes oder unerklärliches Ereignis ist. Ohne den unverzichtbaren Eingriffen zur Regulierung und den notwendigen neuen Formen der Kontrolle etwas nehmen zu wollen, wird es uns dennoch nicht gelingen, das Auftreten ähnlicher Ereignisse in Zukunft zu verhindern, wenn das Übel nicht an der Wurzel gepackt wird, wenn also nicht in das kulturelle Verhaltensmuster, das das Wirtschaftssystem trägt, eingegriffen wird. Den Regierungsträgern übermittelt diese Krise eine zweifache Botschaft. Erstens: Die berechtigte Kritik gegenüber staatlichen Eingriffen kann nicht soweit gehen, dem Staat eine zentrale Rolle bei der Regulierung abzusprechen. Zweitens: Die öffentlichen Autoritäten auf den verschiedenen Regierungsebenen müssen der Entstehung und Stärkung eines pluralistischen Finanzmarktes zustimmen, ja einen solchen sogar fördern – einen Markt, auf dem Subjekte tätig sein können, die objektiv gleichberechtigt sind, sich aber unterscheiden in bezug auf das jeweilige Ziel, das sie mit ihrer Tätigkeit verfolgen. Ich denke an die Gebietsbanken, an die Kreditgenossenschaftsbanken, an die ethischen Banken, an die verschiedenen Ethikfonds. Es handelt sich dabei um Körperschaften, die ihren eigenen Filialen keine kreativen Finanzgeschäfte vorschlagen und die darüber hinaus vor allem eine ergänzende und somit ausgleichende Rolle einnehmen in bezug auf die Träger spekulativer Finanzgeschäfte. Wenn die Finanzautoritäten in den letzten Jahrzehnten die Subjekte alternativer Finanzgeschäfte von der Last vieler Auflagen befreit hätten, dann besäße die heutige Krise nicht das zerstörerische Potential, das wir jetzt erfahren.

Zum Abschluß möchte ich dem Präsidenten des Senats der Italienischen Republik, Herrn Abgeordneten Schifani, danken, daß er mir gestattet hat, dieser erlesenen Zuhörerschaft einige Aspekte der letzten Enzyklika Benedikts XVI. zu erläutern.

In gewisser Weise handelt es sich heute um eine Rückkehr des Heiligen Vaters in das Gebäude des Senats der Republik, wo der damalige Kardinal Joseph Ratzinger am 13. Mai 2004 in der Senatsbibliothek eine unvergessene »Lectio Magistralis« hielt, die unter dem Thema stand: »Europa und seine geistlichen Wurzeln gestern, heute und morgen.«

Interessanterweise berührte der zukünftige Papst in diesem Vortrag unter anderem einige Themen, die wir heute in seiner letzten Enzyklika wiederfinden. Denken wir zum Beispiel an die Worte über den tiefsten Grund der Würde der Person und ihrer Rechte. Der damalige Kardinal Ratzinger sagte, daß »sie weder vom Gesetzgeber geschaffen noch dem Bürger verliehen [werden], sondern ›sie existieren vielmehr aus eigenem Recht heraus, müssen von Seiten des Gesetzgebers stets respektiert werden und sind ihm als Werte höherer Ordnung vorgegeben‹. Diese vorrangige Gültigkeit der Menschenwürde vor jedem politischen Handeln und vor jeder politischen Entscheidung verweist letztlich auf den Schöpfer: er allein kann Werte festlegen, die auf dem Wesen des Menschen basieren und unantastbar sind. Die Existenz von Werten, die von niemandem manipuliert werden können, ist die eigentliche Garantie unserer Freiheit und der menschlichen Größe; der christliche Glauben sieht darin das Geheimnis des Schöpfers und der Ebenbildlichkeit, die Gott dem Menschen gegeben hat.« In der Enzyklika Caritas in veritate wiederholt Benedikt XVI.: »Die Menschenrechte laufen Gefahr nicht geachtet zu werden«, wenn sie »ihres transzendenten Fundaments beraubt werden«,[22] wenn man also eines vergißt: »Gott ist der Garant der wahren Entwicklung des Menschen, denn da er ihn nach seinem Bild geschaffen hat, begründet er auch seine transzendente Würde.«[23]

In der »Lectio Magistralis«, die er vor nunmehr fünf Jahren hielt, erinnerte der jetzige Papst daran, daß »ein zweiter Punkt, in dem die europäische Identität aufscheint, die Ehe und Familie ist. Die monogame Ehe als grundlegende Struktur der Beziehung zwischen Mann und Frau und zugleich als Keimzelle der staatlichen Gesellschaft hat sich auf der Grundlage des biblischen Glaubens herausgebildet. Sie hat Europa, sowohl im Westen als auch im Osten, sein besonderes Antlitz und seine besondere Humanität verliehen, auch und vor allem weil die hier aufgezeigte Form der Treue und Entsagung unter vielen Mühen und Entbehrungen immer wieder neu erobert werden mußte. Europa wäre nicht mehr Europa, wenn diese grundlegende Zelle ihres sozialen Gebäudes verschwände oder grundlegend verändert würde.«

