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Der Einfluss Kardinal Ratzingers
bei der Revision der kirchlichen Strafrechtsordnung

 

S.E. Bischof Juan Ignacio Arrieta
Sekretär des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte

 

Der Päpstliche Rat für die Gesetzestexte wird seinen Mitgliedern und Konsultoren in den kommenden Wochen einen Entwurf mit verschiedenen Vorschlägen für die Reform des VI. Buches des Codex Iuris Canonici, welches die Grundlagen der kirchlichen Strafrechtsordnung enthält, zusenden. Eine Kommission von Strafrechtsexperten hat beinahe zwei Jahre daran gearbeitet. Als Grundlage für die Revision diente der 1983 promulgierte Text unter Berücksichtigung der in den Folgejahren neu aufgekommenen Bedürfnisse. Der Grundansatz sowie die fortlaufende Nummerierung der Canones sollen beibehalten werden. Gleichzeitig ist aber beabsichtigt, einige der damals verankerten gesetzgeberischen Entscheidungen, die sich im folgenden als weniger gelungen herausgestellt haben, eingehend zu modifizieren.

Die endgültige Fassung des Entwurfes bedarf noch, wie gesagt, des Abschlusses der gebotenen Konsultationen, bevor er dem Höchsten Gesetzgeber zur möglichen Approbation vorgelegt wird. Ausgangspunkt der Initiative war ein ausdrücklicher Auftrag Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. an den Präsidenten sowie den Sekretär des Päpstlichen Rates in der ersten ihnen in dieser neuen Aufgabe gewährten Audienz am 28. September 2007 in Castel Gandolfo. Aus dem Verlauf jener Begegnung und aus den konkreten Fragen technischer Art, welche dabei spontan aufkamen, wurde deutlich, wie sehr der Auftrag einer tiefen, in Jahren der direkten Erfahrung herangereiften Überzeugung des Heiligen Vaters sowie seiner Sorge um die Integrität und kohärente Anwendung der disziplinarischen Ordnung innerhalb der Kirche entsprach. Diese Überzeugung und Sorge haben, wie sich noch zeigen wird, die Schritte des derzeitigen Papstes seit Beginn seiner Arbeit als Präfekt der Glaubenskongregation geleitet. Dies geschah unbeschadet der objektiven Schwierigkeiten, welche sich unter anderem aus der besonderen gesetzgeberischen Situation ergaben, in der sich die Kirche damals, 1983, im Vorfeld der Promulgation des Codex des Kirchenrechts befand.

Zur besseren Einschätzung ist es notwendig, einige Besonderheiten der Gesetzgebung in Erinnerung zu rufen, welche in jener Zeit gerade erst eine Umgestaltung erfahren hatte.

Die Strafrechtsordnung des Codex von 1983

Die Strafrechtsordnung des Codex von 1983 geht im Vergleich zur früheren des Codex von 1917 von einem wesentlich neuen Grundansatz aus und fügt sich in den ekklesiologischen Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils ein. Was den hier zu behandelnden Kontext betrifft, sieht sich die Strafdisziplin auch den Kriterien der Subsidiarität und der „Dezentralisation“ (5. Prinzip für die Codexreform, approbiert von der Bischofssynode 1967) verpflichtet – ein Begriff, der auf die besondere Stellung hinweisen soll, welche dem Partikularrecht und vor allem der Initiative der einzelnen Bischöfe in der pastoralen Leitung zukommt, da diese ja nach der Lehre des Konzils (LG 27) in ihren jeweiligen Diözesen Stellvertreter Christi sind. Tatsächlich vertraut der Codex in der Mehrzahl der Fälle den Ortsordinarien und den Ordensoberen die Entscheidung über das Ob und das Wie der Strafverhängung im Einzelfall an.

Aber ein weiterer Faktor hat das neue kirchliche Strafrecht noch tiefgreifender markiert: die für die Verhängung der Kirchenstrafen aufgestellten rechtlichen Formbestimmungen und die Verfahrensgarantien (6. und 7. Prinzip für die Codexreform). In Übereinstimmung mit der Formulierung grundlegender Rechte aller Getauften, die im Codex erstmalig erschien, wurden nämlich Schutzmechanismen zugunsten dieser Rechte eingeführt. Diese stammten teilweise aus der kirchlichen Rechtstradition, teilweise wurden sie auch der Erfahrung anderer Rechtskreise entnommen, wobei dies gelegentlich auf eine Weise erfolgte, die der Wirklichkeit der Kirche in der ganzen Welt nicht gänzlich entsprach. Garantien sind unumgänglich notwendig, vor allem im Strafrecht. Gleichwohl müssen sie ausgewogen sein und auch den effektiven Schutz des Allgemeininteresses erlauben. Die nachfolgende Erfahrung hat gezeigt, daß einige der Rechtsschutzmechanismen des Codex nicht in dem von der Gerechtigkeit zum Schutz der Rechte geforderten Ausmaß unverzichtbar waren und daß man sie durch andere, der kirchlichen Realität besser entsprechende Garantien hätte ersetzen können; in verschiedenen Fällen stellten die besagten Mechanismen sogar ein objektives, aufgrund der beschränkten Mittel manchmal unüberwindliches Hindernis für die wirkliche Anwendung des Strafrechts dar.

