Zweite Sonderversammlung für Europa, 1998: Lineamenta
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BISCHOFSSYNODE

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ZWEITE SONDERVERSAMMLUNG FÜR EUROPA

JESUS CHRISTUS DER LEBT IN SEINER KIRCHE

QUELLE DER HOFFNUNG FÜR EUROPA

LINEAMENTA

Vatikanstadt

1998


© Copyright 1997 - Generalsekretariat der Bischofssynode und Vatikanische Verlagsanstalt

Dieser Text darf nur von den Bischofskonferenzen oder mit ihrer Genehmigung gedruckt oder verbreitet werden und unter der Bedingung, dass der Inhalt in keinster Weise verändert wird und dass zwei Kopien dem Generalsekretariat der Bischofssynode zugestellt werden, 00120 Città del Vaticano


EINFÜHRUNG

Ihrer Aufmerksamkeit ist gewiss nicht entgangen, dass der Heilige Vater im Apostolischen Schreiben Tertio millennio adveniente unter Nr. 21 und Nr. 38, wo er die »Reihe der Synoden« ankündigt, die das Thema Evangelisierung behandeln, seine Absicht bekundet, kontinentale Synoden für Amerika, Asien und Ozeanien abzuhalten, ohne einen Hinweis auf andere synodale Initiativen. Erst während seiner Pastoralreise in Deutschland kündigte er in seiner Ansprache vor dem Angelusgebet in Berlin am 23. Juni 1996 die Einberufung einer zweiten Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa an.

Dieser Beschluss verdient höchste Beachtung wegen des Zeitpunkts und des Ortes, aber vor allem wegen seiner kirchlichen und pastoralen Bedeutung.

In der Chronik der Kirche ist in der Tat nicht leicht etwas Ähnliches zu finden, zumindest nicht in jüngerer Zeit. Die Synode ist zwar eine noch junge Einrichtung in der Kirche, und es wäre daher unpassend, in ihrem Bereich historische Vergleiche für einen längeren Zeitraum zu suchen. Aber die Tatsache, dass in kurzem Zeitabstand zweimal eine volle Synodenversammlung sich mit ein und demselben Kontinent befassen muss, ist durchaus etwas Ungewöhnliches.

Dieser zeitliche und geographische Akzent, der aussergewöhnliche und umwälzende Ereignisse besonders deutlich in Erinnerung ruft, weist auf eine andersartige Dringlichkeit hin, die geistlicher und theologischer Natur ist, in Anbetracht der res novae, für die Berlin das Symbol war. Sie umfassten Gesellschaft und Kirche gleichermassen und beanspruchten sehr stark die Fähigkeit der Unterscheidung sowie das Gewissen der Hirten und der ganzen Gemeinschaft der Gläubigen.

Aus dieser Dringlichkeit ist die Einberufung der zweiten Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa entstanden.

Jetzt, da die Ortskirchen in Europa anhand dieses Dokuments der Lineamentaeingeladen werden, sich umgehend auf diese Versammlung vorzubereiten, ist es notwendig, besonders auf den Anlass der Einberufung zu achten, die Zielsetzungen im Sinn des Heiligen Vaters zu erwägen und die Denkrichtungen und konkreten Verhaltensweisen zu erfassen, die sich in den verschiedenen Bereichen zeigen, damit der Synode die wirklichen Dringlichkeiten und Bestrebungen dargelegt werden können im Hinblick auf eine Pastoraltätigkeit, die dem Wohl der Kirche in Europa entspricht.

Der vorliegende Text soll in den Ortskirchen die Reflexion über ihre besondere Beschaffenheit im ganzen geographischen Bereich des europäischen Raumes, »vom Atlantik bis zum Ural«, anregen. Es geht darum, dass man sich der in den Lineamenta enthaltenen Ausgangspunkte und Hinweise bedient, um dann die Aufmerksamkeit auf die zahlreichen Anfragen der kleinen Gemeinden oder der groben Zentren zu lenken und der Synode die jeweiligen geistlichen Bedürfnisse jedes einzelnen Teilstücks der Kirche in Europa darzulegen.

Weil Europa jetzt mehr denn je seine Ganzheit spürt, ist es recht, dass alle seine Bischöfe sich in zwei Synodenversammlungen treffen, um ihm ihre ganze pastorale Sorge zu widmen. Aber dem muss eine eingehende Beratung der verschiedenen Instanzen in den einzelnen Diözesen und Gemeinschaften vorausgehen, die Europa endlich in seiner ganzen geographischen und kirchlichen Ausdehnung einbezieht. Denn der Erfolg einer Synode hängt von einer umfassenden und gründlichen Vorbereitung der Teilkirchen ab. Das um so mehr, weil man bei der ersten Synodenversammlung für Europa auf Grund der äussersten Dringlichkeit der Abhaltung der Synode und der besonderen Situation der Kirchen in Mittel- und Osteuropa, die kurz zuvor die wohlbekannten Bedrängnisse überwunden hatten, nicht leicht eine allgemeine Beratung durchführen konnte.

Diesen Zweck sollen nun die vorliegenden Lineamenta erfüllen. Sie bieten nach einer Zusammenfassung des vom Heiligen Vaters gewählten Themas: »Jesus Christus, der lebt in seiner Kirche, Quelle der Hoffnung für Europa«, einen Fragebogen an, der zu Antworten auf die wichtigsten Fragen der Teilkirchen anregen will. Aus diesen Antworten wird man die Anliegen ersehen können, die der Synode durch die direkte Beteiligung der verschiedenen kirchlichen Stellen vorgelegt werden.

Ein Höchstergebnis der Anzahl und Qualität der Antworten wird erreicht werden, wenn es gelingt, von allen Ortskirchen aus zusammen mit der aufmerksamen Überprüfung des eigenen Weges den Blick auch über die eigenen Grenzen hinaus zu werfen; aber das soll nicht in nachspionierender Absicht, sondern im Geist der »Weggemeinschaft« der ganzen Kirche in Europa mit dem katholischen Sinn des »Gabenaustausches« und der Teilnahme an den Sorgen der Brüder und Schwestern geschehen, indem einer des anderen Last trägt (vgl. Gal 6,2), das heibt konkret, dass man mit den Antworten auch Hinweise auf die verschiedenen Situationen in Europa im allgemeinen gibt, wie sie im eigenen Bereich und in der eigenen Ortskirche empfunden und beobachtet werden.

Die Wirksamkeit der Antworten wird ihrer Zuverlässigkeit dem Fragenbogen gegenüber entsprechen, das heisst, sie werden reichhaltig und aufrichtig sein, wenn die Fragen so verstanden werden, als zielten sie genau auf die Situationen vor Ort ab. Aber das hindert nicht, einzelne Themen, die in den Lineamenta oder im Fragebogen nicht enthalten oder nur angedeutet sind, ebenfalls frei und offen darzulegen und zu behandeln.

Die Antworten müssen dem Generalsekretariat der Bischofssynode bis 1. November 1998 von den gewöhnlich berechtigten Organismen zugesandt werden, das heisst von den Orientalischen Kirchen, den Bischofskonferenzen oder ähnlichen bischöflichen Körperschaften, von den Dikasterien der Römischen Kurie und von der Vereinigung der Generaloberen.

Es ist wünschenswert, in den Diözesen und in den Gemeinschaften eigene Initiativen zu fördern, damit die Lineamentaweit verbreitet, bedacht und erörtert werden im Hinblick auf eine vollständige gemeinschaftliche Antwort. Das alles wird leichter gelingen, wenn die Dialogforen, die das II. Vatikanische Konzil in den Teilkirchen vorgesehen hat, mit einbezogen und angeregt werden. Das wird der erste Schritt auf dem synodalen Weg sein.

Wenn das Dokument der Lineamenta gute Aufnahme und günstiges Echo unter Teilnahme und Fürbitte aller findet, wird es eine günstige Gelegenheit bieten, um schon auf der ersten Stufe der synodalen Erfahrung zu verkosten, dass Jesus, der Herr, Quelle der Hoffnung für Europa und für alle seine Völker ist.

Jan P. Kard. SCHOTTE, c.i.c.m.

Generalsekreträr


EINLEITUNG

1. Bevor er zur Rechten des Vaters zurückkehrte, versicherte Jesus, der Herr, die elf Jünger seiner ständigen Gegenwart zur Unterstützung ihrer Sendung (vgl. Mt 28,18-20). Doch bald nach seiner Auferstehung, ja »am gleichen Tag« (Lk 24,13) nahm er diese Verheibung, die er erst vor seiner Himmelfahrt ankündigen sollte, durch sein konkretes Eingreifen vorweg.

Am Tag der Auferstehung trat Jesus zu »zwei von den Jüngern« (ebd.), die gegen Abend betrübt und mit traurigem Herzen auf dem Heimweg waren. Ihre Worte zeigten deutlich die ganze Trauer, die alle Hoffnung aus ihrem Leben ausgelöscht hatte: »Wir hatten . . . gehofft« (ebd. 24,21). Von der Vergangenheit, die von Zuversicht und Erwartung erfüllt gewesen war, blieb nur eine traurige Erinnerung übrig.

Der Herr, der den zweien »in einer anderen Gestalt« (Mk 16,12) erschienen war, verbarg sich zunächst vor ihren Augen, die »mit Blindheit geschlagen« waren (Lk 2,16). Er war aber — obwohl in verhüllter Weise – mit seiner Person und vor allem seinem Wort gegenwärtig, in dem er ihnen darlegte, »was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht« (Lk 24,27).

Diese physische Begleitung, die exegetische Gegenwart wurde, war Offenbarung eines Wortes, das nach und nach ihr Herz in Zuversicht entbrennen lieb (vgl. Lk 24,32), bis es die beiden pädagogisch zur vollen Enthüllung der Person des Auferstandenen geführt hatte (vgl. ebd. 24,31). Der Weg nach Emmaus war die erste Neuevangelisierung durch Jesus, den Herrn, den Rabbì der Anfänge, der jetzt zu seiner immerwährenden Mission als vom Vater gesandter Lehrer und Meister auferstanden war.

Die Begebenheit der zwei Jünger von Emmaus ist für die Kirche in Europa beispielgebend für ihre eigene jetzige Erfahrung als ein Erdteil, der seit zweitausend Jahren einen Weg geht, der durch das in ihm verbreitete und tief in ihn eingedrungene Wort erhellt wird. Während sich der epochale Beginn des dritten Jahrtausends nähert, spürt Europa, zwar noch im Vollbesitz ausserordentlicher Zeichen des Glaubenszeugnisses, wie sehr die Geschichte durch vielfache Spannungen an den innersten Herzfasern der Völker gezehrt und somit oftmals enttäuscht hat. Dennoch überlässt sich Europa nicht unwiderruflich der Hoffnungslosigkeit. Die christlichen Wurzeln bestehen weiter, und vor allem die Gegenwart des Wortes des Herrn beibt, der nicht müde wird, den Weg Seite an Seite mit den Völkern zu gehen, während er die Gnade einer neuen Offenbarung seiner Person dem kairos, den nur er kennt, vorbehält.

Eine solche Neuoffenbarung, eine solche Neuevangelisierung wird die Hoffnung neu entfachen. Und der durch diesen Neuantrieb bekräftigte Glaube wird den ursprünglichen Mut wiedererwecken, um den Völkern zu verkünden: »Der Herr ist wirklich auferstanden!« (Lk 24,34).

2. Das Geheimnis des Wortes und der Gegenwart Jesu Christi, der in seiner Kirche lebt, nährt in ihr die Gemeinschaft und stützt für immer ihre Sendung.

Vor seiner Rückkehr in den Himmel zur Rechten des Vaters trat Jesus zu den elf Aposteln und sagte zu ihnen: »Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde. Darum geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt« (Mt 28,18-20).

Der Meister, mit seiner ganzen Vollmacht bekleidet, beauftragt mit diesen Worten die Jünger, die auf diese Weise Apostel geworden waren, zu den Völkern zu gehen und alle Menschen zu seinen Jüngern zu machen, sie zu taufen und sie die Befolgung seiner Gebote zu lehren, während er ihnen seine Gegenwart und seinen Beistand für immer zusichert (vgl. Mk 16,20).

So entsteht die Berufung der Kirche, die ihren Ursprung im Geheimnis des Herrn hat, der gestorben, auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist, und durch das Band der Communio ausgeübt wird und sich in der Heilssendung aller ausbreitet.

Diese Kirche, die zu den Völkern gehen soll, hat an den Geschehnissen der Menschheit teil und lebt mit ihr. Inmitten der Menschheitsfamilie möchte die Kirche erneut die ewige Botschaft Jesu Christi verkünden, in dem die Quelle des Lebens und der Hoffnung ist.

Die enge Verbundenheit der Kirche mit der Völkergemeinschaft kommt deutlich in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute des II. Vatikanischen Konzils mit folgenden Worten zum Ausdruck: »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände. Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist. Darum erfährt diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden«.(1)

Diese Befindlichkeit der universalen Kirche tritt heute in ganz Europa besonders deutlich zutage, so wie es aussenstehende Beobachter, aber hauptsächlich die Menschen vor Augen haben, die nach den jüngst geschehenen ungeheuren staatlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Umwälzungen in Europa leben, dort leiden, sich freuen und hoffen.

3. Nun haben nach diesen denkwürdigen Ereignissen andere tiefgreifende Wandlungen die Völker in der europäischen Familie der Nationen erfasst. Aus diesem Grund wollte der Heilige Vater im Hinblick auf das nahende dritte Jahrtausend die »Reihe von Synoden«(2) noch durch eine zweite Versammlung für Europa ergänzen.

Während seiner Pastoralreise in Deutschland sagte Johannes Paul II. vor dem Angelusgebet am 23. Juni 1996 in Berlin: »Von dieser berühmten Stadt aus, die in ganz besonderer Weise das Schicksal der europäischen Geschichte dieses Jahrhunderts erfahren hat, möchte ich der ganzen Kirche meine Absicht ankündigen, eine zweite Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa einzuberufen. Sie soll zusammen mit ähnlichen Synodenversammlungen in anderen Erdteilen die Vorbereitung auf das Grosse Jubiläum des Jahres 2000 unterstützen (vgl. Tertio millennio adveniente, Nr. 38). Nach den bekannten Ereignissen von 1989 und den neuentstandenen Gegebenheiten nach dem Fall der Mauer, die gerade in dieser Stadt errichtet worden war, schien ein Nachdenken unter Vertretern der Bischofskonferenzen des Kontinents notwendig. Diese Aufgabe nahm die Sonderversammlung von 1991 wahr. Die weiteren Entwicklungen der nachfolgenden fünf Jahre in Europa legten die passende Gelegenheit nahe für ein neues Treffen mit den Vertretern der europäischen Bischöfe zum Zweck einer eingehenden Überprüfung der kirchlichen Lage im Hinblick auf den bevorstehenden Jubiläumstermin. Es ist notwendig, dahingehend zu wirken, dass die gewaltigen geistlichen Kraftreserven des Kontinents in allen Breiten wirkliche Entfaltung finden und die Voraussetzungen für eine Epoche der wahren Wiedergeburt auf religiöser, wirtschaftlicher und sozialer Ebene geschaffen werden. Dies wird Frucht einer neuen Verkündigung des Evangeliums sein«.(3)

Als Papst Johannes Paul II. am 22. April 1990 in Velehrad die Einberufung der ersten Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa verkündete, tat er das mit Worten, die seine Aufmerksamkeit für die aussergewöhnlichen Geschehnisse bewiesen, die sich in jenen Jahren im mittel- und osteuropäischen Raum ereigneten, und zeigte damit, dass er die Berufung der Hirten, die Zeichen der Zeit zu erforschen, befolgt.(4)

Das gleiche pastorale Verantwortungsbewusstsein wird heute von den europäischen Bischöfen verlangt, weil neue Entwicklungen in Europa neue Dringlichkeiten aufgezeigt haben und neue Initiativen erforderlich machen.

Die Ereignisse von 1989, die im ersten Augenblick der Begeisterung mit einem Schlag so viele gesellschaftliche, kulturelle und geistliche Krisensituationen gelöst zu haben schienen, waren in Wirklichkeit nichts anderes als das plötzliche Öffnen einer Tür zu einem riesigen Raum, in dem die verschiedenen Völker mit einem Mal alte, seit langem unterdrückte Fähigkeiten wiederentdeckten und selbständig ihren eigenen Weg zu gehen begannen. Diese ausgedehnte Bewegung der wiedererlangten Freiheit konnte sich natürlich nicht auf die Herkunftsländer beschränken und erschütterte irgendwie das ganze übrige Europa, weil sie auch die anderen Völker vor neue Bedingungen stellte, die seither nicht mehr in den von einem unterdrückenden Regime aufgezwungenen Schranken verborgen werden konnten.

Europa fand sich also geographisch erweitert, aber zugleich in dramatischer Weise einer Reihe schwerwiegender Anforderungen, »neuen Gefahren und neuen Bedrohungen« und vor allem den Nationalismen (5) ausgesetzt.

Dies sind die Neuheiten, die der Heilige Vater im Licht der Geschichte und des Heiligen Geistes, der in der Geschichte in geheimnisvoller Weise handelt, erforscht hatte, als er beschloss, diese zweite Synodenversammlung für Europa einzuberufen, als handle es sich um einen Augenblick, den es eifrig zu nutzen gelte, damit dieser Kontinent nun in seiner ganzen freien geographischen Ausdehnung alle seine Kräfte für seine ganzheitliche Wiedergeburt einsetzen kann.

Zeichen dieser Neuheiten sind auch andere Phänomene, die nun in ganz Europa anzutreffen sind: der Materialismus, die agnostische Gleichgültigkeit, die neue Mentalität in den Ländern, die aus der totalitären Unterdrückung hervorgegangen sind, die Komplexität der Gesellschaft mit den Begleiterscheinungen des religiösen Subjektivismus und des relativistischen Individualismus, das Statut der Wahrheit im Pluralismus, die Überbewertung der Subjektivität und der Toleranz, die Versuchungen der Gnosis in der Kultur, besonders durch die naturalistischen pantheistischen Bewegungen.

Pflichtgemäss sind aber auch andere neue Elemente in der europäischen Erfahrung hervorzuheben, zum Beispiel der Dialog mit der europäischen Kultur, der auf der Tatsache gründet, dass die Lehre von der Schöpfung, der Erlösung und der Gemeinschaft mit Gott höher steht als der Relativismus oder naturalistische Pantheismus; das Katechumenat der Erwachsenen, die Suche nach Spiritualität im politischen und gesellschaftlichen Leben, die neue Wirklichkeit der Familie, der Schutz des Lebens in seiner ganzen natürlichen Spannweite. Diese Elemente öffnen den Weg zur Hoffnung, die sie in sich bergen und die sie für die Zukunft Europas aufscheinen lassen.

4. Den Vätern, die sich zur Synode versammeln werden, wird mit immer grösserer Dringlichkeit die Aufgabe gestellt, über die Verkündigung des Evangeliums nachzudenken, in treuer Erfüllung des Auftrags des Herrn und als kirchlicher Dienst, der den europäischen Völkern angeboten wird.

Es handelt sich um eine Verkündigung, die mit neuem Sendungsbewusstsein in einem Erdteil ausgeübt werden soll, der tiefe und deutliche Zeichen aufweist, die wirksame und gehorsame Antworten auf das erfordern, was der Heilige Geist jetzt kurz vor Beginn des dritten Jahrtausends nach Christus der Kirche durch die Erfahrungen der einzelnen Teilkirchen in Europa sagt.(6)

Dieser Gedanke, den der Heilige Vater bei der Vorbereitung auf die erste Synodenversammlung für Europa zum Ausdruck gebracht hat, steht in enger Beziehung zur zweiten Versammlung, weil er beide auf den chronologischen und prophetischen Punkt ausrichtet: auf jene Schwelle der Hoffnung am Eingang zum dritten Jahrtausend, den Zeitpunkt eines christologischen Gedächtnisses, bezogen auf die geschichtliche Geburt des Wortes Gottes, das für alle Jahrhunderte und Jahrtausende Mensch geworden, Heil geworden ist.