In der Enzyklika Caritas in veritate wird diese Mahnung auf die universale, die globale Ebene erhoben, und sie ergeht an alle Verantwortlichen des öffentlichen Lebens. Es heißt dort: »Daher wird es zu einer sozialen und sogar ökonomischen Notwendigkeit, den jungen Generationen wieder die Schönheit der Familie und der Ehe vor Augen zu stellen sowie die Übereinstimmung dieser Einrichtungen mit den tiefsten Bedürfnissen des Herzens und der Würde des Menschen. In dieser Hinsicht sind die Staaten dazu aufgerufen, politische Maßnahmen zu treffen, die die zentrale Stellung und die Unversehrtheit der auf die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau gegründeten Familie, der Grund- und Lebenszelle der Gesellschaft, dadurch fördern, indem sie sich auch um deren wirtschaftliche und finanzielle Probleme in Achtung vor ihrem auf Beziehung beruhenden Wesen kümmern.«[24]

Die Enzyklika Caritas in veritate ist natürlich, wie es in ihrem offiziellen Titel heißt, an alle Glieder der katholischen Kirche und »an alle Menschen guten Willens« gerichtet. Dennoch glaube ich, daß dieses päpstliche Dokument – das zunächst mit großer Vorfreude erwartet wurde und dem dann besonders im sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bereich viel Aufmerksamkeit und Anerkennung zuteil wurde – aufgrund der Prinzipien, die es deutlich macht, der Probleme, die es aufgreift und der Weisungen, die es bietet, hier in dieser Institution, im Senat der Republik, besonderes Echo finden kann. Ich bin überzeugt, daß trotz der unterschiedlichen Hintergründe und persönlichen Überzeugungen diejenigen, die die schwierige und ehrenvolle Verantwortung tragen, das italienische Volk zu vertreten und während ihres Mandats die gesetzgebende Gewalt auszuüben, in den Worten des Papstes tiefe Inspiration finden für die Erfüllung ihrer Sendung, um angemessen zu antworten auf die ethischen, kulturellen und sozialen Herausforderungen, die heute an uns gestellt werden und die die Enzyklika Caritas in veritate uns sehr deutlich und vollständig vor Augen führt. Mein Wunsch ist, daß dieses Dokument des kirchlichen Lehramts, das ich Ihnen heute wenigstens teilweise zu erläutern versucht habe, hier im Senat die Aufmerksamkeit finden möge, die es verdient, um gute und reiche Frucht zu tragen für das Wohl jedes Menschen und der gesamten Menschheitsfamilie, begonnen bei der geliebten italienischen Nation.


Anmerkungen

[1] Caritas in veritate, 1

[2] Ebd.

[3] Ebd., 3.

[4] »Die Wahrheit ist ein Licht, das der Liebe Sinn und Wert verleiht. Es ist das Licht der Vernunft wie auch des Glaubens, durch das der Verstand zur natürlichen und übernatürlichen Wahrheit der Liebe gelangt« (ebd.)

[5] Ansprache von der UN-Vollversammlung, 18. April 2008.

[6] Alla ricerca di un’etica universale: nuovo sguardo sulla legge naturale, 45.

[7] Ebd., Nr. 46.

[8] Ebd., Nr. 50.

[9] Ansprache in der Universität Regensburg, 12. September 2006.

[10] Caritas in Veritate, 2

[11] Ebd., 6.

[12] Ebd., 5.

[13] »Die Wahrheit, die wie die Liebe ein Geschenk ist, ist, so lehrt der heilige Augustinus, größer als wir. Auch die Wahrheit über uns selbst, über unsere eigene Erkenntnis, ist uns zu aller erst ›geschenkt‹. Denn in jedem Erkenntnisvorgang wird die Wahrheit nicht von uns erzeugt, sondern immer gefunden, oder besser, empfangen. Die Wahrheit kommt wie die Liebe ›nicht aus Denken und Wollen, sondern übermächtigt gleichsam den Menschen‹« (Caritas in Veritate, 34).

[14] Ebd., 9.

[15] Ebd., 36.

[16] Ebd., 34.

[17] Vgl. Ebd., 35-39

[18] Ebd., 53-54.

[19] Ebd., 9.

[20] Vgl. Veritatis Splendor, 78.

[21] Ebd., 57

[22] Ebd., 56.

[23] Ebd., 29.

[24] Ebd., 44.

 

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