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ERÖFFNUNG DES GERICHTSJAHRES DES STAATES DER VATIKANSTADT

PREDIGT VON KARD. TARCISIO BERTONE,
STAATSSEKRETÄR DES HEILIGEN VATERS

Samstag, 14. Januar 2012

 

Liebe Brüder und Schwestern!

Ich danke Herrn Professor Giuseppe Dalla Torre von Herzen für seine Einladung an mich, aus Anlaß der Eröffnung des Gerichtsjahres am Gerichtshof des Staates der Vatikanstadt heute hier mit Ihnen die Eucharistie zu feiern. Gleichzeitig danke ich auch mit besonderer Zuneigung Seiner Exzellenz Erzbischof Giuseppe Bertello und beglückwünsche ihn dazu, daß der Heilige Vater ihn unter diejenigen aufgenommen hat, die ab dem nächsten Konsistorium dem Kardinalskollegium angehören werden. Ich begrüße Seine Exzellenz Bischof Giuseppe Sciacca und alle Anwesenden.

Wir feiern, wie es für diesen Anlaß sehr angebracht  ist, die Votivmesse des Heiligen Geistes, indem wir auf jede unserer Tätigkeiten seinen ständigen und fürsorglichen Beistand herabrufen, auf daß wir jeden Tag mehr lernen, der Heiligen Kirche Gottes und dem Wohl unserer Brüder immer besser und wirksamer zu dienen. Der Heilige Geist, Spender jeder vollkommenen Gabe, unterstütze uns, damit – wie es das schöne liturgische Gebet sagt – »in uns nicht unser Streben vorherrsche«, sondern sein wohltuendes, notwendiges und bewährtes Wirken, das uns fähig macht, an jede Frage mit Geduld und Weisheit heranzugehen, damit wir gemäß unserer besonderen Aufgabe mit Redlichkeit und Wahrhaftigkeit urteilen können.

Wenn wir auf die biblischen Lesungen eingehen, die die heutige Liturgie vorlegt, möchte ich vor allem das hervorheben, woran uns das Erste Buch Samuel soeben erinnert hat: »Das ist der Mensch, von dem ich gesprochen habe; er wird mein Volk führen.« Mit diesen Worten spricht Gott in der ersten Lesung den Willen aus, sich unter den Israeliten einen Mann zu erwählen, der imstande ist, ihn zu vertreten und durch die Hand Samuels Saul als Führer Israels salben zu lassen. Diese Salbung wies gleichsam auf eine Art Verwandlung desjenigen hin, den Gott erwählt hatte, ließ ihn aber gleichzeitig weiterhin allen Grenzen und aller menschlichen moralischen Unbill unterworfen bleiben. Wie es Gott mit Saul, David und anderen Erwählten gemacht hat, so bedient er sich auch heutzutage menschlicher Werkzeuge, um seinen Willen kundzutun, um seine Pläne zu verwirklichen; und er hört im Laufe der Ereignisse und der Geschichte seines Volkes nicht auf, über diejenigen zu wachen, die er erwählt und heiligt. In diesem Zusammenhang müssen wir daran erinnern, daß das Sakrament der Taufe, das dann durch die Firmung bestätigt wird, allen Mitgliedern der Kirche die priesterliche, prophetische und königliche Würde verleiht, mit der sie in Verbundenheit mit Christus und seiner Heilssendung die Verpflichtungen ihres Standes erfüllen können.

Auch die Stelle aus dem Evangelium erzählt uns die Geschichte einer Erwählung, einer Wahl, die Jesus in bezug auf einen Mann vollzieht: die Berufung des Zöllners Matthäus, ihm aus nächster Nähe zu folgen. Im Gegensatz dazu nehmen wir in dieser Szene das anmaßende Verhalten der Pharisäer wahr, die Jesus negativ beurteilen, weil er sich zusammen mit Zöllnern und anderen Sündern an einen Tisch setzte. In den Evangelien gibt es viele Episoden, die diesen Gegensatz zwischen den zwei Haltungen darstellen: einerseits der von den Pharisäern vertretenen sogenannten menschlich »gerechten« Haltung – sie geben vor, alle aus einer Position der Sicherheit, die auf dem Besitz und der Einhaltung des Gesetzes Gottes beruht, einzuschätzen; und anderseits der Haltung Jesu, welche die göttliche Gerechtigkeit verkörpert, die ganz von der Liebe und dem Willen beseelt ist, den zu suchen und zu retten, der vom rechten Weg abgekommen ist.

Jeder von uns ist versucht, im Alltagsleben ein Verhalten der Abgrenzung von den Sündern an den Tag zu legen, vielleicht nicht der physischen Abgrenzung, aber doch eine innere Haltung, die uns dazu drängt, uns zum Maßstab der anderen zu machen, so als wären wir dazu berechtigt, sie zu beurteilen. Wir wissen jedoch sehr wohl, daß wir tatsächlich gerechtfertigt sind, aber nicht auf Grund unserer Verdienste. Wir sind Sünder, die unverdienter Weise gerechtfertigt wurden: Sünder, denen ohne unser Zutun vergeben wurde, weil das Heil – wie uns der Abschnitt aus dem Evangelium in Erinnerung ruft – Geschenk Gottes ist, der Jesus Christus als Arzt für die Kranken und als Erlöser für die Sünder gesandt hat.