Die zwei Versammlungen sind ausserdem durch das Gebot der Verkündigung miteinander verbunden, die zu allen Zeiten und unter allen geschichtlichen Umständen mit unveränderter Festigkeit und Treue und im klarem Bewusstsein der Heilsgemeinschaft mit der Menschheit fortzusetzen ist.

Bei der Feier dieser Synodenversammlung ist auch die Geste, Europa mit den anderen Kontinenten gleichzuschalten, deren Oberhirten sich zur Vorbereitung auf das Ereignis des Jubiläums ebenfalls zu einer Synode versammeln, äusserst bedeutsam. Das entspricht der anfänglichen Bestimmung, die vom Heiligen Vater in der »Reihe von Synoden«(7) festgelegt wurde, von Synoden, die in gewissem Sinn mit dem »Jubiläum verbunden« und in den Weg zum Anfang des dritten Jahrtausends eingefügt sind.

5. In dieser synodalen Wechselbeziehung, die als eine besondere Gelegenheit zur Ausübung der bischöflichen Kollegialität und der Hirtenliebe erscheint, weil die Synode für Europa allen anderen kontinentalen Versammlungen nachfolgen wird, wird es geschichtlich und kirchlich von Nutzen sein, das Band, das Europa mit den anderen Erdteilen durch das Evangelium und dessen Verkündigung vereint, in Erinnerung zu rufen.

Während man im adventlichen Geist auf das Grosse Jubiläum des Jahres 2000 zugeht, erhofft sich der Heilige Vater einen »neuen Frühling christlichen Lebens«, der voraussetzt, dass die Christen dem Handeln des Heiligen Geistes, des Hauptakteurs der Neuevangelisierung, folgen.(8)

Johannes Paul II. ruft die Gläubigen dazu auf, im Betrachten und Nachdenken über das Wirken des Heiligen Geistes die theologische Tugend der Hoffnung wiederzuentdecken. Denn »die Grundhaltung der Hoffnung spornt einerseits den Christen dazu an, das Endziel, das seinem ganzen Dasein Sinn und Wert gibt, nicht aus dem Auge zu verlieren, und andererseits bietet sie ihm solide und tiefgehende Beweggründe für den täglichen Einsatz bei der Umgestaltung der Wirklichkeit, die dem Plan Gottes entsprechen soll«.(9)

Der Weg der Kirche in Europa zu diesem Ziel, unter den derzeitigen geschichtlichen, gesellschaftlichen und religiösen Umständen, schöpft aus der Betrachtung des Evangeliums seine reinste Kraft, die Müdigkeit, Zweifel und Trostlosigkeit überwinden hilft. Die Botschaft des Berichtes über die zwei Jünger von Emmaus weist diesbezüglich tiefe Übereinstimmungen auf, die zu einer Überprüfung der Beziehung zum Herrn einladen, dem einzigen Erlöser aller, der war, der ist und der sein wird, gestern, heute und in Ewigkeit.

Die Hoffnung besteht darin: durch Hören auf den Herrn und seine Aufnahme Kraft und Licht zu finden, um die vielen Verdunkelungen zu überwinden, die das Europa von heute verfinstern, das auch das Europa ist, das die erste apostolische Predigt angenommen, sie auf seinem Boden verbreitet und auch anderen Völkern gebracht hat. Müdigkeit und Gewöhnung, Verwirrung und Unwissenheit sind keine Entschuldigung für Starrköpfigkeit und Passivität. Die Offenbarung des Herrn an die zwei untröstlichen Jünger und ihr nachfolgendes Zeugnis drüngen und ermutigen zur Hoffnung und garantieren sie für alle, die den Herrn seit langem kennen und deshalb seine Spuren nicht für immer verloren oder ausgelöscht haben können.


ERSTER TEIL

EUROPA AUF DEM WEG INS DRITTE JAHRTAUSEND

Unterscheidung der Geister

6. Die Ereignisse, die den beiden Synodenversammlungen für Europa zugrunde liegen, stehen bekanntlich in Verbindung mit dem Zusammenbruch des Kommunismus, greifbar dargestellt durch den Fall der Mauer, die Berlin in zwei Teile geteilt hatte. Es waren gesellschaftliche und politische Ereignisse, die aber auch einen tiefen kulturellen Wandel und einen dringendes Verlangen nach Erneuerung anzeigten.

»Die Mauer, die Europa teilte, ist gefallen. Fünfzig Jahre nach Beginn des zweiten Weltkrieges endeten seine Auswirkungen, die bis dahin das Gesicht Europas geprägt hatten. Ein halbes Jahrhundert der Spaltung ist beendet. Millionen von Bewohnern Mittel- und Osteuropas mussten einen furchtbaren Preis dafür bezahlen«.(10)

Diese Umwälzungen überraschten die ganze Welt, aber auch die unmittelbar beteiligten Völker selbst.

Angesichts dieser Umwälzungen erforschte die Kirche sich selbst und erforscht sich weiterhin in bezug auf deren Bedeutung vor allem auch im Hinblick auf die Konsequenzen für ihren pastoralen Dienst der neuen Verkündigung des Evangeliums gemäss dem ständigen und unabdingbaren Auftrag, Jesus Christus zu verkünden, der der einzige Erlöser der Völker und der Personen zu allen Zeiten und in allen Völkern gestern, heute und in Ewigkeit war, ist und sein wird.

Die Überprüfung der neuen Lebensbedingungen unter den europäischen Völkern seitens der Kirche bedeutet, nach dem Grund der vielfachen Enttäuschungen zu suchen, die sich aus der Unfähigkeit der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen ergeben, die Erwartungen des Menschen zu erfüllen.

Der europäische Mensch wird jetzt konfrontiert mit dem wahren Gesicht des realen Sozialismus, und die negativen moralischen Auswirkungen des Kommunismus treten in ihrer ganzen Schwere zutage. Zur gleichen Zeit hat sich in diesen Ländern ein naiver Optimismus verbreitet, der durch die Wiedererlangung der Grundfreiheiten der Person begünstigt, aber nicht von der sicheren Befähigung zum Umgang mit der Freiheit selbst getragen wird. Deshalb war es notwendig, sich der umgebenden Wirklichkeit entsprechend zu verhalten, die tatsächlich schwierig ist, mit dem Ergebnis, dass sich in manchen Fällen eine gewisse Nostalgie und der Versuch oder die Sehnsucht breit macht, in die Vergangenheit zurückzukehren.

Im Westen breiten sich Übel aus, die mit einem menschlichen Fortschritt verbunden sind, der oft von den Werten der Person und des Geistes losgelöst ist. Und diese Tendenzen greifen leicht über auf die östlichen Länder, wo sich paradoxerweise eine Situation ergibt, die der von den zusammengebrochenen Regimen angewandten materialistischen Philosophie sehr ähnelt und sich in einer Anthropologie kundtut, die sich dem transzendenten Ausblick des menschlichen Daseins verschliesst.

Der Geist des Herrn spricht zur Kirche auch durch die geschichtlichen Ereignisse. Die Gemeinschaft der Gläubigen steht diesen Geschehnissen nicht unbeteiligt gegenüber, sondern sie erlebt sie als ein unter den Völkern erhobenes Zeichen,(11) und ihr klarer Sinn der Unterscheidung, der ihr seit zweitausend Jahren eigen ist, wird auch in unserer Zeit, die von tiefgreifenden Umwälzungen gekennzeichnet ist und kurz vor dem Beginn des dritten Jahrtausends steht, nicht fehlen.

Widersprüchliche Zeichen und Enttäuschung

7. Das Europa von heute hat bekanntlich auf sozialem und kulturellem Gebiet die Anerkennung und den gesicherten Besitz von hohen Werten erreicht, die die Grundlage und Ausdrucksform seiner hohen Entwicklung sind, obwohl sie auch Bedrohungen und Gefahren auf anderen Gebieten darstellen.

Der Zusammenbruch des Totalitarismus und die daraus folgende Wiederherstellung der Demokratie haben auch zu einer Erschlaffung der Werte und objektiven Wahrheiten geführt. Im Bereich der Menschenrechte hat man Masse erreicht, die den Einzelnen unabänderlich schützen, aber es geschieht oft zum Nachteil der Ärmeren und Schutzlosen. Die Entscheidungsfreiheit wird als unveräusserliches Recht der Person betrachtet, dient aber auch als Vorwand, um einen auf die eigene Person konzentrierten Verhaltenskodex zu rechtfertigen. Die dem Einzelnen zugebilligte Würde entreibt ihn — das ist wahr — der entarteten Machination, die ihn in der jüngsten Vergangenheit zu einem Teilstück einer grossen kollektivistischen Bewegung erniedrigte, sie darf aber nicht zu einer sinnlosen Vereinzelung und zum Schwund des Solidaritätsbewusstseins führen.

Die Kultur an sich erscheint heute in Europa als ein absoluter und allumfassender Wert der Person, während sie eine schwere Bedenklichkeit zeigt, die in einer manipulierten Zerstückelung des Glaubens an Jesus Christus besteht. Es wird versucht, den Bezug zu diesem Glauben als Grundbaustein und Wiege der europäischen Kultur und ihrer Einheit auszulöschen. Man ist Zeuge des Entstehens einer Kultur der Rechtssprechung, die Verhaltensmuster bietet, in denen die Werte des Evangeliums fehlen.

Nach den politischen Umwälzungen hat man spontan von einem neuen Europa gesprochen als Reaktion auf eine aufgezwungene Beschränkung der freien Kommunikation zwischen den Staaten, aber im Bewusstsein der gemeinsamen geographischen wie auch moralischen und sozialen Zugehörigkeit.

Die Neuheit darf nicht nur die der Regierungsform, der sozialen Sicherheit oder der internationalen Kommunikation sein. In diese Wirklichkeit muss die grosse Neuheit des Evangeliums, des Wortes Gottes eindringen, der alles neu macht. Die Neuevangelisierung ist wesentlicher Bestandteil der Kirche von heute im gegenwärtigen Europa, das auf ein neues Niveau gebracht werden muss, das sich vom gegenwärtigen unterscheidet. Europa muss durch das Zeugnis und den Geist des Herrn erneuert werden, der im Geheimnis, in der Gemeinschaft und in der Sendung der Kirche handelt.

Die Neuevangelisierung, die anthropologischen und geschichtlichen Bedingungen des Menschen und die Person Jesu Christi in ihrer vollen Beziehung zur Kirche sind die vorrangigsten Ziele der heutigen Verkündigung in Europa.

Gewissensprüfung

8. Die neue Verkündigung des Evangeliums ist eng verbunden mit einer dringenden Notwendigkeit: der Gewissensprüfung. »Nach 1989 sind jedoch neue Gefahren und neue Bedrohungen aufgetaucht. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks ist nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die ernsthafte Gefahr der Nationalismen zutage getreten, wie leider die Vorgänge auf dem Balkan und in anderen benachbarten Gebieten zeigen. Das zwingt die europäischen Nationen zu einer ernsthaften Gewissensprüfung, in Anerkennung von Schuld und Irrtümern, die im Laufe der Geschichte auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet gegenüber Nationen begangen worden sind, deren Rechte von den imperialistischen Systemen des vorigen wie des jetzigen Jahrhunderts systematisch verletzt worden sind«.(12)

Angesichts der neuen Situation ist eine Gewissensprüfung von seiten der Kirche notwendig,(13) vor allem in jenen Bereichen, in denen die Verkündigung des Evangeliums die dringlichsten Bedürfnisse des Menschen von heute berührt. Die heutige Sensibilität drängt zu einem immer weniger isolierten Zusammenleben, so dass die besonders schwerwiegenden und widersprüchlichen Verletzungen der Einheit unter den Christen die Eintracht und den Weg zum Frieden gefährden. Religiöse Gleichgültigkeit und mangelnde Glaubwürdigkeit im Zeugnis der Glieder der Kirche tragen zur Verbreitung der Pseudoheilsbewegungen bei. Das Entstehen der Sekten und neuen religiösen Bewegungen im Osten und im Westen fordert die Kirche heraus, denn dieses Phänomen zeigt die Sehnsucht nach einem »Erlöser« an, vermindert aber auch die Einheit zwischen Christus und der Kirche. Intoleranz und auch Gewaltanwendung im Dienst der Wahrheit,(14) oft Ausdruck eines gewissen Nationalismus, der den Glauben zu eigenen Zwecken benutzt, sind Themen, auf die die Kirche in Zukunft aufmerksam achten muss, damit sie ihr Zeugnis nie mehr verdunkeln. Es scheint angebracht, auch über die Bedeutung der Respektierung der Religionsfreiheit in der Welt von heute nachzudenken.(15)

Missbehagen wird auch verursacht durch das Fehlen einer klaren Verurteilung der schwerwiegenden Ungerechtigkeiten auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet (16) wie auch durch die Schwierigkeit, bei der Gewissensbildung eine Katechese anzuwenden, die darauf abzielt, die Werte des Glaubens in bezug auf das konkrete Leben des Menschen zu vermitteln.


ZWEITER TEIL

JESUS CHRISTUS, DER LEBT IN SEINER KIRCHE

Geheimnis

Gegenwart des Herrn

9. Wenn sie durch eifrige Teilnahme an den Zielsetzungen der Vorbereitung auf das Grosse Jubiläum des Jahres 2000 die Einladung des Heiligen Vaters annimmt, die Zeit der Erwartung als einen »neuen Advent« zu leben, ist es auch für diese zweite Versammlung für Europa an der Zeit, eine besondere Sensibilität für all das zu wecken, was der Geist der Kirche und den Kirchen sagt :(17) vor allem im Hinblick auf die göttliche Person des vor 2000 Jahren Mensch gewordenen Sohnes Gottes Jesus Christus, der heute und immer lebt und in seiner Kirche immerdar gegenwärtig ist.

Die Konstitution über die heilige Liturgie des II. Vatikanischen Konzils, Sacrosanctum Concilium, erläutert unter Nr. 7 die verschiedenen Weisen der Gegenwart des Herrn, die auch für die Feier der Synodenversammlung für Europa von grosser Bedeutung sind. »Christus ist in seiner Kirche immerdar gegenwärtig, besonders in den liturgischen Handlungen. Gegenwärtig ist er im Opfer der Messe sowohl in der Person dessen, der den priesterlichen Dienst vollzieht ... wie vor allem unter den eucharistischen Gestalten. Gegenwärtig ist er mit seiner Kraft in den Sakramenten ... Gegenwärtig ist er in seinem Wort, da er selbst spricht, wenn die heiligen Schriften in der Kirche gelesen werden. Gegenwärtig ist er schliesslich, wenn die Kirche betet und singt, er, der versprochen hat: 'Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen' (Mt 18,20)«.

Eine andere besondere Gegenwart des Herrn wird auch spürbar in einzelnen Personen, die sich durch besondere Nähe zu ihm auszeichnen. »Im Leben derer, die, zwar Schicksalsgenossen unserer Menschlichkeit, dennoch vollkommener dem Bilde Christi gleichgestaltet werden (vgl. 2 Kor 3,18), zeigt Gott den Menschen in lebendiger Weise seine Gegenwart und sein Antlitz. In ihnen redet er selbst zu uns, gibt er uns ein Zeichen seines Reiches«.(18)

Gegenwart in der Geschichte

10. »Im Glauben daran, dass es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind«.(19)

Die ganze Kirche verkündet, dass der Herr sich in der jüngsten Geschichte Europas wirksam offenbart hat; er hat durch seine unbegreifliche und entscheidende Gegenwart in ihr gewirkt, und er wirkt weiter in den Denk- und Handlungsgefügen der Menschen selbst. Zeichen dieser Gegenwart sind auch heute auf dem europäischen Kontinent festzustellen.

Von diesem Geheimnis der Beziehung zur Menschheit kann man sagen, dass es durchaus möglich ist, die Anwesenheit Gottes in der Geschichte, nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der heutigen Zeit zu erkennen: »Die laute Klage meines Volkes ist zu mir gedrungen« (vgl. Ex 3,9); »viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott ... gesprochen« (Hebr 1,1).

Die Mitteilung Gottes findet ihren höchsten Ausdruck in der Person Jesu Christi, dem Allherrscher, dem Herrn der Geschichte, dem einzigen, der der Welt und dem menschlichen Dasein Sinn und kosmische Bedeutung geben kann. Christus ist der einzige, der am Leiden des Menschen nicht nur teilhat, sondern der auch imstande ist, es zu erheben und umzuwandeln, denn nur er ist wahrer Gott und wahrer Mensch. In seiner Person nimmt Christus die Probleme auf sich, die durch die Hinfälligkeit der menschlichen Natur und die Erfahrung des Todes auftauchen, über die die Menschen in Europa sich fürchten zu sprechen .(20)

In diesem Geheimnis des Herrn lebt die Kirche gleichsam in ihrer eigenen, ursprünglichen Umwelt und findet im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende in ihm die Quelle der Erneuerung und des Zeugnisses.

Das Geheimnis der Gegenwart des Meisters in seiner Kirche zeigt sich deutlich im Dasein der Jünger. Im Leben der Heiligen gehen Wort und Handlung Hand in Hand, und das eschatologische Wesen des Geheimnisses Jesu Christi wird offenbar.

Gemeinschaft

Gemeinschaft mit Gott und mit der Menschheit

11. Aus der wirksamen Gegenwart Gottes in der Geschichte empfängt die Kirche nicht nur die Unterstützung der »grossen Taten Gottes« (vgl. Apg 2,11), sondern auch das unvergleichliche Geschenk der Gemeinschaft mit Gott und der Menschheit. Das Geschenk Christi wird durch die Kirche, die sein Werk ist und die er immer in der Heiligkeit erhält, und in ihr gegeben. Die Kirche ist immer Werk Christi, er erhält sie in der Heiligkeit. Er ist der Eckstein der Kirche, die das Sakrament für die Vereinigung Gottes mit den Menschen und aller Menschen untereinander ist.(21)

All das erwächst nicht aus der Macht, nicht aus dem Willen, sondern aus dem Heiligen Geist. Die Kirche ist zugleich von Christus eingestiftet und vom Heiligen Geist gegründet. Im Wirken des Geistes wird unsere Schwachheit Quelle des Heils. Das Angebot Christi ist die Freundschaft mit Gott: in der Lebensgemeinschaft des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Die Dreifaltigkeit ist Ursprung und Quelle des Lebens des ganzen Menschen und für alle Menschen.

Gemeinschaft und Hoffnung

12. Die erste Synodenversammlung für Europa endete mit einer Declaratio, in der sich Grundsätze und Weisungen für den Aufbau des neuen Europas finden, Themen, die den Forderungen nach Gemeinschaft, Einheit und Hoffnung entsprechen(22) und die eine eingehende Gewissensprüfung angesichts des kommenden Jubiläums mit sich bringen, wobei auch über die Verwirklichung dieser Zielsetzungen in den Jahren seit der ersten Versammlung nachgedacht werden soll.

Das Streben nach Einheit und Gemeinschaft wird immer deutlicher, je mehr man den Ablauf der Ereignisse seit der ersten Versammlung beobachtet. In dieser wurde die Dringlichkeit des Austausches zwischen den zwei Lungen der Kirche in Europa gefordert, ein Tun, das in den vorhergehenden Jahrzehnten starken Einschränkungen unterworfen war. Damals, nach dem Zusammenbruch der Blöcke, wurden die Beziehungen wiederaufgenommen, aber mit ihnen verbreiteten sich auch unbeschadet im Westen wie im Osten zerstörerische Phänomene, die die gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und religiöse Krise schürten. Es genügt, hier an die Verbreitung der Sekten und fundamentalistischen Bewegungen oder an den hemmungslosen Impuls zur Reaktion oder Flucht hinsichtlich der vorhergegangenen geschichtlichen Umstände zu denken.

