ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.
AN DIE REKTOREN DER POLNISCHEN
UNIVERSITÄTEN UND HOCHSCHULEN
Donnerstag, 30. August 2001
Verehrte Damen und Herren!
1. An alle ergeht mein herzlicher Willkommensgruß! Erneut empfange ich mit Freude die Rektoren der polnischen Universitäten und Hochschulen. Dem Präsidenten des Kollegiums der akademischen Leiter polnischer Hochschulen, Prof. Woznicki, danke ich für seine Einführung und die an mich gerichteten wohlwollenden Worte.
Unsere Begegnungen sind bereits zur Tradition geworden, und sie stellen gewissermaßen ein Zeichen des Dialogs dar zwischen der Welt der Wissenschaft und der des Glaubens. Endgültig vorbei sind scheinbar die Zeiten, in denen man versuchte, diese beiden Welten einander entgegenzustellen. Dank der Bemühungen zahlreicher von der Gnade des Heiligen Geistes erleuchteter intellektueller Kreise und Theologen wird uns mehr und mehr bewußt, daß sich Wissenschaft und Glauben keineswegs fremd sind, sondern zwei Bereiche darstellen, die aufeinander angewiesen sind und sich gegenseitig ergänzen. Mir scheint, daß die positive Aufnahme der Enzyklika Fides et ratio vor allem auf das stets tiefere Bewußtsein der Notwendigkeit des Dialogs zwischen der verstandesmäßigen Erkenntnis und der religiösen Erfahrung zurückzuführen ist. Ich danke Gott für jede in diese Richtung führende Eingebung.
2. Im Rahmen unserer Treffen habe ich bereits verschiedentlich über Themen gesprochen, die die Universität und die humanistisch oder naturwissenschaftlich orientierte Hochschule als einen Bereich auszeichnen, der das Leben des einzelnen Menschen, der Gesellschaft und der Menschheit entscheidend beeinflußt. Ich bin mir der außergewöhnlichen Rolle der Universitäten und Hochschulen zutiefst bewußt, und daher liegt mir auch die Aufmerksamkeit für diese Institution sehr am Herzen, damit ihre Einflußnahme auf die Welt und das Leben jedes Menschen immer zum Guten – und wenn möglich zum Besten – auf jedem Sektor gereichen möge. Erst dann werden Universitäten und Hochschulen zu Vermittlern wahren Fortschritts und stellen keine Gefahr für den Menschen dar.
Als ich vor über zwanzig Jahren meine erste Enzyklika Redemptor hominis verfaßte, beschäftigte mich die Frage der geheimnisvollen Angst, von der sich der heutige Mensch bedroht fühlt. Eine der verschiedenen Ursachen erschien mir besonders erwähnenswert: die bedrohliche Erfahrung dessen, was der Mensch selbst produziert, das Ergebnis der Arbeit seiner Hände und noch mehr das Ergebnis der Anstrengungen seines Verstandes und seiner Willensentscheidung. Heute, am Anfang des dritten Jahrtausends, scheint sich diese Erfahrung noch weiter zu verdichten. Allzu oft wird das, was der Mensch dank immer neuer geistiger und technischer Möglichkeiten zu produzieren vermag, zum Gegenstand von »Entfremdung« und entzieht sich, wenn auch nicht vollends, so doch teilweise der Kontrolle des Menschen und wendet sich gegen ihn (vgl. Redemptoris hominis, 15). Es gibt viele Beispiele, die diese Situation verdeutlichen. Denken wir nur an die Errungenschaften im Bereich der Physik, insbesondere der Nuklearphysik, auf dem Sektor der Datenverarbeitung und -übermittlung, an die Erforschung der natürlichen Ressourcen der Erde oder schließlich an die Experimente auf dem Sektor der Genetik und der Biologie. Ähnliches gilt leider auch für jene Wissenschaftsbereiche, die eher mit der geistigen Entwicklung als mit technischen Mitteln verbunden sind. Wir kennen die Gefahren, die im vergangenen Jahrhundert aus einer Philosophie entstanden sind, die sich in den Dienst der Ideologie stellte. Wir sind uns dessen bewußt, wie einfach es ist, Erfolge auf dem Gebiet der Psychologie gegen den Menschen, seine Freiheit und seine personale Integrität einzusetzen. Mehr und mehr erkennen wir, welch zerstörerische Auswirkungen die Literatur, Kunst oder Musik auf die Persönlichkeit vor allem junger Menschen haben kann, wenn sie inhaltlich von einer menschenfeindlichen Haltung geprägt sind.