Gewiß obliegt jedem von uns die Verantwortung, dieses Geschenk anzunehmen, auf diesen Anruf zu antworten, wenn Jesus vorbeigeht und sich auf unseren menschlichen Weg begibt. Während wir uns also nachdenklich auf alles besinnen, was der Herr Jesus für uns getan hat, leben und praktizieren auch wir, angeleitet von seinem Beispiel und getragen von seiner Gegenwart, die Barmherzigkeit; dabei sind wir von dem Wunsch erfüllt, daß alle dem wahren Arzt der Seelen begegnen können. Wenn wir uns hingegen für »gesund« und »gerecht« halten, schließen wir uns von selbst aus dem Wirkungskreis Christi aus.

Alles, worüber uns das Wort Gottes an diesem Morgen nachdenken läßt, hilft uns auch, das Umfeld und die Bedeutung dieses unseres heutigen Gottesdienstes besser zu verstehen, der aus Anlaß des Beginns des vor uns liegenden neuen Gerichtsjahres gefeiert wird. Auf der Wellenlänge des Wortes Gottes, das wir gehört haben, vor allem auf der von Jesus in der Episode des Evangeliums gezogenen Spur, werden wir von neuem aufgefordert, über die Beziehung zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit nachzudenken, unser Gewissen erleuchten zu lassen, damit unser Tun, soweit als möglich, dem göttlichen Willen, seinem Liebesplan für jeden einzelnen und für die Gemeinschaft der Menschen entspreche.

Gerade der Anlaß, der uns heute hier versammelt sein läßt, erinnert uns an die besondere Berufung der Kirche, Gemeinschaft der Menschen zu sein, die dazu berufen ist, in der Welt Zeichen und Werkzeug der Liebe Gottes, seiner Gerechtigkeit zu sein, die immer Ausdruck seiner barmherzigen Liebe ist. Dieser Auftrag zur Vorbildlichkeit, der in erster Linie die kirchlichen Gemeinschaften im eigentlichen Sinn, das heißt die Familien, die Pfarreien und die verschiedenen Zusammenschlüsse für das Apostolat angeht, betrifft in besonderer Weise auch jene einzigartige Institution, die der Staat der Vatikanstadt darstellt. Da wir uns dieser ernsten Verpflichtung bewußt sind, dürfen wir nie aufhören, den Herrn um die erforderlichen Gnaden zu bitten, um in diesem unserem Staat die Soziallehre der Kirche, so wie  sie uns vom Lehramt der Päpste seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zu den jüngsten Lehrschreiben des sel. Johannes Paul II. und des Heiligen Vaters Benedikt XVI. aufgetragen worden ist, möglichst vollkommen umzusetzen und einzuhalten.

Die heutige heilige Messe soll deshalb Anlaß dazu sein, uns vor jenen Spiegel zu stellen, den die Kirche mit der Weisheit, die ihr von der Befolgung des göttlichen Gesetzes zukommt, als ihre Soziallehre erarbeitet hat und die unablässig auf eine Ordnung hinweist, in der die menschlichen Grundwerte die Rechte und Pflichten, die unverzichtbaren Bezugspunkte für die Erarbeitung persönlicher und sozialer Verhaltensregeln, darstellen. So wird es in unserem Staat von jedem einzelnen Christen in seiner konkreten Lebensform verlangt; und mehr noch: man kann sich nicht damit zufrieden geben, das Ideal zu verkünden und die allgemeinen Grundsätze geltend zu machen. Man muß in die Vielschichtigkeit der Fragen und Probleme eintreten, indem man sämtliche mögliche Umsetzungen der vom Evangelium aufgetragenen Gebote in einem organischen und konsequenten Rahmen von Freiheit und Gerechtigkeit fördert. Die Aufgabe der Kirche, an jedem Ort und zu jeder Zeit die grundlegenden Rechte und Pflichten des Menschen zu verkünden und zu verteidigen, verpflichtet sie dazu, mit Gottes Gnade auch auf diesem Gebiet in jeder ihrer Einrichtungen beispielgebend zu sein. Und das gilt, den spezifischen Bedingungen gemäß auch für den Staat der Vatikanstadt. Deshalb wirkt der Dienst all derer, die zur Verwaltung der Gerechtigkeit in diesem Staat berufen sind, an dieser Zielsetzung mit, die im weiteren Sinn zum Auftrag der Zeugenschaft der Kirche in der Welt gehört.

Die Jungfrau Maria, »Speculum iustitiae«, die in dieser Kapelle als Mutter der Familie angerufen wird, helfe uns, uns immer wieder vom Wort Gottes und von der heiligen Eucharistie erneuern zu lassen, damit wir wie der hl. Matthäus auf den Anruf des Herrn Jesus antworten und ihm mit Begeisterung und Treue folgen können. Maria helfe uns auch, beseelt vom echten Geist des Evangeliums, unsere tägliche Arbeit zu erfüllen, indem wir die notwendigen Anforderungen der Gerechtigkeit mit jenen der christlichen Barmherzigkeit in Einklang bringen und dabei immer bei dem persönlichen Vorbild beginnen, das jeder zu geben berufen ist. Sie, die Vermittlerin jeder Gnade und jeder Gabe, erwirke uns alles, was wir benötigen, um unseren Dienst zu erfüllen.

 

 

 

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