Mission

Auftrag zur Verbreitung des Evangeliums

13. Auf Grund der innigen Vereinigung mit der ganzen Menschheit als von Gott erwähltes Geschöpf steht der Kirche die Aufgabe zu, die Güte Gottes zu verbreiten, die sich in der Geschichte kundgetan und vor allem in der Person seines Sohnes, in dessen Werken und Worten offenbart hat. Die Mission für die Welt verwirklicht sich gerade in der Ausübung dieses dem Wesen der Kirche entsprechenden Impulses. Die Fülle des Lebens ist immer ein Geschenk; das Heil ist Werk Gottes in Christus, niemals nur Werk menschlicher Hände. Die Verheibung der Heilsfülle ist eschatologisch und schreitet fort in einer Welt, die von der Wirklichkeit der Sünde gezeichnet ist.

Die erste Aufgabe der Kirche ist es, das Geheimnis Christi als Liebesgemeinschaft voll zu leben und es allen Menschen zu verkünden. Indem sie die Heilsbotschaft durch die Mission verkündet, ist es also Ziel der Kirche, die Menschen zur Teilhabe am Geheimnis Gottes einzuladen und in einem tanszendenten Ausblick die Grenzen des menschlichen Daseins zu erweitern.

In dieser besonderen Stunde Europas hat die Sendung der Kirche die Gestalt der Neuevangelisierung angenommen als ursprünglicher, vom auferstandenen Herrn empfangener Missionsauftrag und als ihre geschichtliche Aufgabe im Hinblick auf die Synoden »des Advents« auf dem Weg zum Jubiläum des Jahres 2000.(23)

»An der Schwelle zum dritten Jahrtausend ... müssen wir das Werk der Evangelisierung mit neuer Kraft aufgreifen. Helfen wir denen, die Christus und seine Lehre vergessen haben, ihn wiederzuentdecken. Das wird gelingen, wenn erneut Scharen von Menschen damit beginnen, als treue Zeugen des Evangeliums unseren Kontiennt zu durchqueren; wenn die Werke der Architektur, Literatur und Kunst für den Menschen unserer Zeit in ansprechender Weise denjenigen darstellen, der 'derselbe ist gestern, heute und in Ewigkeit'; wenn die Menschen in der Liturgie der Kirche erkennen, wie schön es ist, Gott zu ehren, und wenn sie in unserem Leben ein Zeugnis der christlichen Barmherzigkeit, der heroischen Liebe und der Heiligkeit entdecken können«.(24)

»Zugleich stellt sich dieses Europa mit seiner grossartigen missionarischen Vergangenheit an verschiedenen Punkten seiner derzeitigen 'kirchlichen Geographie' selbst in Frage und steht vor dem Problem, ob es nicht drauf und dran sei, selbst zu einem Missionskontinent zu werden. Für Europa besteht also das Problem, das in Evangelii nuntiandi als 'Selbstevangelisierung' bezeichnet wurde. Die Kirche muss immer wieder sich selbst evangelisieren. Das katholische und christliche Europa braucht eine solche Evangelisierung«.(25)

»Wenn aber die Schwierigkeiten und Hindernisse für die Evangelisierung in Europa in der Kirche und im Christentum selbst Vorwände finden, dann werden auch die Heilmittel und Lösungen in der Kirche und im Christentum gesucht werden müssen, das heisst in der Wahrheit und in der Gnade Christi, des Erlösers des Menschen, der Mitte des Kosmos und der Geschichte.

Die Kirche muss sich also selbst evangelisieren, um den Herausforderungen des heutigen Menschen gerecht werden zu können«.(26)

Ökumenismus und Mission

14. »Wir wissen, dass die Eindringlichkeit der Predigt des Evangeliums zu einem nicht geringen Teil davon abhängt, in welchem Ton der Einhelligkeit und Harmonie es der Welt vorgelegt wird. Es besteht ein inneres Band zwischen Ökumenismus und Mission. Bei diesem Aufruf zur Einheit der Christen zugunsten einer wirksamen Missionstätigkeit denke ich besonders an die Völker des europäischen Kontinents. Europa ist durch seine Vergangenheit und seine Gegenwart aufgerufen, 'immer mehr die Notwendigkeit einer religiös-christlichen Einheit und der brüderlichen Gemeinschaft aller seiner Völker zu verspüren (Slavorum Apostoli, Nr. 30)Ç.(27)

Gewiss setzen die katholischen Gemeinschaften in dieser nachkonziliaren Zeit durch den ökumenischen Einsatz ein besonderes Zeichen der Lebenskraft und Reife im Glauben. Die Geschichte auf diesem Gebiet war schwierig und komplex und hat die Christen nicht dahin geführt, die vom Geschenk der Taufe geschaffene Gemeinschaft im Innern wirklich zu vollziehen. Es ist schwer vorstellbar, heute die Taufe wahrhaft zu bezeugen und zugleich die Bande zu vernachlässigen, die sie unter denen knüpft, die sie empfangen haben.(28)

»Wir hatten die günstige und providentielle Gelegenheit zu entdecken, wie 'in den verschiedenen Kulturen der europäischen Nationen des Ostens wie des Westens, in Musik, Literatur, in den bildenden Künsten und der Architektur wie auch in den Denkformen ein gemeinsamer Lebenssaft strömt, der aus einer einzigen Quelle schöpft' (Apostolisches Schreiben Euntes in mundum, V, 12)Ç.(29)


DRITTER TEIL

JESUS CHRISTUS QUELLE DER HOFFNUNG

Leitourgia

Geschenk Gottes und menschliche Spiritualität

15. Die Liturgie (leitourgia) ist die Antwort des Menschen auf Gott, der sich selbst mitteilt und den Dialog mit allen Menschen sucht. Die Selbstmitteilung Gottes besteht darin, dass er sich selbst offenbart, indem er zum Gespräch einlädt, durch das er das Geschenk der Wahrheit anbietet.

Angesichts gewisser Tendenzen heute, die menschliche Person in den Mittelpunkt der liturgischen Handlung zu stellen, bietet die Hoffnung den Grund, zu verkünden, dass sie das »opus Dei« schlechthin als freies und vorweggenommenes Handeln Gottes ist, und in ihr ist und bleibt Jesus Christus der Erste und der Letzte, das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende (vgl. Offb 1,8; 21,6; 22,13), der einzige Mittler (vgl. 1 Tim 2,5) der Gnade und jedes vollkommenen Geschenkes, das von oben kommt (vgl. Jak 1,17), während er jedes Geschöpf unter dem Himmel zum Heil ruft.

Dieser in der Liturgie sich vollziehende Heilsdialog wird für die Kirche eine Gewohnheit, eine gemeinschaftliche Haltung, eine Handlungsweise, die das Tun und die Präsenz der Kirche in ihren verschiedenen Aufgaben kennzeichnet: Gemeinschaft in ihrem eigenen Leben unter Christen in der Diakonie der Wahrheit, Dialog mit den anderen Religionen auf der zweifachen Grundlage des gemeinsamen Anspruchs der Wahrheit und der Treue gegen über der empfangenen Wahrheit, Dialog mit der Gesellschaft, oft auf der Basis der Würde der menschlichen Person.

Im Hinblick auf das Grosse Jubiläum des Jahres 2000 ist es mehr denn je angezeigt, diesen Wesenszug der Liturgie in Erinnerung zu rufen zu dem Zweck, dass im Mittelpunkt jedes Gottesdienstes die Person Jesu Christi, der geboren, gestorben und auferstanden ist, gestellt wird, damit keine Abweichungen geschehen, die dem Vollzug sein wahres Wesen und seinen eigentlichen Zweck rauben würden.

Verlangen nach Spiritualität

16. Heute macht sich in Ost und West ein verbreitetes Streben nach den Gütern des Geistes bemerkbar, eine Suche, ein unruhiges und beständiges Verlangen nach Antworten auf die tiefsten Fragen des menschlichen Daseins, der endgültigen Bestimmung der Menschheit.(30)

Obwohl sich der europäische Mensch unter diesen Umständen auch weniger angemessenen Methoden und Mitteln zuwenden kann und auch wirklich zuwendet, steht zweifellos fest, dass sich in der tausendjährigen Kultur dieses Kontinents eine Wahrheit findet, die imstande ist, die unaufhörliche menschliche Sehnsucht zu stillen.

Die Kirche verfügt über das einzige gültige Mass, um die entscheidenden Momente des menschlichen Lebens zu erklären und die Evangelisierung global in Angriff zu nehmen. »Und dieses Mass ist Christus, das fleischgewordene Wort Gottes: in Christus, der geboren, gestorben und auferstanden ist, kann die Kirche den wahren Sinn, den vollen Sinn des Geborenwerdens und des Sterbens jedes menschlichen Wesens erkennen. Schon Pascal vermerkte: 'Nicht nur kennen wir Gott durch Jesus Christus, sondern wir kennen uns selbst nur durch Jesus Christus und nur durch Ihn das Leben und den Tod. Ausserhalb Jesu Christi wissen wir nicht, was das Leben und der Tod, was Gott, was wir selbst sind' (Pensées, n. 548). Eine Erkenntnis, die das II. Vatikanische Konzil mit verdientermassen berühmten Worten ausgedrückt hat: 'Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf ... Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschliesst ihm seine höchste Berufung' (GS 22). Von Christus angeleitet, hat die Kirche die Aufgabe, den Menschen von heute dahin zu bringen, die volle Wahrheit über sich selbst neu zu entdecken«.(31)

In den heutigen demokratischen Gesellschaften, die sich in Europa seit vielen Jahrhunderten geformt haben, spürt man eine gewisse Unduldsamkeit gegenüber den Lasten, die sich in der langen Zeit und durch die althergebrachten Institutionen auf dem »alten Kontinent« angesammelt haben. Europa altert in geschichtlicher Hinsicht und altert auch demographisch und in der Generationenfolge. Und diese Entkräftigung gefährdet selbst die Fähigkeit der wahren Wiedergeburt, wenn man nicht auf die geistlichen Anfänge der Geschichte, der Kultur und des Europäertums zurückgreift.

Man kann wahrhaftig von einer christlichen Seele Europas sprechen. »Papst Paul VI. lud uns ein, 'die christliche Seele Europas wiederzuerwecken, in der seine Einheit wurzelt', die Werte des Evangeliums, die noch vorhanden, aber beiseitegeschossen und auf rein diesseitige Ziele ausgerichtet sind, zu reinigen und auf ihren Ursprung zurückzuführen, die Gewissen im Licht des Glaubens, der gelegen oder ungelegen verkündet werden muss, zu erwecken und zu stärken; ihre Initiativen über alle Grenzen hinweg zusammenzuführen«.(32)

»Die Geschichte der Erstehung der europäischen Nationen verläuft parallel zu ihrer Evangelisierung Europas bis hin zu dem Punkt, an dem schliesslich die europäischen Grenzen sich mit dem Verbreitungsgebiet des Evangeliums deckten. Trotz blutiger Konflikte zwischen den Völkern Europas und trotz der geistigen Krisen, die das Leben des Kontinents erschüttert haben - bis zu den ernsten Fragen, die sich dem Gewissen unserer Zeit über seine Zukunft stellen -, muss man nach zwei Jahrtausenden seiner Geschichte zugeben, dass die europäische Identität ohne das Christentum nicht verständlich ist, dass gerade in ihm sich jene gemeinsamen Wurzeln finden, aus denen die Zivilisation des Kontinents erwachsen ist, seine Kultur, seine Dynamik, seine Unternehmungslust, seine Fähigkeit zur konstruktiven Ausbreitung auch in andere Kontinente, kurz alles, was seinen Ruhm ausmacht. Auch in unserer Zeit bleibt die Seele Europas geeint, weil es über seinen gemeinsamen Ursprung hinaus von den gleichen christlichen und humanen Werten lebt«.(33)

Ein Rückblick auf die Ereignisse von 1989 führte Johannes Paul II. zu einer prophetischen Vorwarnung: »Der Heilige Stuhl hat mit Genugtuung die grossen Umgestaltungen zur Kenntnis genommen, die vor allem in Europa kürzlich das Leben mehrerer Völker gezeichnet haben. Der nicht zu unterdrückende Durst nach Freiheit, der hier offenbar geworden ist, hat die Entwicklung beschleunigt, hat Mauern einstürzen und Tore sich öffnen lassen: das alles geschah nach Art eines wirklichen Umsturzes ... Vor unseren Augen scheint sich die Neugeburt eines 'Europa des Geistes' zu vollziehen in eben der Linie der Werte und Symbole, die es nach jener 'christlichen Tradition gestaltet haben, die alle seine Völker eint'. Wenn man nun diese glückliche Entwicklung betrachtet, die so vielen Völkern dazu verholfen hat, ihre Identität und ihre gleiche Würde wiederzufinden, sollte man nicht vergessen, dass nie etwas endgültig gesichert ist ...Uralte Rivalitäten können immer wieder aufkommen, Konflikte zwischen völkischen Minderheiten können neu aufflammen, Nationalismen sich verschärfen«.(34)

Martyria

Menschliche Existenz als Verkündigung

17. Das Zeugnis (martyria) besteht in der Verkündigung durch Werke und Worte, der Botschaft Christi, der uns unter allen Aspekten unseres Lebens befreit hat. Er lehrt die wahre Bedeutung der Freiheit für das menschliche Dasein.

Die Freiheit wurde sowohl vom Nazismus als auch vom Stalinismus missbraucht: »Arbeit macht frei« (Auschwitz) und »Ich kenne kein anderes Land, in dem die Menschen mit solcher Freiheit atmen können« (sowjetische Nationalhymne).

Und dieser Missbrauch hat ungeheure, unmenschliche Übel erzeugt: Hass, Verfolgung, Exil, Genozid, Kerkerhaft, Todesstrafe, wobei in dieser Leidenszeit unter den Christen die Gnade des Martyriums oder doch des Zeugnisses der Erlösung durch das Leiden zutage getreten ist. Von ihm ist die geistliche Frucht der Versöhnung als Geschenk Gottes und Grund zur Hoffnung für die Zukunft zu erwarten.

Freiheit und Wahrheit

18. Die Freiheit, die die Grenzen nicht anerkennt, die dem Anspruch der Wahrheit und der Wahrheit der Personengemeinschaft innewohnt, wird bald zum Freibrief. Freiheit ohne Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten ist eine Illusion.

Die Freiheit, wie sie sich in Christus offenbart, ist der Raum zur Ausübung der Freiheit.(35)

»Schon der Klang des Wortes Freiheit lässt die Herzen hšher schlagen. Dies liegt sicher daran, dass man in den vergangenen Jahrzehnten einen sehr hohen Preis dafür zahlen musste. Tief sind die Wunden, die nach dieser langen Zeit in den Menschenherzen verblieben sind. Viel Zeit wird noch vergehen müssen, bevor sie heilen können«.(36) Mit diesen Worten lud der Heilige Vater zum Nachdenken über die Freiheit Europas ein, das »viele Jahre schmerzlich geprüft wurde, weil ihm die Freiheit vom nazistischen und kommunistischen Totalitarismus vorenthalten wurde«.(37) Johannes Paul II. wies zugleich auf die wesentlichen Grenzen der Freiheit hin: »Ja, wahre Freiheit erfordert Ordnung. Aber um welche Ordnung handelt es sich hier? Es geht hier vor allem um die moralische Ordnung, um die Ordnung der Werteskala, um die Ordnung der Wahrheit und des Guten. Wenn im Wertebereich Leere herrscht, wenn auf der moralischen Ebene Chaos und Verwirrung regieren, stirbt die Freiheit, und aus dem freien Menschen wird ein Sklave - ein Sklave der Instinkte, der Leidenschaften und der Pseudowerte«.(38)

Johannes Paul II. stellt dann die Frage nach dem Zugang zur Freiheit mit den Worten: »Kann der Mensch allein, ohne Christus oder sogar gegen Christus die Ordnung der Freiheit errichten? Es ist eine ausserordentlich dramatische Fragestellung, aber aktueller denn je in einem gesellschaftlichen Kontext, der von einem Demokratieverständnis durchwirkt ist, das sich an der liberalen Ideologie anlehnt! Denn man versucht den Menschen und ganze Gesellschaften davon zu überzeugen, dass Gott ein Hindernis ist auf dem Weg zur vollen Freiheit, dass die Kirche gegen die Freiheit ist, dass sie kein Verständnis für die Freiheit und sogar vor ihr Angst hat. Hier haben wir eine unglaubliche Verwirrung der Begriffe! Die Kirche hört nicht auf, in der Welt die Verkünderin des Evangeliums der Freiheit zu sein! Das ist ihre Sendung. »Zur Freiheit hat uns Christus befreit« (Gal 5,1). Deshalb hat ein Christ keine Angst vor der Freiheit, noch flüchtet er vor ihr! Er nimmt sie in schöpferischer und verantwortlicher Weise an und sieht sie als seine Lebensaufgabe. Denn die Freiheit ist nicht nur eine Gabe Gottes; sie ist uns auch als Aufgabe gestellt! Sie ist unsere Berufung: »Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder«, schreibt der Apostel Paulus (Gal 5,13)«.(39)

Diakonia

Dienst

19. Der Dienst (diakonia) an der leidenden Person wird zur Quelle der Hoffnung, weil er eine konkrete Ausdrucksform der Würde der menschlichen Person ist.

Sicherlich ist ein Fortschritt in der Anerkennung der Menschenwürde und der Menschenrechte im Bereich der europäischen Völker zu verzeichnen. Es ist eine verstärkte Sensibilität gegenüber der Vergangenheit und dem Thema der Menschenrechte zu beobachten. Ein Fortschritt erfolgte auch in der Anerkennung der personalen Würde im Hinblick auf praktische Hilfe und auf die Nächstenliebe.

Erhöhte Aufmerksamkeit wird den Formen des wachsenden Missbrauchs zugewandt, die sich auf Personen auswirkten: Armut inmitten von Überfluss, Drogenabhängigkeit, Pornographie, Sextourismus, Pädophilie, Abtreibung und Euthanasie.

Aber auf der anderen Seite nimmt die Unempfindlichkeit gegenüber dem Leiden anderer zu, auch auf Grund der übermässigen Verbreitung durch die Medien.

Das weist auf einen tiefen Widerspruch in der Kultur und im Leben Europas hin. Es handelt sich um dramatische Spaltungen zwischen Faktoren des Fortschritts und konkreter Praxis, die durch die Rückkehr zur wahren Quelle des Heils und der Hoffnung geheilt werden müssen. Aus dem Evangelium lernt man die Haltung des Dienstes und der Selbsthingabe, die die dem Evangelium entsprechende Lebensweise und das Hauptmerkmal seiner Verkündigung ist. Die dem Evangelium gemässe Liebesfähigkeit wird vor allem durch die hohe Achtung des Lebens, besonders in bezug auf die verletzlichen Personen und die Armen entfaltet, indem man die dem Evangelium gemässe Nächstenliebe in den vielfältigen Formen der Solidarität übt. In diesem Sinn kann man mit Recht den Dienst als Weg zur Hoffnung für eine Welt verkünden, die in der Anerkennung der Würde einig ist, die jeder menschlichen Person gebührt.

In diesem Zusammenhang ist es notwendig, das hervorzuheben, was der besondere Beitrag der Kirche in Europa in diesem Augenblick der Geschichte ist.

Die Kirche hat eine »Diakonie« an den europäischen Völkern auszuüben, die am Ende des zweiten Jahrtausends nach den gesellschaftlichen und politischen Enttäuschungen infolge der Ausbreitung der Phänomene des Liberalismus und Ökonomismus, des Verlustes der Hoffnung und des Sinnes für Tradition die Verkündigung der Heilsbotschaft notwendig brauchen. Die Besonderheit der Kirche in Europa besteht darin, dass sie sich in der Evangelisierung als Gemeinschaft eines Kontinentes darstellt, dessen Wesenskern christlich ist, auch wenn bei ihm die christliche Botschaft nicht immer in dynamischer und wirksamer Weise ankommt.

Ein weiteres besonderes Merkmal Europas ist, dass der Wandel selbst spezifiziert ist, aber ohne Inhalte und Werte bleibt. Was Jesus Christus dem heutigen Europa geben kann, ist die Hoffnung und die Gemeinschaft.

Vorrangige Aufgabe Europas ist — wie auch manche führende europäische Politiker bestätigen — die Suche nach dem geistlichen Gehalt seiner gesellschaftlichen und politischen Entwicklung, während Zeichen von Hass und Gewalt andauern.