Die Menschheit, die die Auswirkungen der »Entfremdung« des Werks gegenüber dem Schaffenden, sowohl auf personaler als auch auf gemeinschaftlicher Ebene, erfährt, befindet sich gewissermaßen an einem Scheideweg. Einerseits ist der Mensch zweifellos vom Schöpfer dazu berufen und befähigt, schöpferisch zu wirken und sich die Erde untertan zu machen. Bekannt ist auch, daß die Erfüllung dieser Berufung die treibende Kraft der Entwicklung in den verschiedenen Lebensbereichen geworden ist, einer Entwicklung, die ausschließlich dem Gemeinwohl dienen sollte. Andererseits fürchtet die Menschheit jedoch, daß die Erfolge ihrer Kreativität sich gegen sie wenden und sogar zerstörerische Auswirkungen haben könnten.
3. Angesichts dieser gespannten Lage sind wir uns alle bewußt, daß den Universitäten und allen höheren Lehranstalten als Umfeld, das die Entwicklung in den verschiedenen Lebensbereichen unmittelbar beeinflußt, eine entscheidende Rolle zukommt. Somit müssen wir uns fragen, welche innere Struktur diese Einrichtungen haben sollten, um einen dauerhaften Schöpfungsprozeß zu gewährleisten, dessen Früchte nicht der »Entfremdung« ausgesetzt sind und sich nicht gegen ihren eigenen Urheber, den Menschen, richten.
Das grundlegende Bestreben einer in diesem Sinn orientierten Universität liegt in der Sorge um den Menschen, um seine Menschlichkeit. Auf jedem Forschungsgebiet, in allen Sektoren wissenschaftlicher oder kreativer Arbeit sollte jeder, der in diesen Bereichen seine wissenschaftlichen Kenntnisse, seine Fähigkeiten und Bemühungen einbringt, sich zunächst fragen, in welchem Maß seine Arbeit die eigene Menschlichkeit fördert und dann, ob sie das menschliche Leben in jeder Hinsicht menschlicher und menschenwürdiger gestaltet. Schließlich stellt sich die Frage, ob der Mensch im Zusammenhang mit diesem Fortschritt, dessen Urheber und Förderer er ist, »wirklich besser [wird], das heißt geistig reifer, bewußter in seiner Menschenwürde, verantwortungsvoller, offener für den Mitmenschen, vor allem für die Hilfsbedürftigen und Schwachen, und hilfsbereiter zu allen« (Redemptoris hominis, 15)?
In einer solch umfassend verstandenen Orientierung der Wissenschaft kommt ihr Dienstcharakter zum Ausdruck. Wenn wissenschaftliche Arbeit nicht als Dienstleistung am Menschen verstanden wird, kann sie durchaus Element wirtschaftlicher Submission werden und folglich wohl kaum am Gemeinwohl interessiert sein, oder – schlimmer noch –, sie könnte zur Herrschaft über andere genutzt werden und den totalitären Bestrebungen einzelner oder ganzer Gesellschaftsgruppen dienen. Daher sollten sich sowohl erfahrene Wissenschaftler als auch Studenten am Anfang ihrer beruflichen Karriere die Frage stellen, ob ihr berechtigter Wunsch, Geheimnisse zu ergründen und Kenntnisse zu vertiefen, den fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit, der Solidarität, der Liebe für die Gemeinschaft, der Achtung der Rechte des einzelnen Menschen, des Volkes oder der Nation entspricht.
