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JOHANNES PAUL II. 

GENERALAUDIENZ

Mittwoch, 12. November 2003

   

Lesung: Psalm 142

1 Hilferuf in schwerer Bedrängnis [Ein Weisheitslied Davids, als er in der Höhle war. Ein Gebet.]
2 Mit lauter Stimme schreie ich zum Herrn, laut flehe ich zum Herrn um Gnade.
3 Ich schütte vor ihm meine Klagen aus, eröffne ihm meine Not.
4 Wenn auch mein Geist in mir verzagt, du kennst meinen Pfad. Auf dem Weg, den ich gehe, legten sie mir Schlingen.
5 Ich blicke nach rechts und schaue aus, doch niemand ist da, der mich beachtet. Mir ist jede Zuflucht genommen, niemand fragt nach meinem Leben.
6 Herr, ich schreie zu dir, / ich sage: Meine Zuflucht bist du, mein Anteil im Land der Lebenden.
7 Vernimm doch mein Flehen; denn ich bin arm und elend. Meinen Verfolgern entreiß mich; sie sind viel stärker als ich.
8 Führe mich heraus aus dem Kerker, damit ich deinen Namen preise. Die Gerechten scharen sich um mich, weil du mir Gutes tust.

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Am Abend des 3. Oktober 1226 verstarb der hl. Franz von Assisi. Sein letztes Gebet war der Psalm 142, den wir soeben gehört haben. Der hl. Bonaventura berichtet, daß Franziskus »in den Ruf des Psalms ausbrach: ›Mit lauter Stimme schreie ich zum Herrn, laut flehe ich zum Herrn um Gnade‹, und er sprach ihn bis zum letzten Vers: ›Die Gerechten scharen sich um mich, weil du mir Gutes tust‹« (Legenda Maior, XIV,5, in: Fonti Francescane, Padova-Assisi 1980, S. 958).

Der Psalm ist ein dringender Hilferuf mit einer Reihe von Bitten, die an den Herrn gerichtet sind: »Ich schreie«, »ich flehe laut zum Herrn«, »ich schütte vor ihm meine Klagen aus«, »eröffne ihm meine Not« (V. 2–3). Im mittleren Teil des Psalms herrscht das Vertrauen auf Gott vor, dem das Leid des Gläubigen nicht gleichgültig ist (vgl. V. 4–8). In dieser Haltung sah der hl. Franz dem Tod entgegen.

2. Gott wird mit »Du« angesprochen, wie eine Person, die Sicherheit gibt: »Meine Zuflucht bist du« (V. 6). »Du kennst meinen Pfad«, das heißt meinen Lebensweg, einen Weg, der von der Suche nach Gerechtigkeit gekennzeichnet ist. Aber auf diesem Weg legten die Gottlosen mir Schlingen (vgl. V. 4): Es ist das typische Bild, das den Jagdszenen entnommen ist und in den Bittrufen der Psalmen häufig auftritt, um auf die Gefahren und Tücken hinzuweisen, denen der Gerechte ausgesetzt ist.

Angesichts dieses Alptraums gibt der Psalmist sozusagen ein Alarmsignal, damit Gott seine Lage sieht und eingreift: »Ich blicke nach rechts und schaue aus« (V. 5). Nach orientalischem Brauch stand am Gerichtsort rechts von einer Person der Verteidiger oder der entlastende Zeuge und im Kriegsfall die Leibwache. Der Gläubige ist also allein und verlassen, »niemand ist da, der mich beachtet«. Er stellt voller Angst fest: »Mir ist jede Zuflucht genommen, niemand fragt nach meinem Leben« (V. 5).

3. Ein Schrei, gleich danach, offenbart die Hoffnung, die im Herzen des Betenden wohnt. Der einzige Schutz und die einzige wirksame Nähe ist Gott: »Meine Zuflucht bist du, mein Anteil im Land der Lebenden« (V. 6). »Anteil« bedeutet im Sprachgebrauch der Bibel das Geschenk des verheißenen Landes, das Zeichen der Liebe Gottes zu seinem Volk. Der Herr ist nun letztes und einziges Fundament, auf das man sich stützen kann, die einzige Lebensmöglichkeit, die letzte Hoffnung.