Die Kirche versucht ihren Beitrag zu leisten, indem sie ihren Weg zeigt, den Weg der Gemeinschaft, als Antwort auf die Notwendigkeit der Einheit und die Verbreitung des Hasses. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Kommunismus immer darauf abzielte, die Kirche als Gemeinschaft zu zerstören. Wenn man also die den Kommunismus überlebende Kirche erneuern will, muss man die Kirche als Gemeinschaft stärken.

Hoffnung

20. »Ich aber bin unter euch wie der, der bedient« (Lk 22,27). Mit diesen Worten erklärte der Meister den Jüngern seine Verhaltensweise und forderte zugleich, dass sie von ihnen nachgeahmt werde (vgl. Lk 22,24 ff). Und als er dieses Gebot gab, bezog er sich auf die Führer der Völker, die in ihrer Amtsausübung andere Methoden anwenden, die Methoden der Macht und des Prestiges.

»Wer bedient«, tut Gutes in dem Bewusstsein, dadurch seine Sendung zu erfüllen, ohne deshalb zu beanspruchen, dass sein Dasein und seine Identität verändert werden; er ist ein Dienender, um zu dienen (vgl. Lk 17,10).

In der geschichtlichen Situation, in der sie sich befinden, können die Jünger sich dieser Berufung nicht entziehen, und indem sie der menschlichen und religiösen Gemeinschaft durch ihren Einsatz dienen, erfüllen sie den von ihrem Meister erhaltenen Dienstauftrag vor allem durch die Nachahmung seines Beispiels.

Sich als Diener unter den Völkern erweisen, deren Führer herrschen und sich Wohltäter nennen (vgl. Lk 22,25), bedeutet, ihnen den Zugang zu den Gütern zu öffnen, die sie von ihren Regierenden keinesfalls erwarten können: das Glaubensgut, die Gaben der Nächstenliebe, den Dienst der Hoffnung.

In diesem Augenblick der Geschichte des europäischen Kontinents hat diese Botschaft eine besondere Bedeutung, denn der, »der dient«, ist Jesus, der Auferstandene, der Herr, der lebt in seiner Kirche und in seinen Jüngern, die sein Werk fortsetzen. »Die Kirche aber glaubt: Christus, der für alle starb und auferstand, schenkt dem Menschen Licht und Kraft durch seinen Geist, damit er seiner höchsten Berufung nachkommen kann; es ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, in dem sie gerettet werden sollen. Sie glaubt ferner, dass in ihrem Herrn und Meister der Schlüssel, der Mittelpunkt und das Ziel der ganzen Menschheitsgeschichte gegeben ist. Die Kirche bekennt überdies, dass allen Wandlungen vieles Unwandelbare zugrunde liegt, was seinen letzten Grund in Chistus hat, der derselbe ist gestern, heute und in Ewigkeit«.(40)

Die Kirche ist Zeichen dieser Hoffnung, das heisst, sie verkündet die Wahrheit der auf die Güte und Menschenliebe Gottes gesetzten Hoffnung (vgl. Tit 3,4). Sie ermutigt die europäischen Völker, am Bewusstsein der eigenen Identität festzuhalten und im Blick auf die Zukunft einen geschichtlichen Optimismus zu fördern, den Optimismus der Hoffnung, während sie die von Gott in der Vergangenheit gewirkten »grossen Taten« betrachtet (vgl. Apg 2,11).


SCHLUSS

Theologische Hoffnung

21. Wenn die Kirche von Hoffnung spricht, will sie gewiss nicht die Wahrheit und die Kraft der Hoffnung und der Erwartungen leugnen, die die oft sehr tiefen, manchmal unterdrückten oder auch unbestimmten Bestrebungen der ganzen Menschheit zum Ausdruck bringen. Sie sind es, die die Geschichte der Menschheitsfamilie bewegen und ihre genialen wohltätigen Werke stützen, die durch ihren moralischen, sozialen und kulturellen Wert herausragen.

Es besteht jedoch die Gefahr, die Hoffnung im christlichen Sinn mit der menschlichen Hoffnung zu verwechseln. Die christliche Hoffnung ist transzendent und grundlegend im Bekenntnis der Kirche; sie ist eine theologale Tugend.

In diesem Ausblick ist Christus als Zeichen der Hoffnung für die Menschen zu verstehen. Die Kirche hat die Aufgabe, durch die Verkündigung dieser Botschaft der Hoffnung einen Dienst an der Gesellschaft zu leisten. Christus ist die Quelle der Hoffnung in diesem geschichtlichen Augenblick (kairos), vor allem im Hinblick auf Liturgie, Zeugnis und Dienst.

»Surrexit Christus, spes mea«, singt die Kirche in der liturgischen Sequenz des Ostertages. Die Auferstehung des Herrn ist die Fülle des Glaubens, denn wenn Christus nicht auferweckt wurde, ist unser Glaube nutzlos (vgl. 1 Kor 15,14.17); zugleich ist er das Fundament der Hoffnung (vgl. 1 Petr 1,21; 1 Kor 3,11; Röm 5,4.5), denn wie er auferweckt wurde als der Erste der Entschlafenen, so werden auch wir auferweckt werden (vgl. 1 Kor 15,20 ff.; 1 Thess 4,16 ff.).

Wir werden am letzten Tag auferstehen, und wir tun es unaufhörlich in der weltlichen Geschichte, die auf das Ziel unserer Werke hindrängt (vgl. 1 Petr 1,9). Die Geschichte Europas ist wie die Jünger von Emmaus unterwegs, um in den weltlichen Geschehnissen dem Herrn zu begegnen, wie die jüngsten Ereignisse zeigen und wie es das zukünftige Geschick des Kontinents erfordert. Denn Europa ist aus der Wurzel des Glaubens entstanden (Röm 11,16 ff.) und in kontinuierlicher Entwicklung seiner Anfänge an die Notwendigkeit gebunden, sich selbst über alle Hindernisse und Niederlagen hinweg die Gewissheit zu geben, dass es sich selbst wiederfindet und in Begleitung des auferstandenen Herrn für seine Völker Lösungen des Friedens und nicht des Unheils (vgl. Jer 29,11) zu finden weiss.

Er, der auferstanden ist und die Verheissung gegeben hat, ist treu (vgl. Hebr 10,23), und durch ihn werden wir der Hoffnung gemäss das ewige Leben erben (vgl. Tit 3,6-7). Seine Verheissung ist der Grund der Hoffnung, nicht das vom Vertrauen auf Gott getrennte Vertrauen auf die eigenen Kräfte (vgl. Jer 17,5). Der Katechismus der Katholischen Kirche betont, dass der Mensch »der göttlichen Liebe nicht aus eigener Kraft voll zu entsprechen« vermag,(41) und Europa weiss sehr gut, dass die »eigene Kraft« es manchmal verlassen hat. In der Treue zum Herrn und in seiner Auferstehung findet Europa hingegen die Quelle und Stütze der eigenen Hoffnung.

Spes nostra, salve

22. In Erwartung des Grossen Jubiläums des Jahres 2000 spielt die Synode für Europa ausserdem eine ganz besondere Rolle auf Grund eines gewissen Umstandes: der besonderen Präsenz der Gottesmutter in der Geschichte Europas. Die Einberufung der ersten Synodenversammlung für Europa erfolgte nach dem Zusammenbruch des Totalitarimus, der dann zu jenen neuen Lebensbedingungen führte, die jetzt als Anlass der Einberufung der zweiten Synodenversammlung bezeichnet werden. Dazu erklärt Johannes Paul II. ausdrücklich: »Es fiele einem schwer, nicht hervorzuheben, dass das Marianische Jahr den Ereignissen des Jahres 1989 unmittelbar vorausgegangen ist. Es sind Geschehnisse, die uns wegen ihres Umfanges und besonders wegen ihres raschen Ablaufes in Erstaunen versetzen müssen. Die achtziger Jahre hatten sich in Nachahmung des 'kalten Krieges' mit einer wachsenden Gefahr beladen; das Jahr 1989 hat eine friedliche Lösung mit sich gebracht, die gleichsam die Gestalt einer 'organischen' Entwicklung hatte ... Im übrigen konnte man festellen, dass in dem Strom der Ereignisse die unsichtbare Hand der Vorsehung mit mütterlicher Sorge am Werke war: 'Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen?' (Jes 49,15)Ç.(42) In seiner unbegrenzten Meditation über Europa entdeckt Johannes Paul II. intuitiv einen bestimmten ursprünglichen 'Ort' der 'organischen Entwicklung' der Wiedergeburt zu neuem Licht und neuer Würde. Das Marianische Jahr ist gleichsam eine Geburt, durch die Maria der Menschheit gegenüber erneut ihre Mütterlichkeit beweist, sie, die Mutter des Herrn, auf die die Menschen (vgl. Apg 1,11) und die Engel schauen (vgl. 1 Petr 1,12; Offb 4,6.8; 5,6 ff.) in Betrachtung und Erwartung des Erbarmens (vgl. Ps 123,2).

Diese Geschichte des Erbarmens und der Wundertaten berechtigt zu Hoffnung auch für die Gegenwart und die Zukunft. Die Kirche grüsst Maria weiterhin mit den althergebrachten Worten voll der Liebe und des Staunens: »Spes nostra, salve«.

Wenn die Mutterschaft Marias für Europa als eine providentielle Wiedergeburt vorstellbar ist, die die Tür zu aller Hoffnung öffnet, darf man nicht vergessen darauf hinzuweisen, dass die Zeichen der mütterlichen Gegenwart der jungfräulichen Mutter Gottes in Europa sehr zahlreich und deutlich sind. Es handelt sich um Orte, um Erscheinungen, um Eingriffe, die im Laufe der Geschichte beinahe physisch den Weg der Menschen in Europa begleitet haben. Es sind Heiligtümer und Gedächtnisstätten von Gebetserhörungen, zuvorkommender Hilfe und dringender Mahnung: mütterliche Sorge, die Sicherheit in der Gegenwart und zuversichtliche Erwartung für die Zukunft erweckt. So viele überwiegend marianische Orte sind aus der Geschichte und Geographie Europas nicht auszulöschende Zeichen, die die Eigenschaft hervorheben, welche die jungfräuliche Mutter dem höchsten Vorrang des Sohnes öhnlich macht; deshalb hat ein europäischer Dichter sie als »Quelle der Hoffnung« besungen.(43)

23. Die vielen beunruhigenden Ereignisse, die die jüngste Geschichte Europas gekennzeichnet haben, stellen die Hirten der Kirche vor schwierige Aufgaben: Unterscheidung und Anrufung des Geistes des Herrn, Beistand und pastorales Wirken sind die tägliche Sorge ihres kirchlichen Dienstes.

Die Hoffnung, die vom auferstandenen Herrn den Völkern Europas in diesem besonderen Augenblick ihrer Geschichte angeboten wird, erstrahlt auch vor den Augen der Hirten in ihren einzelnen Teilkirchen wie in der kommenden Synodenversammlung. Es ist die Hoffnung, dass die Aufgabe gelingen möge, in Europa durch die Neuevangelisierung ein neues Bewusstsein der eigenen Identität und eine verstärkte Fähigkeit zu entwickeln, den zukünftigen Weg zu erkennen und die guten Entschlüsse zu verwirklichen, um ihn mit einer wahren »Menschenliebe« (vgl. Tit 3,4) und im Gehorsam gegenüber dem Geist des Herrn der Völkergeschichte gehen zu können.

Die Lineamenta haben den Zweck, das Thema der zweiten Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa umfassend darzulegen und allgemeine Weisungen zu geben, die als Anstoss zur Betrachtung in den einzelnen Teilkirchen im Hinblick auf die Erwartungen und die Bedürfnisse jeder Gemeinde oder Bischofskonferenz dienen.

Mit dem beigelegten Fragebogen will man die unmittelbare Aufmerksamkeit auf die einzelnen Anträge lenken, zu Fragen ermutigen und Antworten veranlassen, die zwar aus begrenzten Gebieten kommen, aber dann zusammengefasst den notwendigen Gesamtüberblick für die Betrachtung ergeben werden, den die Kirche in Europa der kommenden Synodenversammlung vorlegen wird.

»Jesus Christus, der in seiner Kirche lebt, ist die Quelle der Hoffnung für Europa.« Am Vorabend des Grossen Jubiläums des Jahres 2000 ist er mehr denn je der Eckstein, das Zeichen der Völker, das in sich die Zeit, das Heute, und die Ewigkeit vereint, um dieses Teilstück der universalen Kirche zu stützen und in den Raum und die Zeit voranzutreiben mit dem Ziel, sie »herrlich vor sich erscheinen (zu) lassen, ohne Flecken, Falten oder andere Fehler; heilig ... und makellos« (Eph 5,27).

Die zur Synode versammelten Hirten wollen der Kirche in Europa mit neuem Eifer und neuen Kräften in neuer Weise das Wort, »ob man es hören will oder nicht« (2 Tim 4,23), verkünden: Jesus, den »Urheber des Lebens« (Apg 3,15), den »Urheber des Heils« (Hebr 2,10), den Urheber und Vollender des Glaubens« (Hebr 12,2) und auch Urheber unserer Hoffnung.


FRAGEBOGEN

Der vorliegende Fragebogen stellt einige Fragen, den einzelnen Abschnitten des Textes der Lineamenta folgend, um die Reflexion über verschiedene Themen anzuregen, damit die Formulierung der Antworten erleichtert wird im Hinblick auf die Zusammenstellung des künftigen Instrumentum laboris.

Während die Lineamenta notwendigerweise allgemein gehalten sind, soll der Fragebogen die Aufmerksamkeit auf die konkrete Lage der Gemeinschaften und der Ortskirchen lenken und zu offenen Antworten im einzelnen hinsichtlich der dringenden Erfordernisse und Erwartungen anregen.

Die Fragen betreffen Themen und Situationen, die in den Ortskirchen des heutigen Europas mit besonderer Dringlichkeit auftreten, aber nicht den Anspruch erheben, allen denkbaren Bestrebungen und Bedürfnissen zu entsprechen. Deshalb ist es freigestellt, den Antworten Vorschläge und Hinweise anzufügen, die den wahren Tatbestand wiedergeben.

Zwei Synoden für das Europa von heute

1. Die erste Sonderversammlung für Europa hat im Jahr 1991 stattgefunden, knapp zwei Jahre nach den Ereignissen von 1989, von deren Folgen man sich heute ein vollständigeres Bild machen kann.

Welche Spuren haben die Ereignisse von 1989 in Ihrer Kirche hinterlassen? Welche Vorzüge sind unter den neuen Lebensbedingungen in Europa erkenntlich? Kann man von Enttäuschungen - und welchen - nach den Ereignissen von 1989 sprechen? Welche positiven Anzeichen gibt es für die Aufnahme des Evangeliums? Welche Anzeichen der Erneuerung gibt es dafür, das Geheimnis des Herrn, der in seiner Kirche lebt, zu leben? Welche Gefahren und welche Bedrohungen zeigen sich?

2. Welches sind die Hauptsorgen des Bischofs in der religiösen und moralischen Situation der heutigen Gesellschaft in Europa? Wie hält er Gewissensprüfung hinsichtlich der neuen Bedingungen, und was ergibt sich daraus für seinen Dienst?

Kirche, Kultur und Gesellschaft

3. Wie reagiert Ihre Kirche angesichts des Pluralismus von Glaube und Kultur in Europa? Wie festigt man heute die Ethik in der Gesellschaft? Aus welchen kulturellen Wurzeln werden heute Atheismus, Agnostizismus und religiöse Gleichgültigkeit gespeist?

4. Wie zeigt sich in Ihrem Bereich die Spaltung zwischen Fortschritt und Werten des Geistes? Welche Folgen sehen Sie in der schwierigen Beziehung zwischen Freiheit und Solidarität? Wird die Religionsfreiheit bei Ihnen geachtet und akzeptiert, oder gibt es noch Zeichen von Intoleranz?

5. Welche Aspekte der Beziehungen zwischen Kirche und Staat sind zu vertiefen? Scheint Ihnen der Glaube manchmal zum Schutz der Nationalismen missbraucht zu werden?

Die Kirche Geheimnis, Gemeinschaft und Sendung

6. Wird in Ihrer Umgebung die Kirche als Geheimnis, Gemeinschaft und Sendung verstanden oder überwiegt ein anderes Kirchenverständnis?

Geheimnis und Liturgie in der Kirche

7. Welche Beachtung und Aufmerksamkeit wird in Ihrer Kirche dem göttlichen Geheimnis geschenkt, das der Liturgie und den Gottesdiensten innewohnt? Stellt die Liturgie ein Geschehen der Gegenwart Gottes und eine Zeit der Vereinigung mit dem Herrn dar, oder überwiegt in ihr die äussere Erscheinungsform von menschlichen Fähigkeiten und Gaben, z. B. Vorsitz der Versammlung, Einhaltung des Zeitplans, Ablauf der Riten und Gebrauch der Stimme und der Gebärden?

8. Wie zeigt sich in Ihrem Bereich das Verlangen nach Spiritualität, und wie wird es erfüllt?

Gemeinschaft und Dienst in der Kirche

9. Wodurch bekunden die Gläubigen in Ihrer Kirche heute die Gemeinschaft mit Gott und mit dem Nächsten? Wie arbeiten Laien und Priester zusammen bei der Verwirklichung der Gemeinschaft in der Kirche? Welche Kontakte werden mit den weniger gläubigen Christen oder mit den Fernstehenden geknüpft?

10. Hat in Ihrem Bereich die mangelnde Einheit unter den Christen besondere Auswirkungen? In welcher Weise zeigt sich die Ökumene in Ihrer Kirche? Welche Erfahrungen und welche Schwierigkeiten haben Sie in den Beziehungen mit den anderen Kirchen? Wie bewerten und wie begegnen sie dem Phänomen der Sektenverbreitung?

11. Gemeinschaft ist ein Vorzug der Kirche, wird aber auch eine Aufgabe: Wie zeigt sich in Ihrer Kirche dieser Dienst der Gemeinschaft, der in den verschiedenen Bereichen und an den einzelnen Personengruppen innerhalb und ausserhalb der kirchlichen Gemeinschaft zu leisten ist?

Sendung und Zeugnis der Kirche

12. Konzentriert sich die Neuevangelisierung in Ihrem Dienst auf die Person Jesu Christi, der in der Kirche lebt, unter Berücksichtigung der neuen anthropologischen und geschichtlichen Bedingungen? Wird die Neuevangelisierung als eine erstrangigige Verpflichtung empfunden? Wenn Europa eine christliche Seele hat, kann die geistliche Bedeutung der sozialen und politischen Entwicklung in Ihrer Kirche ein Weg zur Neuevangelisierung werden? Inwieweit fördert die neue Freiheit in Europa die Neuevangelisierung? Welche Hindernisse bestehen bei Ihnen für die Neuevangelisierung?

13. Welche Prioritäten im christlichen Zeugnis werden in Ihrem Umfeld verlangt? Welche Personen brauchen am dringendsten das Liebeszeugnis der Christen? Wie gestaltet sich der Dienst für das Leben vom Augenblick der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende? Welche Aufmerksamkeit wird auf den Missbrauch von Personen und auf die Personen verwandt, die durch materielle und moralische Not am meisten gefährdet sind?

Jesus Christus, die Kirche und die Hoffnung

14. Jesus Christus, der in seiner Kirche lebt, ist Quelle der Hoffnung für Europa. Auf welche Weise können Spiritualität, Gemeinschaft und missionarisches Zeugnis der Kirche die Hoffnung in Europa heute nähren? Gründet das Angebot der Hoffnung Ihrer Kirche auf Gütern, die dem Evangelium eigen sind, oder stützt es sich auf andere Mittel?

Andere Themen

15. Gibt es in Ihrer Kirche Forderungen und Erwartungen, die weder im Fragebogennoch im Text dieser Lineamenta enthalten, aber von pastoraler Dringlichkeit und für die anderen Teilkirchen von Interesse sind? Haben Sie weitere Themenvorschläge für die Synode?