Auf diesem Dienstcharakter der Wissenschaft gründen Verpflichtungen nicht nur im Hinblick auf den Menschen oder die Gesellschaft, sondern auch – und ganz besonders – gegenüber der Wahrheit selbst. Der Wissenschaftler ist keineswegs Urheber, sondern vielmehr Ergründer der Wahrheit. Sie wird ihm in dem Maße offenbar werden wie er ihr treu bleibt. Die Achtung der Wahrheit verpflichtet den Wissenschaftler oder Intellektuellen, alles zu tun, um sie zu vertiefen und sie, im Bereich des Möglichen, an andere unverkürzt weiterzugeben. Gewiß, das Konzil betont, »daß die geschaffenen Dinge und auch die Gesellschaften ihre eigenen Gesetze und Werte haben, die der Mensch schrittweise erkennen, gebrauchen und gestalten muß« und in diesem Zusammenhang unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methoden achten soll (Gaudium et spes, 36). Dennoch sollten wir uns daran erinnern, daß nur ein methodisches und wirklich wissenschaftliches Forschen und die Achtung sittlicher Normen zur einzig wahren Wahrheit führen. Das berechtigte Streben nach Wahrheit kann nie das vernachlässigen, was dem Wesen der Wahrheit entspricht: die Erkenntnis von Gut und Böse.
Hier berühren wir die Frage nach der Autonomie der Wissenschaften. Heute wird oft die Forderung nach der grenzenlosen Freiheit wissenschaftlicher Forschung hervorgehoben. Wie ich in diesem Zusammenhang bereits betont habe, hat die Wissenschaft einerseits das Recht, die ihr eigenen Forschungsmethoden anzuwenden, andererseits kann man jedoch nicht mit der Behauptung übereinstimmen, daß die Forschung selbst keinerlei Einschränkungen unterworfen ist. Die Grenze liegt genau hier: in der grundlegenden Unterscheidung zwischen Gut und Böse, und diese Unterscheidung vollzieht sich im Gewissen des Menschen. Wir können somit sagen, daß wissenschaftliche Autonomie dort aufhört, wo das Gewissen des Wissenschaftlers Böses erkennt – Böses in der Methode, im Ergebnis oder in den Auswirkungen. Daher ist es so wichtig, daß Universitäten und wissenschaftliche Hochschulen sich nicht nur auf die Weitergabe des Wissens beschränken, sondern auch zur Gewissensbildung beitragen, denn hierin, und nicht im Wissen, liegt das Geheimnis der Weisheit. »Unsere Zeit braucht« – so betont das Konzil – »mehr als die vergangenen Jahrhunderte diese Weisheit, damit humaner wird, was Neues vom Menschen entdeckt wird. Es gerät nämlich das künftige Geschick der Welt in Gefahr, wenn nicht weisere Menschen entstehen« (Gaudium et spes, 15).
4. Heute wird viel von Globalisierung gesprochen, und scheinbar beeinflußt dieser Prozeß auch den wissenschaftlichen Bereich – allerdings nicht immer auf positive Art und Weise. Eine mit der Globalisierung in Zusammenhang stehende Gefahr ist das Fehlen von gesunder Rivalität. Wissenschaftler, ja sogar ganze wissenschaftliche Kreise scheinen zu glauben, daß, um dem Wettbewerb auf dem Weltmarkt standhalten zu können, Beobachtungen, Forschungsarbeiten und experimentelle Überprüfungen nicht allein mit korrekten, gültigen Methoden durchführbar sind, sondern vielmehr den im voraus festgelegten Zielen und den Erwartungen einer größtmöglichen Öffentlichkeit entsprechen müssen, auch wenn hierdurch unveräußerliche menschliche Rechte verletzt werden. In dieser Hinsicht weichen die Anforderungen der Wahrheit den sogenannten Gesetzen der freien Marktwirtschaft. Allzu leicht kann das zum Verschweigen verschiedener Aspekte der Wahrheit oder sogar zu ihrer Manipulierung führen, lediglich um sie für die sogenannte öffentliche Meinung akzeptabel zu gestalten. Ihrerseits scheint diese Annehmbarkeit dann wiederum ein ausreichender Beweis zu sein für die Gültigkeit dieser nicht zu rechtfertigenden Methoden. In einer solchen Situation ist es schwierig, selbst an den fundamentalen Regeln der Ethik festzuhalten. Wenn also eine gewisse Konkurrenz wissenschaftlicher Zentren richtig und wünschenswert ist, dann darf diese Rivalität jedoch nicht auf Kosten der Wahrheit, des Guten und Schönen gehen oder Werte wie das menschliche Leben von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod oder naturgegebene Ressourcen gefährden. Daher sollte die Universität und jedes wissenschaftliche Zentrum nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch lehren, korrekte, ehrliche Verfahrensweise klar zu erkennen und den Mut zu haben, auf das zu verzichten, was zwar aus methodologischer Sicht durchführbar, ethisch gesehen aber zu verurteilen ist.