Der Psalmist ruft ihn eindringlich an, denn er ist »arm und elend« (V. 7). Er bittet ihn, einzugreifen und die Ketten seines Kerkers der Verlassenheit und Anfeindung zu zerreißen und ihn aus dem Abgrund der Prüfung herauszuführen (vgl. V. 8).

4. Wie in anderen Bittpsalmen ist der letzte Ausblick eine Danksagung, die nach der Erhörung Gott dargebracht wird: »Führe mich heraus aus dem Kerker, damit ich deinen Namen preise« (ebd.). Der Gläubige wird nach seiner Rettung dem Herrn inmitten der liturgischen Versammlung danken (vgl. ebd.). Die Gerechten werden sich um ihn scharen und das Heil des Bruders als ein Geschenk aufnehmen, das auch ihnen zuteil wird.

Diese Atmosphäre sollte auch in den christlichen Versammlungen herrschen. Der Schmerz des einzelnen soll in den Herzen aller Widerhall finden; ebenso soll die Freude eines jeden von der ganzen betenden Gemeinde geteilt werden. Denn es ist »gut und schön, wenn Brüder miteinander in Eintracht wohnen« (Ps 133,1), und der Herr Jesus hat gesagt: »Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen« (Mt 18,20).

5. Die christliche Tradition hat Psalm 142 auf den verfolgten und leidenden Christus angewandt. In dieser Sicht verwandelt sich das leuchtende Ziel des Bittpsalms in ein österliches Zeichen aufgrund des herrlichen Ausgangs des Lebens Christi und unserer Bestimmung der Auferstehung mit ihm. Das bekräftigt der hl. Hilarius von Poitiers, der berühmte Kirchenlehrer des 4. Jahrhunderts, in seinem Traktat über die Psalmen.

Er kommentiert die lateinische Übersetzung des letzten Psalmverses, wo von der Belohnung des Betenden und der Erwartung der Gerechten die Rede ist: »Me expectant iusti, donec tribuas mihi.« Hilarius erklärt: »Der Apostel lehrt uns, welche Belohnung der Vater seinem Sohn Jesus Christus gegeben hat: ›Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr – zur Ehre Gottes, des Vaters‹ (Phil 2,9–11). Das ist der Lohn: dem Leib, den er angenommen hat, wird die ewige Herrlichkeit des Vaters geschenkt.

Was dann die Erwartung der Gerechten bedeutet, lehrt uns der Apostel, wenn er sagt: ›Unsere Heimat aber ist im Himmel. Von dorther erwarten wir auch Jesus Christus, den Herrn, als Retter, der unseren armseligen Leib verwandeln wird in die Gestalt seines verherrlichten Leibes‹ (Phil 3,20–21). In der Tat, die Gerechten warten auf ihn, damit er sie belohnt, das heißt, daß er sie der Herrlichkeit seines Leibes gleich macht, der gepriesen sei von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen« (PL 9, 833–837).

 


Im Vertrauen auf Gott, der auf das Leid des Menschen sieht, ruft der gläubige Beter: „Meine Zuflucht bist du, mein Anteil im Land der Lebenden" (Ps 142, 6). In Gott erkennt der Glaubende das tragende Fundament eines sinnerfüllten Lebens. Diese Gewißheit trägt der Christ im Herzen.

Das Bittgebet des Psalms wird zu einer Danksagung: Im Kreis der „Gerechten" dankt der Beter Gott für die Erhörung seines Flehens. Leid und Freude des einzelnen werden in das Gebet der christlichen Gemeinde hineingenommen.

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Gerne heiße ich die deutschsprachigen Rompilger und Besucher willkommen. Vertraut jederzeit auf den Herrn! Er gibt eurem Leben Halt und Zuversicht. In Christus schenkt er euch Anteil an seiner Herrlichkeit. Gott segne euch alle!

       



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