AUSLESE AUS TEXTEN

DES HEILIGEN VATERS ÜBER EUROPA

Anlässlich der Feier der ersten Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa wurde eine Textauslese der Lehräusserungen des Heiligen Vaters Johannes Paul II. herausgegeben. Die Leser stellten mit grosser Bewunderung fest, mit wieviel beharrlichem Eifer der Papst Ansprachen, Botschaften und Aufrufe dem Thema Europa, den Neuheiten, mit denen es konfrontiert worden war, und seiner noch verschwommenen, aber durch untrügliche Zeichen doch schon deutlich aufscheinenden Zukunft gewidmet hatte.

Dieses hohe Lehramt, das auch ausserhalb der Kirche Aufmerksamkeit erweckt, hat sich fortgesetzt in den nachfolgenden Jahren, die von den dramatischen geschichtlichen Ereignissen der Neuordnung der Grenzen, der Erneuerung der Gewissen und der Wiedererlangung der Freiheit gekennzeichnet waren.

Bis zum heutigen Tag hat seitdem diese »unbegrenzte Meditation« über Europa keine Unterbrechung erfahren, und am Vorabend der zweiten Sonderversammlung sieht man, wie sich diese wahre »Summa de Europa«, die der Heilige Vater als engagierten und besorgten Beitrag für diesen Erdteil und diese Kirche schreibt, ständig erweitert.

In der vorliegenden Textauslese sind Lehräusserungen Johannes Pauls II. von 1992 bis heute in bezug auf die Völker Europas zusammengestellt. Es handelt sich nur um eine Auslese, die den Leser dazu anregen soll, aus der eigentlichen Quelle die ganze Reichhaltigkeit des derzeitigen päpstlichen Lehramtes zu diesem Thema zu schöpfen.


1 - Ansprache an die Vorsitzenden der europäischen Bischofskonferenzen am 1. Dezember 1992siehe L'Osservatore Romano deutsch Nr. 50/1992, S.7-8.

1. ...Angesichts der neuen Lage, die auf das Jahr 1989 zurückgeht, ergab sich die Notwendigkeit neuer Strukturen vor allem des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (C.C.E.E.), da dieser an und für sich die Kirche auf dem ganzen Erdteil einschliesst...Gerade um seiner institutionellen Aktivität neue Kraft und autoritative Wirksamkeit zu verleihen, sind die Vorsitzenden der einzelnen Bischofskonferenzen selbst dazu bestimmt, Mitglieder des Rates zu sein...

2. ...Wenn das Wort »synodos« »Gemeinschaft der Wege« bedeutet, welche die Kirche beschreitet, dann muss der Bischofsrat diese »Gemeinschaft« systematisch verwirklichen, vertiefen und verstärken. Das erfordert die innere Dynamik der Kirche. Das erfordern auch die Sendung der Kirche in der Welt von heute (vgl. Gaudium et spes) und ihr Dienst am Menschen, »am europäischen Menschen zwischen Atlantik und Ural«, weil gerade er der »Weg« der Kirche auf diesem Erdteil ist...

3. ...Wenn wir von »Neuevangelisierung« sprechen, dann deshalb, weil sie immer und überall »neu« ist. »Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit« (Hebr 13,8). Diese »Neuheit« gehört zur Identität des Evangeliums und der Evangelisierung, die für die Zeugen Christi eine ständige, nie endende Aufforderung ist ... Die Aufforderung zur Evangelisierung ist daher immer aktuell ...

Was hingegen Europa betrifft, so ist bekannt, dass es in unserem Jahrhundert von den starken Strömungen einer »Gegen-Evangelisierung« heimgesucht wurde ... Da wir ihnen überall begegnen, sind seitens der Kirche Erneuerung und grössere Bereitschaft zu einem treuen Zeugnis für Christus erforderlich, der »derselbe gestern, heute und in Ewigkeit« ist ...

4. ...Die Erklärung der vorjährigen Synode hat die Notwendigkeit der Zusammenarbeit aller Christen für die Sache des Evangeliums betont. Was uns betrifft, so wollen wir alles nur Mögliche im Interesse dieser ökumenischen Zusammenarbeit tun.


2 - Ansprache an den Rat der europäischen Bischofskonferenzen am 16. April 1993siehe L'Osservatore Romano deutsch Nr. 17/1993, S. 8-9.

Ehrwürdige Brüder im Bischofsamt!

1. Die Liturgie dieser Tage läbt uns über die Aufforderung des ersten Petrusbriefes nachdenken, »ein geistiges Haus« aufzubauen, um geistige Opfer darzubringen, die Gott gefallen (vgl. 1 Petr 2,5).

Diese Worte helfen uns zu einem noch tieferen Verständnis von Wert und Tragweite des Wirkens der Kirche in dieser einzigartigen Stunde der europäischen Geschichte: Es geht um das Wirken für die Neuevangelisierung und um die tatkräftige Mitarbeit am Aufbau des »neuen Europa«, das für universale Solidarität offen ist.

In diesem Zusarnmenhang kann man die derzeitige Tagung gewissermassen als »historisch« bezeichnen, weil sie nicht nur dem Rat der Europäichen Bischofskonferenzen (C.C.E.E.) einen entschiedenen Impuls für sein schon seit vielen Jahren bewährtes Wirken gibt, sondern dazu beiträgt, ihn den »Zeichen« und »Aufgaben« der gegenwärtigen Stunde anzupassen, um ihn zu einem wirksamen Werkzeug der Neuevangelisierung im Hinblick auf das dritte Jahrtausend des Christentums zu machen. Wir müssen gemeinsam die geeignetsten Wege für die Evangelisierung Europas und die Förderung einer echten sozialen Erneuerung suchen, die sich auf den auferstandenen Christus gründet, »den lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen, aber von Gott auserwählt und geehrt worden ist« (1 Petr 2,4). Die Hirten scharen sich daher um Christus, setzen ihr Vertrauen auf ihn und gründen ihre apostolischen und missionarischen Pläne auf ihn und einzig auf ihn.

Mit diesen Absichten sind wir zur Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa im Herbst 1991 zusammengekommen und haben, »in Christi Namen vereint (vgl. Mt 18,20), darum gebetet, dass wir hören können, was der Geist heute den Kirchen Europas sagt (vgl. Offb 2,7.11.17), und dass die Kirchen es verstehen, die Wege für die Neuevangelierung unseres Kontinents zu erkennen« (Schlusserklärung, Vorwort).

2. Aus dieser wichtigen Synodenversammlung haben sich Weisungen und Vorschläge ergeben, die der C.C.E.E. in seiner neuen Zusammensetzung nun vertiefen und durchführen muss ...

3. Die Geschichte des C.C.E.E. beginnt in den Jahren unmittelbar nach dem Konzil als Antwort auf das von vielen empfundene Bedürfnis, geeignete Formen der Zusammenarbeit zwischen den Kirchen Europas zu finden. Nach den ersten Symposien — 1967 in Noordwijkerhout (Niederlande) und 1969 in Chur (Schweiz) —, die den Bischöfen des ganzen europäischen Kontinents offenstanden, wurde in Rom bei der Begegnung vom 23. bis 24. März 1971 das »Consilium Conferentiarum Episcopalium Europae« gegründet, dessen Statuten am 10. Januar 1977 von der Kongregation für die Bischöfe approbiert wurden. Es folgten weitere Symposien, alle in Rom, während dank der regelmässigen Kontakte der Vertreter der verschiedenen Bischofskonferenzen, vor allem von Westeuropa, die miteinander leicht in Verbindung treten und sich treffen konnten, der Austausch von Informationen, Erfahrungen und Meinungen über die wichtigsten pastoralen Probleme jeder einzelnen Nation immer intensiver wurde und sich damit der Geist wirklicher Zusammenarbeit und brüderlicher Gemeinschaft auf europäischer Ebene festigte.

Verschwiegen sei auch nicht der Beitrag für den ökumenischen Dialog mit den verschiedenen christlichen Konfessionen durch eine entsprechende gemischte Arbeitsgruppe, die 1971 zwischen dem C.C.E.E. und der Konferenz der Kirchen Europas (K.E.K.) geschaffen wurde. Besondere Aufmerksamkeit galt auch den Problemen der anderen Religionen.

Die Früchte dieses geduldigen Hörens und brüderlichen Suchens sind tröstlich: Es reifte nämlich ein Klima gegenseitiger Achtung heran, und es erweiterte sich die Zusammenarbeit unter den Christen des ganzen Kontinents, denen es allen ein Anliegen war, den Menschen unserer Zeit die Heilsbotschaft des Evangeliums zu verkündigen.

4. Untersucht man die Themen näher, die bei den verschiedenen Vollversammlungen des C.C.E.E. behandelt wurden, stellt man mit der Zeit eine gewisse Entwicklung fest: In den ersten Jahren lag der Akzent auf den typisch nachkonziliaren Themen; dann wandte sIch das Interesse den mehr spezifisch europäischen Problemen zu. Angesichts des tiefreichenden und komplexen Wandels der Gesellschaft in Kultur, Politik, Ethik und Geistigkeit reifte immer mehr das Bewusstsein für eine neue Evangelisierung.

Nach den Ereignissen von 1989, die seit langen Jahren herrschende Ideologien zusammenbrechen und historische Grenzen zwischen den Völkern Europas fallen liessen, stellte die Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa im Jahre 1991 in diesem Zusammenhang einen wichtigen und providentiellen Abschnitt dar. In der Schlusserklärung heisst es: »Europa kann heute nicht schlechthin auf sein vorgegebenes christliches Erbe hinweisen: Es geht nämlich darum, zu der Fähigkeit zu gelangen, erneut über die Zukunft Europas zu entscheiden in der Begegnung mit der Person und der Botschaft Jesu Christi.«

Europa ist daher zu einer notwendigen und mutigen »Selbstevangelisierung« aufgerufen, einer Aufgabe, der sich die Kirche im Rahmen der gewandelten sozialen und politischen Verhältnisse widmen möchte, die gewiss eine fruchtbarere Begegnung und einen »Austausch der Gaben« zwischen den kirchlichen Gemeinschaften von Ost und West fördern werden.

Von Herzen wünsche ich und bete darum, dass der Herr die bis heute von eurem Organ eingeleiteten Bemühungen segne und eurem besonders wichtigen Wirken für die Zukunft des Kontinents immer weiter reichenden Schwung schenkt.

5. Der C.C.E.E. befindet sich tatsächlich bei der neuen Evangelisierung Europas vor schwierigen Aufgaben: Er muss eine immer intensivere Gemeinschaft zwischen den Diözesen und den nationalen Bischofskonferenzen aufbauen, ferner die ökumenische Zusammenarbeit unter den Christen und die Überwindung der Hindernisse fördern, die die Zukunft des Friedens und des Fortschritts der Völker bedrohen, endlich auch die affektive und effektive Kollegialität und die hierarchische »Communio« verstärken.

Ehrwürdige Brüder im Bischofsamt, gestattet mir, hier einige Gedanken vorzutragen, die, wie ich hoffe, für eine bessere Durchführung eurer Arbeiten in diesem Abschnitt der Erneuerung und Programmierung nützlich sind.

Im Licht der positiven Erfahrungen der vergangenen Jahre wird sich der C.C.E.E. als kontinentales Organ mit den Problemen beschäftigen müssen, die mit der Lage und den Aufgaben der Kirche in Europa verbunden sind. Wenn es wahr ist, dass jede nationale Konferenz sich aufgrund der notwendigen Subsidiarität in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich ebenso wie der Hirt einer Diözese dem ihrer Sorge anvertrauten Teil des Volkes Gottes widmet, so ist doch leicht zu erkennen, dass sie den eigenen Horizont nicht auf die Grenzen ihrer Nation beschränken darf, da ja die Wirklichkeit immer einen besonders europäischen Zuschnitt hat. Die Aufgabe des C.C.E.E. besteht also in der Untersuchung der Probleme von diesem Gesichtspunkt aus und in der Bewertung der übernationalen Auswirkugen, damit so den Episkopaten einer jeden Region und den Hirten der Ortskirchen eine wertvolle Hilfe geboten wird.

6. Unerlässlich ist es, die Menschen in Europa und das, was sich auf sie bezieht, zu kennen, wenn wir die Heilssendung des Volkes Gottes auf dem Kontinent erfüllen wollen. Doch eine solche vertiefte Kenntnis ist ebenso wichtig, wenn der C.C.E.E. vor der öffentlichen Meinung und ihren verschiedenen Trägern massgeblich als Zeuge und Sprecher einer deutlichen Präsenz der Kirche auftreten will. Die Gemeinschaft der Glaubenden kann damit ihre eigene Stimme auch in den bürgerlichen Bereichen zu Gehör bringen als Stimme einer einmütigen Gemeinschaft, die ganz darauf bedacht ist, das Evangelium der Hoffnung und der Liebe zu verkünden.

Von diesem Gesichtspunkt aus erweist sich der Dialog mit den anderen in der K.E.K. vereinten christlichen Konfessionen als besonders angebracht. Die Zusammenarbeit muss freilich vor allem im Hinblick auf die fortschreitende Wiederherstellung der vollen Einheit unter den Christen auf dem »alten« Kontinent erfolgen, wo anfänglich die Spaltungen aufgetreten sind und zu leidvollen Gegensätzen geführt haben.

Über die Subsidiarität hinaus muss sich der C.C.E.E. damit bei seinem Wirken auch von der Solidarität in ihren vielfältigen Aspekten leiten lassen: Solidarität unter den katholischen Episkopaten, Solidarität im Suchen nach der Einheit aller Christen, Solidarität endlich mit Europa, dem Kontinent, wo verschiedene Völker den Weg des politisch-sozialen und wirtschaftlichen Ausgleichs beschritten haben. Durch den C.C.E.E. wird die Kirche versuchen müssen, der kontinentalen Gemeinschaft ein »Mehr an Seele« einzuflössen, um in ihr das neu lebendig zu machen, was man »die Seele Europas« nennen könnte.

7. Wie sollen wir uns hier, ehrwürdige und liebe Brüder im Bischofsamt, nicht klar machen, dass all dies eng mit der historischen Wende zum neuen Jahrtausend hin verbunden ist? Eine Sendung zur Evangelisierung von sehr weiten Ausmassen drängt uns. Es gilt, die christlichen Wurzeln der verschiedenen Nationen und des ganzen Kontinents neu zu entdecken und zu festigen; es gilt, den christlichen Sauerteig wirken zu lassen, der die vielfältigen Ausdrucksformen seines kulturellen Erbes durchdrungen hat und die Präsenz der Triebkraft des Evangeliums im »Heute« und »Morgen« Europas zu fördern, zumal angesichts der unverhüllten Versuche, den Glauben und die Heilswahrheit von jeder Ausdrucksform des öffentlichen Lebens auszuschliessen.

Könnte man nicht gerade in bezug auf diese dringende Evangelisierung an ein europäisches »Programm« denken im Hinblick auf das kommende Jubiläum des Glaubens im Jahre 2000?

8. Die Solidarität, die das Verhältnis zwischen den verschiedenen Gruppen der kirchlichen und staatlichen Gemeinschaft bestimmen soll, wird den C.C.E.E. gewiss zu einer Erweiterung der Horizonte und zur Aufnahme von Kontakten und Absprachen auch mit den Kirchen und Völkern »ausserhalb Europas« anspornen. Es geht hier nicht nur um ein organisatorisches Problem und um ständige Beziehungen, die mit analogen Organen auf anderen Kontinenten anzuknüpfen sind. Das Ziel ist weit höher, und die Aufgabe, die euch erwartet, ist viel wichtiger. Es geht darum, die starke Solidarität hervorzuheben, die zwischen Europa und den LändernAfrikas, Asiens und Amerikas besteht. Der europäische Kontinent und die auf ihm wirkenden Kirchen besitzen hier Verdienste, haben aber auch Pflichten zu erfüllen. In diesem Bewusstsein zu wachsen und in der solidarischen Überzeugung zu reifen, dass die einen für die anderen verantwortlich sind, vor allem für die Ärmsten und weniger vom Glück Begünstigten, wird euer ständiges Anliegen sein, wenn ihr dem Evangelium der Liebe und des Friedens entsprechen wollt, das der Auferstandene in dieser Osterzeit der ganzen Menschheit machtvoll verkündet.

9. Wir wenden uns daher an Christus, den Sieger über Tod und Sünde, um unsere Bereitschaft zu bekräftigen, mit dem Einsatz unserer eigenen Person jenes »geistige Haus« aufzubauen, in welchem seine Gerechtigkeit und seine Liebe herrschen. Gewiss sind wir uns sehr wohl unserer Grenzen bewusst, doch ebenso mächtig ist unsere Gewissheit über seine Präsenz und sein ständiges Heilswirken.

Die Sendung der Gläubigen, ehrwürdige Brüder im Bischofsamt, ist immer und überall auf die Zukunft gerichtet: auf die eschatologische Zukunft, die uns im Glauben sicher ist, aber auch auf die geschichtliche Zukunft, die für uns menschlicherweise unsicher sein kann. Denken wir an die ersten Glaubensboten des europäischen Kontinents, an die heiligen Petrus und Paulus; an den heiligen Benedikt, den Vater des abendländischen Mönchtums, der für die Formung des christlichen Europa so grosse Bedeutung gehabt hat; denken wir ebenso an alle, die die Wege des Evangeliums zu den jungen Völkern hin geebnet haben, wie Augustinus, Bonifatius oder die heiligen Brüder Kyrill und Method aus Tessalonich. Auch sie waren sich des menschlichen Gelingens ihrer Sendung nicht sicher und nicht einmal ihres eigenen Schicksals. Aber mächtiger als alle Unsicherheit war ihr Glaube, und fest war ihre Hoffnung; mächtiger war die Liebe Christi, die sie drängte (vgl. 2 Kor 5,14). In ihrem apostolischen Wagemut wurde der handelnde und heiligmachende Geist sichtbar. Wie sie sind auch wir aufgefordert, in der Zeit, in der wir leben, gelehrige und wirksame Werkzeuge für das Handeln des Geistes zu sein.

Darum bitten wir Maria, den Stern der Evangelisierung, und wir vertrauen ihr die Entwicklung des neuen CCEE im Dienst des europäischen Kontinents und seiner christlichen Zukunft an.

Mit diesen Gefühlen danke ich euch für die Arbeit dieser Tage und spreche erneut einem jeden herzliche und brüderliche Osterwünsche aus. Hinzu füge ich einen besonderen Apostolischen Segen für euch und die eurer pastoralen Sorge anvertrauten kirchlichen Gemeinschaften.


3 - Botschaft anlässlich des 50. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa siehe L'Osservatore Romano deutsch Nr. 20/1995, S.7-9

1. Vor fünfzig Jahren, am 8. Mai 1945, endete auf europäischem Boden der Zweite Weltkrieg. Während das Ende jener furchtbaren Heimsuchung in den Herzen die Erwartung auf Rückkehr der gefangenen, verschleppten und geflüchteten Menschen wiederaufleben lieb, weckte es in ihnen zugleich das Verlangen, ein besseres Europa aufzubauen. Der Kontinent konnte wieder beginnen, auf eine Zukunft in Frieden und Demokratie zu hoffen.

Nach einem halben Jahrhundert bewahren Einzelpersonen Familien und Völker noch immer die Erinnerung an jene sechs schrecklichen Jahre: Erinnerungen an Angst, Gewalt, grösste Not, Tod; dramatische Erfahrungen schmerzlicher, durch den Entzug jeglicher Sicherheit und Freiheit erlebter Trennungen; unauslöschliche Erschütterungen durch grenzenlose Vernichtung.

Im Laufe der Zeit beginnt man den Sinn besser zu verstehen

2. Es war zunächst nicht leicht, die vielfältigen und tragischen Ausmasse des Konfliktes genau zu erfassen. Aber im Laufe der Jahre wuchs das Bewusstsein davon, welche Auswirkung jenes Geschehen auf das 20. Jahrhundert und auf die Zukunft der Welt hatte. Der Zweite Weltkrieg war nicht nur eine historische Episode ersten Ranges; er hat einen Wendepunkt für die moderne Menschheit bezeichnet. Die Erinnerungen dürfen mit den Jahren nicht verblassen; vielmehr sollen sie unserer und den kommenden Generationen eine ernste Lehre sein.