Diese Anforderung kann nur durch Weitblick erfüllt werden, durch die Fähigkeit, die Auswirkungen menschlichen Handelns vorauszusehen und durch eine verantwortungsbewußte Haltung hinsichtlich der Situation des Menschen nicht nur hier und in diesem Augenblick, sondern auch im entferntesten Winkel der Welt und in einer unbestimmten Zukunft. Sowohl Wissenschaftler als auch Studenten müssen stets lernen, die Richtung der Entwicklung ebenso wie die Auswirkungen ihrer wissenschaftlichen Forschungsarbeit für die Menschheit vorauszusehen.
5. Dies waren lediglich einige Empfehlungen, die aus der Sorge um die menschliche Prägung der Hochschule entstanden sind. Es scheint, daß durch die enge Zusammenarbeit und den Erfahrungsaustausch zwischen Vertretern der technischen und humanistischen, einschließlich der theologischen Wissenschaften die Erfüllung dieser Postulate leichter zu verwirklichen ist. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten der Kontaktaufnahme im Bereich der bereits existierenden Universitätsstrukturen. Begegnungen wie diese öffnen, so meine ich, neue Perspektiven der Zusammenarbeit zur Förderung der Wissenschaft und für das Wohl des Menschen und der Gesellschaft.
Wenn ich heute von all dem spreche, geschieht dies aus gutem Grund, denn »die Kirche, die aus einem eschatologischen Glauben lebt, betrachtet diese Besorgnis des Menschen um seine Menschlichkeit, um die Zukunft der Menschen auf Erden und damit auch um die Richtung von Entwicklung und Fortschritt als ein wesentliches Element ihrer Sendung, das hiervon nicht getrennt werden darf. Den Kern dieser Sorge findet die Kirche in Jesus Christus selbst, wie die Evangelien bezeugen. Gerade darum möchte sie dieses Engagement aus der Einheit mit ihm verstärken, indem sie die Situation des Menschen in der heutigen Welt nach den wichtigsten Zeichen unserer Zeit interpretiert« (Redemptor hominis, 15).
Verehrte Damen und Herrn, ich danke allen für ihre Anwesenheit und ihre Bereitschaft, eine weitreichende Zusammenarbeit aufzunehmen zur Förderung der Wissenschaft in Polen und in der ganzen Welt, eine Bereitschaft, die nicht nur bei solch feierlichen Anlässen deutlich wird, sondern die sich auch im Universitätsalltag zeigt. Ihr bildet einen besonderen Kreis, der – wie ich hoffe – in gleichwertiger Form auch in den Strukturen des sich vereinenden Europas seine Entsprechung finden wird.
Bitte überbringt meine herzlichen Grüße und die Versicherung meines steten Gebetsgedenkens auch euren Mitarbeitern, den hochgeschätzten Professoren, dem wissenschaftlichen und in der Verwaltung tätigen Personal und der Vielzahl von Studenten. Möge das Licht des Heiligen Geistes alle Vertreter der wissenschaftlichen, intellektuellen und kulturellen Umfelds Polens begleiten! Stets begleite euch der Segen Gottes!
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