Was jener Krieg für Europa und für die Welt bedeutet hat, begann man in diesen fünf Jahrzehnten durch die Gewinnung neuer Daten zu begreifen, die eine bessere Kenntnis der von ihm verursachten Leiden erlaubten. Die zwischen 1939 und 1945 erlebte tragische Erfahrung stellt heute einen unerlässlichen Bezugspunkt für jeden dar, der über die Gegenwart und die Zukunft der Menschheit nachdenken will.

1989 habe ich aus Anlass des fünfzigsten Jahrestages des Kriegsausbruchs geschrieben: »Fünfzig Jahre danach haben wir die Pflicht, uns vor Gott dieser dramatischen Tatsachen zu erinnern, um die Toten zu ehren und all denen, die diese Flut der Grausamkeit an Herz und Leib verwundet hat, unsere Anteilnahme zu bekunden, indem wir die Beleidigungen vollständig vergeben.«

Wir müssen die Erinnerung an das Geschehene wachhalten: genau das ist unsere Pflicht. Gleichzeitig mit dem eben erwähnten Jahrestag begannen sich vor nunmehr sechs Jahren mit dem raschen Sturz der kommunistischen Regime in Osteuropa ganz neue gesellschaftliche und politische Szenarien abzuzeichnen. Es handelte sich um eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung, die die Tilgung einiger tragischer Folgen des Weltkrieges ermöglichte, dessen Ende ja für viele europäische Nationen in der Tat nicht den Beginn des vollen Genusses von Frieden und Demokratie bedeutet hatte, wie es am 9. Mai 1945 eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Denn einige Völker hatten die Macht der Selbstbestimmung verloren und waren in die erdrückenden Grenzen eines Reiches hineingezwungen worden, während alles daran gesetzt wurde, ausser den religiösen Traditionen auch ihre geschichtliche Erinnerung und die jahrhundertealten Wurzeln ihrer Kultur zu zerstören. Das alles habe ich in der Enzyklika Centesimus annus hervorgehoben. Für diese Völker hat der Zweite Weltkrieg in gewissem Sinne erst im Jahr 1989 aufgehört ...

Der Krieg ist nicht verschwunden

11. Nach dem Jahr 1945 war es mit Kriegen leider nicht endgültig vorbei. Gewalt, Terrorismus und bewaffnete Angriffe haben diese letzten Jahrzehnte weiter heimgesucht.

Wir haben den sogenannten »kalten Krieg« erlebt, in dem sich zwei durch ständiges Wettrüsten im Gleichgewicht befindliche Blöcke drohend gegenüberstanden. Und auch als diese zweipolige Konfrontation aufhörte, bedeutete das nicht das Ende kriegerischer Auseinandersetzungen.

Noch heute gibt es zu viele offene Konflikte in verschiedenen Teilen der Welt. Die öffentliche Meinung, betroffen von den schrecklichen Bildern, die täglich durch das Fernsehen in die Häuser gelangen, reagiert emotional, gewöhnt sich aber schliesslich allzu schnell daran und nimmt die Unabwendbarkeit der Ereignisse nahezu hin. Das ist nicht nur ungerecht, es ist höchst gefährlich. Man darf nicht vergessen, was in der Vergangenheit geschehen ist und was auch heute geschieht. Das sind Dramen, die zahllose unschuldige Opfer betreffen, deren Schreckens- und Leidensschreie an das Gewissen aller rechtschaffenen Menschen appellieren. Der Logik der Waffen kann und darf man nicht nachgeben!

Der Heilige Stuhl wollte auch durch die Unterzeichnung der wichtigsten internationalen Verträge und Abkommen die Staatengemeinschaft auf die Dringlichkeit hinweisen — und tut das weiterhin unermüdlich —, die Vorschriften in bezug auf die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen und die Vernichtung der chemischen und biologischen Waffen sowie besonders schrecklicher Waffen mit unterschiedlichen Wirkungen zu verschärfen. Ebenso hat der Heilige Stuhl kürzlich die öffentliche Meinung aufgefordert, sich das fortdauernde Phänomen des Waffenhandels klarer bewusst zu machen, eine schwerwiegende Erscheinung, über die eine ernsthafte sittliche Reflexion dringend geboten ist. Es gilt auch daran zu erinnern, dass nicht nur die Militarisierung der Staaten, sondern auch der leichte Zugang zu den Waffen von seiten von Privatleuten, der der Ausbreitung des organisierten Verbrechens und des Terrorismus Vorschuss leistet, eine unvorhersehbare und ständige Bedrohung für den Frieden darstellt.

Eine Schule für alle Gläubigen

12. Nie wieder Krieg! Ja zum Frieden! Das waren die allgemein bekundeten Gefühle unmittelbar nach jenem historischen 8. Mai 1945. Die sechs schrecklichen Jahre des Krieges waren für alle eine Gelegenheit zum Reifen in der Schule des Schmerzes: auch die Christen hatten Gelegenheit, einander wieder näherzukommen und sich nach ihrer Verantwortung für die unter ihnen herrschenden Spaltungen zu fragen. Ausserdem haben sie die Gemeinsamkeit eines Schicksals wiederentdeckt, das sie untereinander und mit den anderen Menschen jeder Nation vereint. Auf diese Weise hat sich das Geschehen, welches des Höchstmass der Zerrissenheit und Spaltung zwischen den Völkern und Menschen bedeutet hat, für die Christen als eine von der Vorsehung gewollte Gelegenheit erwiesen, um sich einer tiefen Gemeinschaft im Leiden und im Zeugnis bewusst zu werden. Unter dem Kreuz Christi haben Mitglieder aller christlichen Kirchen und Gemeinschaften bis zum äussersten Opfer Widerstand geleistet. Viele von ihnen haben in vorbildlicher Weise mit den friedlichen Waffen des erlittenen Zeugnisses und der Liebe die Folterer und Unterdrücker herausgefordert. Zusammen mit anderen, Gläubigen und Nichtgläubigen, Männern und Frauen jeder Rasse, Religion und Nation, haben sie ganz oben, über der Flut von Gewalt, eine Botschaft der Brüderlichkeit und Vergebung verbreitet.

Sollte man an diesem Jahrestag etwa nicht solcher Christen gedenken, die, während sie Zeugnis gegen das Böse ablegten, für die Unterdrücker gebetet und sich niedergebeugt haben, um die Wunden aller zu pflegen? Im Miteinander des Leidens konnten sie sich als Brüder und Schwestern erkennen und erlebten die ganze Sinnwidrigkeit ihrer Spaltungen, Das geteilte Leid hat sie die Last der Spaltungen, die zwischen den Jüngern Christi noch immer bestehen, und ihrer negativen Konsequenzen für den Aufbau der geistigen, kulturellen und politischen Identität des europäischen Kontinents in höchstem Masse empfinden lassen. Ihre Erfahrung ist für uns eine Mahnung: Auf dieser Linie gilt es weiterzumachen, mit intensivem Gebet und Arbeit voller Vertrauen und Grossherzigkeit im Blick auf das bevorstehende Jubiläumsjahr 2000. Mögen sie mit einer Pilgerschaft der Busse und Wiederversöhnung den Weg zu jenem Ziel einschlagen in der Hoffnung, endlich die volle Gemeinschaft zwischen allen, die an Christus glauben, verwirklichen zu können, was der Sache des Friedens mit Sicherheit zum Vorteil gereichen wird.

13. Die Woge von Schmerz, die sich mit dem Krieg über die Erde ergossen hat, hat die Gläubigen aller Religionen veranlasst, ihre geistig-geistlichen Mittel und Fähigkeiten in den Dienst am Frieden zu stellen. Jede Religion hat, wenn auch mit unterschiedlichem Verlauf, in diesen fünf Jahrzehnten einzigartige Erfahrungen solcher Art erlebt. Die Welt ist Zeuge dafür, dass nach der furchtbaren Tragödie des Krieges im Bewusstsein der Gläubigen der verschiedenen Religionsbekenntnisse etwas Neues entstanden ist: Sie fühlen sich in höherem Masse verantwortlich für den Frieden unter den Menschen und haben begonnen untereinander zusammenzuarbeiten. Der »Weltgebetstag für den Frieden« am 27. Oktober 1986 in Assisi hat diese im Leiden gereifte Haltung öffentlich gewürdigt. Assisi hat »das enge Band, das eine echte religiöse Haltung und das grosse Gut des Friedens miteinander verbindet«, offenbar gemacht. In den nachfolgenden »Gebetstagen für den Frieden auf dem Balkan« (9.-10 Januar 1993 in Assisi und am 23. Januar 1994 in St. Peter) wurde im besonderen der spezifische Beitrag hervorgehoben, den die Gläubigen zur Förderung des Friedens durch die Waffen des Gebetes und der Busse leisten sollten.

Die Welt, die kurz vor dem Ende des zweiten Jahrtausends steht, erwartet von den Gläubigen ein entschiedeneres Handeln für den Frieden. Zu den Vertretern der christlichen Kirchen und der grossen Weltreligionen, die 1989 zum 50. Jahrestag des Kriegsausbruchs in Warschau zusammengekommen waren, sagte ich: »Aus dem Herzen unserer verschiedenen religiösen Traditionen erwächst das Zeugnis der mitleidenden Teilnahme an den Schmerzen des Menschen, der Achtung vor der Heiligkeit des Lebens. Dies ist eine gewaltige geistige Kraft, die Vertrauen erweckt für die Zukunft der Menschheit.« Das traurige Geschehen des Zweiten Weltkrieges macht uns nach fünfzig Jahren stärker das Erfordernis bewusst, mit neuer Kraft und neuem Einsatz diese geistigen Kräfte freizusetzen.

In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass gerade die schreckliche Erfahrung des Krieges Anstoss zur Entstehung der Organisation der Vereinten Nationen gewesen ist, die von Papst Johannes XXIII. seligen Andenkens wegen deren »Hauptaufgabe, den Frieden unter den Völkern zu schützen und zu festigen«, als eines der Zeichen unserer Zeit angesehen wurde. Als Reaktion auf die grausame Missachtung der Würde und der Rechte der Menschen ist ausserdem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte entstanden. Der fünfzigste Jahrestag der Vereinten Nationen, der in diesem Jahr begangen wird, sollte Anlass sein, den Einsatz der internationalen Gemeinschaft im Dienst am Frieden zu verstärken. Dazu wird es notwendig sein, der Organisation der Vereinten Nationen die Mittel zu gewährleisten, derer sie bedarf, um ihre Sendung wirksam fortsetzon zu können.

Noch immer rüsten einige zum Krieg

14. In diesen Tagen werden in vielen Teilen Europas Gedenkfeiern und Kundgebungen abgehalten, an denen staatliche Autoritäten und Verantwortliche jeder Gemeinschaft und jedes Landes teilnehmen. Während ich mich dem Gedenken an Leid und Tod der vielen Opfer des Krieges anschliesse, möchte ich alle Menschen guten Willens einladen, ernsthaft über den unabdingbaren Zusammenhang nachzudenken, der zwischen dem Gedenken an den schrecklichen Weltkrieg und der Ausrichtung der nationalen und internationalen Politik bestehen muss. Im besonderen wird es darauf ankommen, über wirksame Mittel zur Kontrolle des internationalen Waffenhandels zu verfügen und zugleich geeignete Strukturen zum Eingreifen im Krisenfall vorzusehen, die alle Parteien dazu veranlassen sollen, statt der bewaffneten Auseinandersetzung lieber den Verhandlungsweg zu wählen. Trifft es etwa nicht zu, dass es, während wir die Wiedererlangung des Friedens feiern, leider noch immer Leute gibt, die sowohl durch die Forderung einer Kultur des Hasses wie durch die Verbreitung raffinierter Kriegswaffen zum Krieg rüsten? Trifft es etwa nicht zu, dass in Europa schmerzliche offene Konflikte bestehen, die seit Jahren auf friedliche Lösungen warten? Dieser 8 Mai 1995 ist für manche Gegenden Europas leider kein Tag des Friedens! Ich denke besonders an die gemarterten Länder des Balkans und des Kaukasus, wo noch immer Waffenlärm herrscht und weiter Menschenblut vergossen wird.

Zwanzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg 1965 fragte sich Paul VI. in seiner Ansprache vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen: »Wird die Welt je die parteiliche und kriegerische Gesinnung ändern, die bisher mit einem Grossteil ihrer Geschichte verwossen war?« . Eine Frage, die noch immer auf ihre Beantwortung wartet. Möge die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg bei allen den Vorsatz wiederbeleben, im Dienst an einer entschiedenen Friedenspolitik in Europa und in der ganzen Welt tätig zu sein — jeder nach seinen Möglichkeiten.

Eine besondere Bedeutung für die jungen Menschen

15. Meine Gedanken gehen zu den jungen Menschen, die die Schrecken jenes Krieges nicht persönlich erlebt haben. Ihnen sage ich: Liebe Jugendliche, ich habe grosses Vertrauen in eure Fähigkeit, glaubwürdige Vermittler des Evangeliums zu sein. Fühlt euch persönlich zum Dienst am Leben und am Frieden verpflichtet. Die Opfer, die kämpfenden Soldaten an den Fronten und die Märtyrer des Zweiten Weltkrieges waren zum grossen Teil junge Menschen wie ihr. Darum bitte ich euch, Jugendliche des Jahres 2000, sehr wachsam zu sein angesichts des Entstehens der Kultur des Hasses und des Todes. Erklärt den stumpfsinnigen und gewalttätigen Ideologien eine eindeutige Absage; verwerft jede Form von übertriebenem Nationalismus und Intoleranz; auf diesen Wegen schleicht sich unbemerkt die Versuchung zu Gewalt und Krieg ein.

Euch ist es aufgegeben, neue Wege der Brüderlichkeit zwischen den Völkern zu eröffnen, um durch Vertiefung des Gesetzes »der Gegenseitigkeit von Geben und Empfangen, von Selbsthingabe und Annahme des anderen« eine einzige Menschheitsfamilie aufzubauen. Das verlangt das vom Schöpfer jedem Menschen ins Herz geschriebene Sittengesetz, ein Gesetz, das von ihm in der Offenbarung des Alten Testamentes bestätigt und schliesslich von Jesus im Evangelium zur Vollendung gebracht worden ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Lev 19,18; Mk 12,31); »Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben« (Joh 13,34). Die Zivilisation der Liebe und der Wahrheit kann nur dann verwirklicht werden, wenn sich die Öffnung für die Annahme des anderen auf die Beziehungen zwischen den Völkern, zwischen den Nationen und den Kulturen ausdehnt. Möge im Bewusstsein aller die Aufforderung Widerhall finden: Du sollst die anderen Völker lieben wie dein eigenes!

Der Weg der Zukunft der Menschheit führt über die Einheit; und die wahre Einheit — das ist die Botschaft des Evangeliums — führt über Jesus Christus, der unsere Versöhnung und unser Friede ist (vgl. Eph 2,14-18).

Wir brauchen ein neues Herz

16. »Du sollst an den ganzen Weg denken, den der Herr, dein Gott, dich während dieser vierzig Jahre in der Wüste geführt hat, um dich gefügig zu machen und dich zu prüfen. Er wollte erkennen, wie du dich entscheiden würdest: ob du auf seine Gebote achtest oder nicht. Durch Hunger hat er dich gefügig gemacht und hat dich dann mit dem Manna gespeist, das du nicht kanntest und das auch deine Väter nicht kannten. Er wollte dich erkennen lassen, dass der Mensch nicht nur von Brot lebt, sondern dass der Mensch von allem lebt, was der Mund des Herrn spricht« (Dtn 8,2-3).

Wir sind noch nicht in das »verheissene Land des Friedens« eingetreten. Die Erinnerung an den schmerzlichen Weg des Krieges und den nicht leichten Weg der Nachkriegsjahre weist uns ständig darauf hin. Dieser Weg in den dunklen Zeiten des Krieges, in den schwierigen Situationen der Nachkriegsjahre, in den unsicheren und problemreichen Tagen unserer heutigen Zeit hat oft enthüllt, dass es im Herzen der Menschen, auch der Gläubigen, eine starke Versuchung zum Hass, zur Mibachtung des anderen, zur Pflichtverletzung gibt. Auf diesem selben Weg hat es jedoch nicht an der Hilfe des Herrn gefehlt, der zusammen mit dem aufrichtigen Verlangen nach Versöhnung und Einheit Gefühle der Liebe, des Verständnisses und des Friedens keimen lieb. Wir wissen als Gläubige, dass der Mensch von allem lebt, was der Mund des Herrn spricht. Wir wissen auch, dass der Friede in den Herzen aller derer Wurzel fasst, die sich Gott öffnen. Sich des Zweiten Weltkrieges und des in den Jahrzehnten danach zurückgelegten Weges zu erinnern, muss bei den Christen das dringende Bedürfnis nach einem neuen Herzen hervorrufen, das fähig ist, den Menschen zu achten und seine echte Würde zu fördern.

Das ist die Grundlage für die wahre Hoffnung auf den Frieden der Welt: »Ein Licht aus der Höhe« - so prophezeite Zacharias - wird aufstrahlen, »um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes, und unsere Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens« (Lk 1,78-79). In dieser österlichen Zeit, die den Sieg Christi feiert über die Sünde, das zersetzende Element, das Trauer und Zerrüttung mit sich bringt, kommt uns wieder das eindringliche Gebet auf die Lippen, mit dem die Enzyklika Pacem in terris meines verehrten Vorgängers Johannes XXIII. schliesst: »Christus möge den Geist der Regierenden erleuchten, dass sie mit angemessenem Wohlstand ihren Bürgern auch das schöne Geschenk des Friedens sichern und verteidigen. Er möge den Willen aller Menschen entzünden, dass sie die Schranken zerbrechen, die die einen von den andern trennen; dass sie die Bande gegenseitiger Liebe festigen, einander besser verstehen; dass sie schliesslich allen verzeihen, die ihnen Unrecht getan haben. Unter Gottes Führung und Schutz mögen sich alle Völker brüderlich umarmen, und stets möge in ihnen der ersehnte Friede herrschen.«

Maria, stets wachsame und um alle ihre Kinder besorgte Mittlerin der Gnade, erwirke für die ganze Menschheit das kostbare Geschenk der Eintracht und des Friedens.


4 - Predigt bei der Eucharistiefeier in Paderborn am 22. Juni 1996sieheL'Osservatore Romano deutsch Nr. 26 /1996, S. 15-16

Liebe Schwestern und Brüder!

3. Auch unser Jahrhundert hinterlässt ein reiches Martyrologium (vgl. Apost. Schreiben Tertio millennio adveniente, 37). Beeilen wir uns, damit alle diese Zeugnisse einer echten Grösse des Geistes und der Heiligkeit nicht in Vergessenheit geraten.

Ein Martyrologium ist nicht nur eine Registrierung von Tatsachen. Es ist eine Ermahnung. Auch das Martyrium unseres Jahrhunderts ist eine Ermahnung. Ist aus ihr nicht das Werk des Zweiten Vatikanischen Konzils entstanden? Der jährliche Weltgebetstag für den Frieden? Und auch so viele apostolische Initiativen? Zum Beispiel die Weltjugendtreffen?

Durch das Martyrium, das die Erfahrung unseres Jahrhunderts darstellt, hat die Kirche ein besseres Verständnis von sich selbst und von ihrem Auftrag in der Welt gewonnen...

6. Liebe Schwestern und Brüder, die »gemeinsame Hoffnung« und die »Einheit des Geistes« verbinden uns als katholische, das heisst universale Kirche. An diesem Ort, der nicht zuletzt durch den Einsatz des unvergessenen Kardinals Jaeger für die Ökumene von grosser Bedeutung ist, rufe ich erneut alle Christen zur Einheit auf! Gerade im Blick auf das Heilige Jahr 2000 wendet sich die Kirche mit inständiger Bitte an den Heiligen Geist und erfleht von ihm die Gnade der Einheit aller Christen (vgl. Tertio millennio adveniente, 34)...

7. Liebe Schwestern und Brüder, das Jahr 1989 hat die Welt radikal verändert. Die eine Welt wächst immer enger und schneller zusammen. Wir sollten diesen Prozess begrüssen, denn er gibt unzähligen Menschen eine neue Lebensperspektive. Aber dieses Zusammenwachsen von Nord und Süd, Ost und West muss menschenwürdig gestaltet werden. Es darf nicht eine Welt entstehen, die erneut von einer »radikalen kapitalistischen Ideologie« (Centesimus annus, 42) geprägt werden könnte. Die Welt hofft auf ein Miteinander der Nationen und Staaten, das die Lebensrechte aller Menschen respektiert und ihre Entwicklung fördert. Besonders für die reichen Länder bedeutet dies: Teilen zu lernen und den benachteiligten Völkern nicht nur zu helfen, sondern sie als Partner zuzulassen und anzunehmen. Dieser unausweichliche Wandel muss und kann in Solidarität und Gerechtigkeit gestaltet werden...

8. ...Ebenso ist es mit der Einheit Europas. Sie darf nicht nur in einer Gemeinsamkeit der materiellen Interessen bestehen. Ihre Grundlagen sind: der Konsens in den grundlegenden Zielen und Wertvorstellungen, das gemeinsame kulturelle Erbe und nicht zuletzt eine Verbundenheit des Geistes und der Herzen. Ohne den christlichen Glauben wird Europa die Seele fehlen. Wir Christen sind berufen, Sorge zu tragen für den Geist, der das künftige Europa eint und gestaltet. Dies ist eine grosse Verantwortung und Herausforderung, der wir uns über die Grenzen hinweg ernsthaft stellen wollen und müssen...


5 - Angelus in Berlin am 23. Juni 1996siehe L'Osservatore Romano deutsch Nr. 26/1996, S. 8

Liebe Schwestern und Brüder!

1. Zum Schluss dieses Gottesdienstes möchte ich euch alle nochmals herzlich grüssen und euch danken für diese beeindruckende Feier der Seligsprechung von Karl Leisner und Bernhard Lichtenberg. Gerade die Geschichte und der Symbolcharakter dieser Stadt fordern uns dazu auf, die ihnen und uns aufgetragene Verantwortung wahrzunehmen — sei es gelegen oder ungelegen. Wir müssen Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit freimütig jeweils beim Namen nennen und offen und entschieden für Freiheit, Solidarität und Menschenwürde eintreten.

2. Von dieser berühmten Stadt aus, die in ganz besonderer Weise das Schicksal der europäischen Geschichte dieses Jahrhunderts erfahren hat, möchte ich der ganzen Kirche meine Absicht ankündigen, eine zweite Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa einzuberufen. Sie soll zusammen mit ähnlichen Synodenversammlungen in anderen Erdteilen die Vorbereitung auf das Grosse Jubiläum des Jahres 2000 unterstützen (vgl. Tertio millennio adveniente, 38).

Nach den bekannten Ereignissen von 1989 und den neuentstandenen Gegebenheiten nach dem Fall der Mauer, die gerade in dieser Stadt errichtet worden war, schien ein Nachdenken unter Vertretern der Bischofskonferenzen des Kontinents notwendig. Diese Aufgabe nahm die Sonderversammlung von 1991 wahr. Die weiteren Entwicklungen der nachfolgenden fünf Jahre in Europa legten die passende Gelegenheit nahe für ein neues Treffen mit den Vertretern der europäischen Bischöfe zum Zweck einer eingehenden Überprüfung der kirchlichen Lage im Hinblick auf den bevorstehenden Jubiläumstermin. Es ist notwendig, dahingehend zu wirken, dass die gewaltigen geistlichen Kraftreserven des Kontinents in allen Breiten wirkliche Entfaltung finden und die Voraussetzungen für eine Epoche der wahren Wiedergeburt auf religiöser, wirtschaftlicher und sozialer Ebene geschaffen werden. Dies wird Frucht einer neuen Verkündigung des Evangeliums sein.

3. Ich lade alle ein, von jetzt an die himmlische Fürsprache der Schutzpatrone Europas, des hl. Benedikt und der hll. Brüder Cyrillus und Methodius, zu erbitten. Ausgehend von den jeweiligen westlichen und östlichen Traditionen verstanden sie es, einen grundlegenden Beitrag zur kulturellen und geistlichen Einheit dieses Erdteils zu liefern.

Wir möchten die nächste Synodenversammlung auch allen Heiligen und Seligen des alten Kontinents und in besonderer Weise dem mütterlichen Schutz der seligsten Jungfrau Maria anvertrauen, die bei allen Völkern Europas so grosse Verehrung geniesst. Sie, die als erste durch ihr »fiat« das fleischgewordene Wort aufnahm und es der ganzen Menschheit darbot, begleite und unterstütze unseren Weg zum historischen Termin des Beginns des dritten christlichen Jahrtausends.


6 - Regina Caeli in Sarajevo am 13. April 1997siehe L'Osservatore Romano deutsch, Nr. 16/1997, S.1.3

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Am Ende dieser feierlichen Konzelebration, da auf dem ganzen Erdkreis nach schönem alten Brauch sich im Gebet des »Regina Caeli« das Lob zur Gottesmutter erhebt, gilt mein Gebetsgedenken der gesamten Region, in der zusammen mit anderen Völkern die Südslawen leben. Ein bezeichnender Wesenszug ist den Christen dieser Länder gemein: die tiefe Verehrung der Gottesmutter und die grosse Liebe zu ihr.

Mit innigem Dank an Gott gedenke ich der Besuche, die ich im April 1993 in Albanien, im September 1994 in Kroatien und im Mai des vergangenen Jahres in Slowenien habe machen können. Während mein Aufenthalt in Sarajevo und Bosnien-Herzegowina nunmehr dem Ende zugeht, möchte ich einen herzlichen Gruss an alle Volksgruppen der nahen Bundesrepublik Jugoslawien richten, die ich schon seit langer Zeit zu besuchen wünsche. Ich bin ihnen in ihren Schwierigkeiten und Hoffnungen mit meiner Solidarität und mit meinem Gebet nahe. Meine guten Wünsche gehen auch zu den Volksgruppen der früheren jugoslawischen Republik Makedonien, für die ich Frieden und Wohlstand vom Herrn erbitte.

2. Wie in allen anderen Teilen der Welt fördert der Hl. Stuhl auch in dieser Region die Achtung der gleichen Würde der Völker und ihres Rechtes, frei die eigene Zukunft wählen zu können. Zugleich setzt er sich dafür ein, dass jeder mögliche Raum für wechselseitige Solidarität in einem Klima friedvollen und zivilen Zusammenlebens gewährt werde.

Das erfordert den Mut des Weitblicks und die Geduld der kleinen Schritte, damit der Geist loyalen und konstruktiven Einvernehmens blühen kann, bis er reiche Frucht bringt. Ein Klima des Friedens und gegenseitiger Achtung ist der einzige Weg zur wirksamen Bekämpfung der überzogenen Nationalismen, die in Vergangenheit und Gegenwart die Ursache so vieler Trauer und Zerstörung sind.

Diese Länder, in denen Osten und Westen die Anstrengung des Dialogs und der gegenseitigen Zusammenarbeit intensiver verspürt haben, sind zum Symbol unseres Jahrhunderts voller Bitterkeit, aber auch reich an Verheibungen für ganz Europa geworden.

3. Aus Sarajevo, der Stadt, die Symbol ist für dieses 20. Jahrhundert, das sich dem Ende zuneigt, möge der Appell für einen solidarischen Einsatz auf dem Weg des Friedens zu allen europäischen Völkern gehen! Das vor der Türe stehende neue Jahrtausend öffne sich mit dem festen Entschluss, eine Ära zivilen Wachstums in Eintracht zu bauen mit dem Beitrag der besonderen Gaben, durch die im Lauf ihrer Geschichte jede Nation von Gott, dem Herrn und Vater aller Völker, bereichert wurde!

Das ist der herzliche Wunsch, den ich zusammen mit euch voll Zuversicht Maria, der Königin des Friedens, anvertraue, zu der wir mit dem traditionellen Gebet der Osterzeit beten.


7 - Predigt bei der heiligen Messe in Gnesen am 3. Juni 1997siehe L'Osservatore Romano deutsch Nr. 24/1997, S. 9-11

1. Veni, Creator Spiritus!

Heute stehen wir am Grab des hl. Adalbert in Gnesen. Auf diese Weise begehen wir den Höhepunkt der Tausendjahrfeier von Adalbert. Vor einem Monat habe ich diesen Weg zu Ehren des hl. Adalbert in Prag und in seiner Heimatstadt Libice, die in der Diözese Königgrätz liegt, begonnen. Heute sind wir in Gnesen, also an dem Ort, wo er seinen Pilgerweg auf Erden vollendete. Ich danke dem einen dreifaltigen Gott, dass mir am Ende dieses Jahrtausends erneut die Gnade geschenkt wird, bei den Reliquien des hl. Adalbert zu beten, die einer der wertvollsten Schätze unserer Nation sind.

Wir wollen diesen geistlichen Weg des hl. Adalbert nachgehen, der in gewissem Sinn im Abendmahlssaal beginnt. Gerade die heutige Liturgie führt uns in den Abendmahlssaal, in den die Apostel vom Ölberg zurückkehrten, nachdem Christus in den Himmel aufgefahren war. Vierzig Tage lang war er ihnen nach seiner Auferstehung erschienen und hatte mit ihnen über das Reich Gottes gesprochen. Er befahl ihnen, nicht von Jerusalem wegzugehen, sondern, wie er sagte, auf die Verheibung des Vaters zu warten, »die ihr von mir vernommen habt«: »Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber werdet schon in wenigen Tagen mit dem Heiligen Geist getauft (...). Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommen wird, und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde« (Apg 1,5.8).

Die Apostel erhalten also den Missionsauftrag: Auf Grund der Worte des Auferstandenen sollen sie zu allen Völkern gehen, sie zu Jüngern Jesu machen und auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes taufen (vgl. Mt 28,14-20). Zunächst jedoch kehren sie in den Abendmahlssaal zurück. Dort verharren sie im Gebet und warten darauf, dass sich die Verheissung erfüllt. Am zehnten Tag, dem Pfingstfest, sandte ihnen Christus den Heiligen Geist, der ihre Herzen umwandelte. Sie wurden stark und bereit, den Missionsauftrag zu übernehmen. So begannen sie das Werk der Evangelisierung.

Die Kirche setzt dieses Werk fort. Die Nachfolger der Apostel gehen weiterhin zu allen Völkern und machen sie zu Jüngern Jesu. Gegen Ende des ersten Jahrtausends kamen, besonders aus den angrenzenden Gebieten, Söhne und Töchter verschiedener Nationen, die schon christianisiert waren, nach Polen. Unter ihnen hat der hl. Adalbert, der aus dem benachbarten und verwandten Böhmen nach Polen gekommen war, einen besonderen Platz. Er war in gewisser Weise der Urheber des zweiten Anfangs der Kirche im Land der Piasten. Die Taufe der Nation im Jahr 966, zur Zeit von Mieszko I., wurde mit seinem Märtyrertod besiegelt. Hinzu kommt, dass mit Adalbert Polen in die europäische Länderfamilie eintritt. Denn in Anwesenheit eines päpstlichen Legaten treffen sich am Grab des hl. Adalbert Kaiser Otto III. und Boleslaw der Tapfere (Chrobry). Diese Begegnung geht als »Begegnung von Gnesen« in die Geschichte ein. Selbstverständlich hatte sie politische Bedeutung, aber sie ist auch für die Kirche wichtig. Am Grab des hl. Adalbert wird von Papst Silvester II. die Errichtung der ersten polnischen Kirchenprovinz verkündet: Gnesen, der die Bischofssitze Krakau, Breslau und Kolberg angegliedert werden.

2. Das Samenkorn, das stirbt, bringt reiche Frucht (vgl Joh 12,24). Diese Worte aus dem Johannesevangelium, die Christus einst an die Apostel gerichtet hat, bewahrheiten sich besonders bei Adalbert. Sein Tod ist das vollendete Zeugnis. »Wer an seinem Leben hängt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben« (Joh 12,25). Der hl. Adalbert legte auch für den apostolischen Dienst Zeugnis ab. Denn Christus sagt: »Wenn einer mir dienen will, folge er mir nach; und wo ich bin, dort wird auch mein Diener sein. Wenn einer mir dient, wird der Vater ihn ehren« (Joh 12,26). Adalbert folgte Christus nach. Er ging einen langen Weg, der ihn von der Geburtsstadt Libice nach Prag und von Prag nach Rom führte. Als er dann bei seinen Landsleuten in Prag weiterhin auf Widerstand stieb, zog er als Missionar in Richtung Pannonische Ebene und dann durch die Mährische Pforte nach Gnesen und ins Baltikum. Da Adalbert Zeugnis für Christus ablegte und den Märtyrertod erlitt, war seine Mission gleichsam die Krönung der Evangelisierung des Landes der Piasten. Boleslaw der Tapfere erwarb den Leichnam des Blutzeugen und liess ihn hierher nach Gnesen bringen.

In Adalbert erfüllten sich die Worte Christi. Über die Liebe zum irdischen Leben hatte er die Liebe zum Gottessohn gestellt. Als treuer und hochherziger Knecht folgte er Christus nach und bezahlte sein Zeugnis mit dem eigenen Leben. Darum hat der Vater ihn geehrt. Das Volk Gottes hat ihn auf Erden als Heiligen verehrt, weil es davon überzeugt war, dass ein Blutzeuge Christi im Himmel von der Herrlichkeit des Vaters umgeben ist.

»Das Weizenkorn, das stirbt, bringt reiche Frucht« (vgl. Joh 12,24). Wie haben sich diese Worte im Leben und Tod des hl. Adalbert buchstässlich verwirklicht! Sein Blutzeugnis bildet zusammen mit dem Blut anderer polnischer Märtyrer die Grundlage der Kirche Polens und des Staates im Land der Piasten. Die Aussaat des Märtyrerblutes von Adalbert bringt auch weiterhin neue geistliche Frucht. Von den Anfängen seiner staatlichen Existenz an hat ganz Polen im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte daraus Kraft geschöpft. Die Begegnung von Gnesen hat Polen den Weg in die Gemeinschaft mit der ganzen Staatenfamilie Europas geöffnet. An der Schwelle des zweiten Jahrtausends hat die polnische Nation das Recht erlangt, sich wie die anderen Nationen am Prozess zu beteiligen, der Europa ein neues Gesicht geben sollte. Deshalb ist der hl. Adalbert ein grosser Patron für unseren Kontinent, der damals begann, sich in Christi Namen zusammenzuschliessen. Durch sein Leben und durch seinen Tod legte der heilige Märtyrer das Fundament für die europäische Identität und Einheit. Während der Tausendjahrfeier der Taufe Polens bin ich oft diesen geschichtlichen Spuren gefolgt, als ich mit den Reliquien des hl. Stanislaus von Krakau nach Gnesen pilgerte. Ich danke der göttlichen Vorsehung, dass es mir heute noch einmal geschenkt ist, diesen Weg zu gehen.

Wir danken dir, hl. Adalbert, dass du uns hier so zahlreich versammelt hast. Unter uns sind bedeutende Gäste. Ich denke vor allem an die Staatsoberhäupter der Länder, die mit der Person des Vojtech-Adalbert verbunden sind. Ich danke für ihre Anwesenheit: Herrn Kwasniewski, dem Präsidenten von Polen, Herrn Havel, dem Präsidenten der Tschechischen Republik, Herrn Brazauskas, dem Präsidenten von Litauen, Herrn Herzog, dem Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Kovac, dem Präsidenten der Slowakischen Republik, Herrn Kuczma, dem Präsidenten der Ukraine, und Herrn Göncz, dem Präsidenten von Ungarn.

Meine Herren Präsidenten, ihre Anwesenheit heute hier in Gnesen hat eine besondere Bedeutung für ganz Europa. Wie vor tausend Jahren besteht auch heute der Wille zu einem friedlichen Zusammenleben und zum Aufbau eines neuen Europa, das in Solidarität vereint ist. Ihre Anwesenheit bezeugt diesen Willen. Ich bitte sie, den von ihnen vertretenen Nationen freundlicherweise meine herzlichen Grüsse zu übermitteln.

Meinen Dank spreche ich auch den Kardinälen aus, die aus der Ewigen Stadt gekommen sind, angefangen vom Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano. Ausserdem danke ich den Kardinälen der Länder, die mit der Person des hl. Adalbert verbunden sind, an ihrer Spitze Kardinal Miloslav Vlk, dem Nachfolger des hl. Adalbert auf dem Bischofsstuhl von Prag. Ich freue mich, dass auch Kardinäle aus den fernsten Teilen der Welt, von Amerika bis Australien, zu uns gekommen sind. Ich begrüsse herzlich die polnischen Kardinäle, allen voran den Kardinalprimas, die Erzbischöfe und die Bischöfe, und danke ihnen für ihre Anwesenheit. Ich danke auch den orthodoxen Bischöfen, den Oberhäuptern der Gemeinschaften, die aus der Reformation hervorgegangen sind, sowie den Verantwortlichen anderer kirchlicher Gemeinschaften. Einen herzlichen Gruss richte ich an Erzbischof Muszynski, den Metropoliten von Gnesen, und an euch, liebe Brüder und Schwestern, die ihr aus ganz Polen zu diesem Treffen gekommen seid.

3. Mir ist noch deutlich die Begegnung von Gnesen im Juni 1979 in Erinnerung, als der aus Krakau stammende Papst erstmals auf dem Lech-Hügel die Eucharistie feiern konnte. Damals waren der unvergessliche Primas des Jahrtausends, der ganze polnische Episkopat und zahlreiche Pilger, die nicht nur aus Polen, sondern auch aus den Nachbarländern gekommen waren, anwesend. Heute, nach achtzehn Jahren, sollte man auf jene Predigt von Gnesen zurückgreifen, die in gewissem Sinn zum Programm des Pontifikats wurde. In erster Linie aber war sie eine bescheidene Auslegung der Pläne Gottes für die letzten fünfundzwanzig Jahre unseres Jahrtausends. Damals sagte ich: »Will nicht Christus vielleicht, fügt es nicht der Heilige Geist, dass dieser polnische, dieser slawische Papst gerade jetzt die geistige Einheit des christlichen Europas sichtbar macht, das durch die zwei grossen Traditionen des Westens und Ostens geprägt wurde . . . ? Ja, Christus will es. Der Heilige Geist fügt es so, dass das jetzt gesagt wurde, hier, in Gnesen« (Pfingstgottesdienst vor der Kathedrale, 3. Juni 1979).

Von diesem Ort strömte dann die gewaltige Kraft des Heiligen Geistes aus. Hier begann die Idee von der Neuevangelisierung konkrete Formen anzunehmen. Seitdem sind grosse Umwälzungen geschehen, neue Möglichkeiten haben sich eröffnet, und andere Männer und Frauen sind aufgetreten. Die Mauer, die Europa teilte, ist gefallen. Fünfzig Jahre nach Beginn des zweiten Weltkrieges endeten seine Auswirkungen, die bis dahin das Gesicht Europas geprägt hatten. Ein halbes Jahrhundert der Spaltung ist beendet. Millionen von Bewohnern Mittel- und Osteuropas mussten einen furchtbaren Preis dafür bezahlen. Deshalb danke ich heute hier, am Grab des hl. Adalbert, dem allmächtigen Gott für das grosse Geschenk der Freiheit, das den europäischen Nationen zuteil geworden ist. Ich greife die Worte des Psalmisten auf: »Da sagte man unter den andern Völkern: Der Herr hat an ihnen Grosses getan. Ja, Grosses hat der Herr an uns getan. Da waren wir fröhlich« (Ps 126,2-3).

4. Liebe Brüder und Schwestern, nach vielen Jahren sage ich es noch einmal: Es bedarf einer neuen Verfügbarkeit. Dem es hat sich in manchmal sehr schmerzlicher Weise gezeigt, dass die Wiedererlangung des Selbstbestimmungsrechtes und die Erweiterung der politischen und wirtschaftlichen Freiheiten nicht ausreichen, um die europäische Einheit aufzubauen. Wie könnte man hier die Tragödie der Völker im ehemaligen Jugoslawien, das Drama des albanischen Volkes und die ungeheuren Lasten unerwähnt lassen, unter denen alle Gesellschaften leiden, die die Freiheit wiedergewonnen haben und sich mit grosser Anstrengung vom Joch des kommunistischen totalitären Systems frei machen?

Ist es nicht so, dass nach dem Fall der sichtbaren Mauer eine andere, unsichtbare Mauer zum Vorschein kam, die unseren Kontinent noch immer teilt — die Mauer, die durch die Herzen der Menschen geht? Es handelt sich um eine Mauer, die gebaut ist auf Angst und Aggressivität, auf dem Mangel an Verständnis für die Menschen anderer Herkunft, anderer Hautfarbe oder anderer Glaubensüberzeugungen. Es ist die Mauer des politischen und wirtschaftlichen Egoismus, des schwindenden Gespürs für den Wert des menschlichen Lebens und für die Würde eines jeden Menschen. Sogar die Erfolge, die in jüngster Zeit im wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Bereich zweifellos zu verzeichnen sind, können die Existenz dieser Mauer nicht verbergen. Sie wirft ihren langen Schatten auf ganz Europa. Das Ziel einer wahren Einheit Europas liegt noch in weiter Ferne. In Europa wird es keine Einheit geben, solange diese nicht auf der Einheit des Geistes beruht. Dieses tiefste Fundament der Einheit wurde vom Christentum nach Europa gebracht; es wurde im Laufe der Jahrhunderte von seinem Evangelium, seinem Menschenbild und seinem Beitrag zur Entwicklung der Geschichte der Völker und Nationen gefestigt. Das bedeutet nicht, sich die Geschichte einverleiben zu wollen. Denn die Geschichte Europas ist ein breiter Strom, in den viele Nebenflüsse münden, und die Vielfalt der Traditionen und Kulturen machen ihren grossen Reichtum aus. Die Fundamente der europäischen Identität liegen im Christentum. Dass gegenwärtig die geistige Einheit Europas fehlt, ist hauptsächlich auf die Krise dieses christlichen Selbstverständnisses zurückzuführen.

5. Brüder und Schwestern, Jesus Christus, »derselbe gestern, heute und in Ewigkeit« (vgl. Hebr 13,8), hat dem Menschen seine Würde offenbart! Er ist der Garant dieser Würde! Es waren die Patrone Europas, die Heiligen Benedikt, Cyrill und Methodius, die die Wahrheit über Gott und den Menschen in die europäische Kultur einpflanzten. Es waren die Scharen heiliger Missionare, die uns heute der heilige Bischof und Märtyrer Adalbert in Erinnerung ruft. Sie haben die europäischen Völker die Nächstenliebe, ja sogar die Feindesliebe gelehrt und diese Botschaft mit dem Lebensopfer für sie besiegelt. Aus dieser frohen Botschaft, dem Evangelium, haben unsere Brüder und Schwestern in Europa in den nachfolgenden Jahrhunderten bis auf den heutigen Tag gelebt. Das bezeugen die Bauten der Kirchen, Abteien, Krankenhäuser und Universitäten. Das verkünden die Bücher, Skulpturen und Gemälde; das rufen die Werke der Dichter und Komponisten in Erinnerung. Mit dem Evangelium wurden die Grundlagen der geistigen Einheit Europas gelegt.

Am Grab des hl. Adalbert stelle ich deshalb die Frage: Dürfen wir das christliche Lebensgesetz verwerfen, das bekräftigt, dass nur der reiche Frucht trägt, der sein Leben aus Liebe zu Gott und den Mitmenschen hingibt und damit einem Samenkorn gleicht, das in die Erde gefallen ist? Hier, von diesem Ort aus, wiederhole ich den Ruf, der am Anfang meines Pontifikats stand: Öffnet die Tore für Christus! Im Namen der Achtung der Menschenrechte, im Namen der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit, im Namen der zwischenmenschlichen Solidarität und der Liebe rufe ich: Habt keine Angst! Öffnet die Tore für Christus! Ohne Christus ist es nicht möglich, den Menschen zu verstehen. Deshalb wird sich die Mauer, die sich heute in den Herzen erhebt, die Mauer, die Europa teilt, nicht abtragen lassen ohne die Rückkehr zum Evangelium. Denn ohne Christus ist es nicht möglich, eine dauerhafte Einheit aufzubauen. Die Einheit gelingt nicht, wenn man sich von den Wurzeln, aus denen die Nationen und Kulturen Europas gewachsen sind, trennt und vom grossen Reichtum der geistigen Kultur der vergangenen Jahrhunderte löst. Wie kann man ein »gemeinsames Haus« für ganz Europa bauen, wenn es nicht mit den Bausteinen der Gewissen der Menschen errichtet wird, mit Bausteinen, die im Feuer des Evangeliums gebrannt, durch ein solidarisches Liebesband in der Gesellschaft zusammengefügt und als Frucht der Liebe zu Gott gereift sind? Für die Verwirklichung dieses Bauwerks hat sich der hl. Adalbert eingesetzt; für diese Zukunft opferte er sein Leben. Heute erinnert er uns daran, dass man eine neue Gesellschaft nicht ohne den erneuerten Menschen aufbauen kann. Er ist die stabilste Grundlage der Gesellschaft.

6. An der Schwelle zum dritten Jahrtausend ist das Zeugnis des hl. Adalbert in der Kirche weiter lebendig und trägt Frucht. Wir müssen sein Werk der Evangelisierung mit neuer Kraft aufgreifen. Helfen wir denen, die Christus und seine Lehre vergessen haben, ihn wiederzuentdecken. Das wird gelingen, wenn erneut Scharen von Menschen damit beginnen, als treue Zeugen des Evangeliums unseren Kontinent zu durchqueren; wenn die Werke von Architektur, Literatur und Kunst für den Menschen unserer Zeit in ansprechender Weise denjenigen darstellen, der »derselbe ist gestern, heute und in Ewigkeit«; wenn die Menschen in der Liturgie der Kirche erkennen, wie schön es ist, Gott zu ehren, und wenn sie in unserem Leben ein Zeugnis der christlichen Barmherzigkeit, der heroischen Liebe und der Heiligkeit entdecken können.

Liebe Brüder und Schwestern, was ist das für eine aussergewöhnliche Stunde der Geschichte, in der wir leben dürfen! Welch wichtige Aufgaben hat Christus uns anvertraut! Er ruft jeden von uns auf, den neuen Frühling der Kirche vorzubereiten. Er will, dass die Kirche, die ein und dieselbe ist wie in den Zeiten der Apostel und des hl. Adalbert, voller Frische mit den Knospen neuen Lebens und aus dem Antrieb des Evangeliums ins neue Jahrtausend eintritt. Im Jahr 1949 rief der Primas des Jahrtausends aus: »Hier, am Grab des hl. Adalbert, werden wir die Fackeln entzünden, die unserem Land das Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk (Lk 2,32) ankündigen werden« (Hirtenbrief zur Eröffnung). Heute wiederholen wir diesen Ruf und erbitten Licht und Feuer vom Heiligen Geist, um unsere Fackeln anzuzünden als Boten des Evangeliums bis an die äussersten Grenzen der Erde.

7. Der hl. Adalbert ist immer mit uns. Er ist von der Glorie des Martyriums umgeben — hier in Gnesen, der Stadt der Piasten, und in der Kirche auf der ganzen Welt. Im Ausblick auf das neue Jahrtausend scheint es, als wolle er uns heute mit den Worten des hl. Paulus sagen: »Vor allem: lebt als Gemeinde so, wie es dem Evangelium Christi entspricht. Ob ich komme und euch sehe oder ob ich fern bin, ich möchte hören, dass ihr in dem einen Geist feststeht, einmütig für den Glauben an das Evangelium kämpft und euch in keinem Fall von euren Gegnern einschüchtern labt (Phil 1,27-28). Darum geht es: in dem einen Geist und einmütig für den Glauben zu kämpfen

Heute, nach nunmehr tausend Jahren, lesen wir noch einmal dieses Testament von Paulus und Adalbert. Wir bitten, dass ihre Worte sich auch in unserer Generation bewahrheiten. Denn in Christus wurde uns die Gnade geschenkt, nicht nur an ihn zu glauben, sondern auch seinetwegen zu leiden, weil wir den gleichen Kampf zu bestehen hatten, von dem uns Adalbert sein Zeugnis hinterlassen hat (vgl. Phil 1,29-30).

Während sich die Kirche und Europa auf das Grosse Jubiläum des Jahres 2000 vorbereiten, vertrauen wir uns dem hl. Adalbert an und bitten ihn um seine Fürsprache für uns.

Wir rufen den Heiligen Geist an, den Geist der Weisheit und der Stärke:

Veni, Creator Spiritus! Amen.


8 - Angelus im Vatikan am 15. Februar 1998siehe L'Osservatore Romano deutsch Nr. 8/1998, S. 1

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Gestern haben wir das Fest der hll. Cyrill und Method gefeiert, die zusammen mit dem hl. Benedikt die Schutzpatrone Europas sind. Die beiden griechischen Brüder des 9. Jahrhunderts, aus Thessalonike gebürtig und in der Schule des Patriarchats Konstantinopel geformt, widmeten sich der Evangelisierung der Völker Grossmährens am mittleren Lauf der Donau.

Cyrill und Method versahen ihren missionarischen Dienst in Einheit sowohl mit der Kirche von Konstantinopel als auch mit dem Sitz des Nachfolgers Petri und bekundeten auf diese Weise die Einheit der Kirche, die zu jener Zeit noch nicht durch die Spaltung zwischen dem Osten und dem Westen verletzt war.

Der Fürbitte dieser beiden Heiligen möchte ich den Wunsch nach der vollen Einheit unter allen Christgläubigen, besonders im Hinblick auf das Grosse Jubeljahr 2000, anvertrauen. Die Notwendigkeit, den ökumenischen Dialog mit allen Kräften forzusetzen, wurde bei dem Treffen des Zentralkomitees für das Grosse Jubeljahr 2000 mit den Delegierten der Bischofskonferenzen, das in den vergangenen Tagen stattfand, mit Nachdruck hervorgehoben. Möge Gott die Schritte zu einer völligen Aussöhnung beschleunigen, damit die Christen am Anbruch des dritten Jahrtausends wenn schon nicht völlig geeint, so doch wenigstens diesem Ziel viel näher sein können.

2. Das Fest der hll. Cyrill und Method bietet mir auch den Anlass, den Christen und allen Menschen guten Willens auf unserem Kontinent das, was wir die europäische Herausfordrung nennen können, in Erinnerung zu rufen: d.h. die Notwendigkeit, ein Europa zu errichten, das sich seiner Geschichte klar bewusst ist, sich ernsthaft für die Umsetzung der Menschenrechte einsetzt und solidarisch mit den Völkern der anderen Kontinente für die Förderung von Frieden und Entwicklung auf Weltebene eintritt.

So hoch gesetzte Ziele können jedoch nicht ohne eine tiefe und beständige geistige Motivation verfolgt werden. Eine solche können die Bürger und Nationen Europas aus dem überreichen gemeinsamen Kulturerbe schöpfen in fruchtbarem Dialog mit anderen grossen Denkströmungen, wie es in den besten Augenblicken der 2000 jährigen europäischen Zivilisation immer der Fall war. Diese berühmten Apostel Europas zu feiern bedeutet daher, den Einsatz für die Neuevangelisierung des Kontinents zu erneuern, damit dessen christliche Wurzeln am historischen Übergang vom zweiten zum dritten Jahrtausend neue Nahrung erhalten zum Wohl aller europäischen Völker, ihrer Kultur und ihres friedlichen Zusammenlebens.

3. Die heiligste Jungfrau und Gottesmutter Maria, im Osten wie im Westen geliebt und verehrt, möge für die Christen erbitten, dass sie in Eintracht für die Neuevangelisierung zusammenarbeiten, und für alle europäischen Nationen, dass sie einander in einem gemeinsamen Haus begegnen können, wobei jede ihren Beitrag mitbringt und in den Dienst von allen stellt.


INHALTSVERZEICHNIS

Einführung

EINLEITUNG

ERSTER TEIL: EUROPA AUF DEM WEG INS DRITTE JAHRTAUSEND

Unterscheidung der Geister

Widersprüchliche Zeichen und Enttäuschung

Gewissensprüfung

ZWEITER TEIL: JESUS CHRISTUS, DER LEBT IN SEINER KIRCHE

Geheimnis

Gegenwart des Herrn

Gegenwart in der Geschichte

Gemeinschaft

Gemeinschaft mit Gott und mit der Menschheit

Gemeinschaft und Hoffnung

Mission

Auftrag zur Verbreitung des Evangeliums

Ökumenismus und Mission

DRITTER TEIL: JESUS CHRISTUS QUELLE DER HOFFNUNG

Leitourgia

Geschenk Gottes und menschliche Spiritualität

Verlangen nach Spiritualität

Martyria

Menschliche Existenz als Verkündigung

Freiheit und Wahrheit

Diakonia

Dienst

Hoffnung

SCHLUSS

Theologische Hoffnung

Spes nostra, salve

FRAGEBOGEN

TEXTAUSLESE

1. Ansprache an die Vorsitzenden der europäischen Bischofskonferenzen (1 Dezember 1992)

2. Ansprache an den Rat der europäischen Bischofskonferenzen (16 April 1993)

3. Botschaft anlässlich des 50. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa

4. Predigt bei der Eucharistiefeier in Paderborn (22 Juni 1996)

5. Angelus (Berlin, 23 Juni 1996)

6.Regina Caeli (Sarajevo, 13 April 1997)

7. Predigt bei der heiligen Messe in Gnesen (3 Juni 1997)

8.Angelus (Vatikan, 15 Februar 1998)

Inhaltsverzeichnis


NOTEN

(1) Concilium Oecumenicum Vaticanum II, Constitutio pastoralis de Ecclesia in mundo huius temporis Gaudium et spes, 1.

(2) Ioannes Paulus II, Epistula Apostolica Tertio millennio adveniente (10.XI.1994), 21: AAS 87 (1995), 17.

(3) Ioannes Paulus II, Angelus (Berlin, Deutschland - 23.VI.1996) 2, L'Osservatore Romano, 24-25.VI.1996, p. 8.

(4) Cf. Ioannes Paulus II, Regina Caeli (Velehrad, Tschechische Republik -22.IV.1990) 2, L'Osservatore Romano, 23-24. IV.1990, p. 8.

(5) Cf. Ioannes Paulus II, Epistula Apostolica Tertio millennio adveniente (10.XI.1994), 27: AAS 87 (1995), 22.

(6) Cf. Ioannes Paulus II, Allocutio (Beratung über die Sonderversammlung für Europa, 5.VI.1990) 9, L'Osservatore Romano, 6.VI.1990, p. 5.

(7) Cf. Ioannes Paulus II, Epistula Apostolica Tertio millennio adveniente (10.XI.1994), 21: AAS 87 (1995), 17.

(8) Cf. Ibidem, 18: AAS 87 (1995), 16 ; ibidem, 45: AAS 87 (1995), 33-34.

(9) Ibidem , 46: AAS 87 (1995), 34.

(10) Ioannes Paulus II, Homilia (Heilige Messe zur Tausendjahrfeier des Todes des hl. Adalbert in Gnesen - Polen -3.VI.1997), 3: L'Osservatore Romano, 4.VI.1997, p. 7.

(11) Cf. Concilium Oecumenicum Vaticanum II, Decretum de oecumenismoUnitatis Redintegratio, 2.

(12) Ioannes Paulus II, Epistula Apostolica Tertio millennio adveniente (10.XI.1994), 27: AAS 87 (1995), 22.

(13) Cf. Ibidem, 33-37: AAS 87 (1995), 25-30.

(14) Cf. Ibidem, 35: AAS 87 (1995), 27.

(15) Cf. Concilium Oecumenicum Vaticanum II, Declaratio de libertate religiosa Dignitatis Humanae, 1.

(16) Cf. Ioannes Paulus II, Epistula Apostolica Tertio millennio adveniente (10.XI.1994), 36: AAS 87 (1995), 27-29.

(17) Cf. Ibidem, 23: AAS 87 (1995), 19.

(18) Concilium Oecumenicum Vaticanum II, Constitutio dogmatica de Ecclesia Lumen gentium, 50.

(19) Cf. Ioannes Paulus II, Litterae Encyclicae Redemptor Hominis (4.III.1979), 13.15: AAS 71 (1979), 282-284; 286-289.

(20) Cf. Ioannes Paulus II, Litterae Encyclicae Redemptor Hominis (4.III.1979), 13.15: AAS 71 (1979), 282-284; 286-289.

(21) Cf. Concilium Oecumenicum Vaticanum II, Constitutio dogmatica de Ecclesia Lumen gentium, 1.

(22) Cf. Synodus Episcoporum, Coetus Specialis pro Europa (1991), Declaratio: Ut testes simus Christi qui nos liberavit, 5, 6, 10.

(23) Cf. Ioannes Paulus II, Epistula Apostolica Tertio millennio adveniente (10.XI.1994), 21: AAS 87 (1995), 17.

(24) Ioannes Paulus II, Homilia (Heilige Messe zur Tausendjahrfeier des Todes des hl. Adalbert in Gnesen - Polen -3.VI.1997), 6: L'Osservatore Romano, 4.VI.1997, p. 7.

(25) Ioannes Paulus II, Homilia (IV. Symposium der europäischen Bischöfe 20.VI.1979), 4: L'Osservatore Romano, 21.VI.1979, p. 1.

(26) Ioannes Paulus II, Allocutio (V. Symposium der europäischen Bischöfe - 5.X.1982), 4: L'Osservatore Romano, 7.X.1982, p. 2.

(27) Ioannes Paulus II, Homilia (Abschluss der Gebetswoche für die Einheit der Christen, 25.I.1991), 4: L'Osservatore Romano, 27.I.1991, p. 5.

(28) Cf. Ioannes Paulus II, Schreiben an KardinalCarlo Maria Martini, Präsident des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen, anlässlich des IV. europäischen ökumenischen Treffens in Erfurt (26.9.1988), in: "Europa. Un Magistero tra storia e profezia", herausgegeben von M. Spezzibottiani, 1991, p.292-294.

(29) Idem.

(30) Cf. Concilium Oecumenicum Vaticanum II, Constitutio pastoralis de Ecclesia in mundo huius temporis Gaudium et spes, 10.

(31) Ioannes Paulus II, Allocutio (VII. Symposium der europäischen Bischöfe - 17.X.1989), 4: L'Osservatore Romano, 18.X.1989, p. 5.

(32) Ioannes Paulus II, Allocutio (Rat der Europäischen Bischofskonferenzen - 19.XII.1978), 2: L'Osservatore Romano, 20.XII.1978, p.1

(33) Ioannes Paulus II, Allocutio (Eucharistische Anbetung in Santiago de Compostela, Spanien - 9.XI.1982), 2 : L'Osservatore Romano, 11.XI.1982, p. XLIII.

(34) Ioannes Paulus II, Allocutio (beim Heiligen Stuhl akkreditiertes Diplomatisches Corps, 13.I.1990), 5: L'Osservatore Romano, 14.I.1990, p. 6.

(35) Cfr. Ioannes Paulus II, Litterae Encyclicae Veritatis splendor (6.VIII.1993) 1-3, 84 -87: AAS 85 (1993), 1200-1203.

(36) Ioannes Paulus II, Homilia (Heilige Messe zum Abschluss des 46. Internationalen Eucharistischen Kongresses - Breslau, Polen - 1.VI.1997), 5: L'Osservatore Romano, 2-3.VI.1997, p. 7.

(37) Idem.

(38) Idem.

(39) Idem.

(40) Concilium Oecumenicum Vaticanum II, Constitutio pastoralis de Ecclesia in mundo huius temporis Gaudium et spes, 10.

(41) Catechismus Catholicae Ecclesiae, 2090.

(42) Ioannes Paulus II, Epistula Apostolica Tertio millennio adveniente, (10.XI.1994), 27: AAS 87 (1995), 22.

(43) Cf. Dante Alighieri, Divina Commedia, Paradiso XXXIII, 12.

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