So paradox das jetzt auch klingen mag, könnte man wohl sagen, daß das VI. Buch über die Strafbestimmungen unter den Büchern des Codex dasjenige ist, das aus dem für die nachkonziliare Epoche typischen ständigen Hin und Her in der Gesetzgebung am wenigsten „Nutzen“ ziehen konnte. Andere Bereiche des Kirchenrechts hatten nämlich in jener Zeit die Gelegenheit, sich mittels verschiedener Vorschriften ad experimentum mit der konkreten Wirklichkeit der Kirche auseinanderzusetzen. Die dabei gesammelten positiven oder negativen Erfahrungen konnten dann in die Ausarbeitung der endgültigen Normen des Codex einfließen. Der neuen Strafrechtsordnung hingegen (obwohl sie verglichen mit der vorhergehenden Normierung völlig oder fast völlig neu war) fehlte diese „Gelegenheit“ einer experimentellen Gegenüberstellung gänzlich, so daß sie 1983 praktisch „bei Null“ beginnen mußte. Die Zahl der typisierten Straftaten war drastisch auf die besonders schwerwiegenden Verhaltensweisen beschränkt worden. Die Strafverhängung blieb den Beurteilungsmaßstäben eines jeden einzelnen Ordinarius überlassen, die naturgemäß unterschiedlich ausfielen.

Hinzu kommt, daß damals wie heute gerade in diesem Bereich des kirchlichen Disziplinarrechts der Einfluß einer verbreiteten Legalismus-Feindlichkeit zu spüren war, die sich unter anderem in der „vorgeblichen“ Schwierigkeit ausdrückte, die Anforderungen der pastoralen Nächstenliebe mit denen der Gerechtigkeit und der guten Leitung zu vereinbaren. So finden sich sogar in einigen Canones des Codex selbst einige Ermahnungen zur Toleranz, die bisweilen – freilich zu Unrecht – als Anregung an den Ordinarius interpretiert werden könnten, von der Verhängung der Strafsanktionen abzusehen, wo diese aus Gründen der Gerechtigkeit erforderlich wären.

Diese schlaglichtartigen Ausführungen, die natürlich weiterer Nuancierungen bedürfen, die in wenigen Zeilen unmöglich dargestellt werden können, geben in groben Zügen einige wesentliche Grundlinien der Strafrechtsordnung des aktuellen Codex wider. Dieser fügte sich außerdem in den allgemeinen Rahmen anderer wichtiger Neuerungen in Disziplin und Leitung ein, welche vom Zweiten Vatikanischen Konzil zwar gefördert, aber erst mit der Promulgierung des CIC ausformuliert wurden.

Die Anfrage der Glaubenskongregation (Februar 1988)

Mit dieser soeben dargelegten rechtlichen Rahmensituation stand ein auf den 19. Februar 1988 datierter Brief des Präfekten der (damals so genannten) Heiligen Kongregation für die Glaubenslehre, Kardinal Joseph Ratzinger, an den Präsidenten der damaligen Päpstlichen Kommission für die authentische Interpretation des Codex des Kirchenrechts in augenscheinlichem Kontrast. Es handelt sich dabei um ein bedeutendes und einzigartiges Dokument, in welchem die für die Kirche negativen Folgen einiger Regelungen der gerade erst fünf Jahre zuvor eingeführten Strafrechtsordnung aufgezeigt wurden. Das Schreiben ist im Zusammenhang der in dieser Zeit erfolgten Arbeiten des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte zur Revision des VI. Buches wieder zum Vorschein gekommen.

Die Beweggründe des Schreibens sind klar umrissen. Die Heilige Kongregation für die Glaubenslehre war in jener Zeit zuständig für die Begutachtung der Bittgesuche um Dispens von den bei der Weihe übernommenen priesterlichen Verpflichtungen. Die entsprechende Dispens wurde als mütterliche Gnadengeste von Seiten der Kirche gewährt. Zuvor wurde einerseits die Gesamtheit aller im Einzelfall mitspielenden Umstände sorgfältig geprüft und andererseits die objektive Gewichtigkeit der vor Gott und der Kirche im Augenblick der Priesterweihe eingegangenen Verpflichtungen abgewogen. Die Umstände, die einige der Bittgesuche um Dispens von diesen Verpflichtungen begründeten, waren jedoch alles andere als eines Gnadenaktes würdig. Der Inhalt des Briefes beschreibt die diesbezügliche Problematik ausreichend deutlich:

Eminenz, bei der Bearbeitung der Dispensgesuche von den priesterlichen Verpflichtungen stößt dieses Dikasterium auf Fälle von Priestern, die sich während der Ausübung ihres Dienstes schwerer und skandalöser Verhaltensweisen schuldig gemacht haben, für welche der CIC – nach einem entsprechenden Verfahren – die Verhängung bestimmter Strafen vorsieht, die Versetzung in den laikalen Stand nicht ausgeschlossen.

Solche Vorkehrungen müßten nach Ansicht dieses Dikasteriums in einigen Fällen zum Wohl der Gläubigen einer möglichen Gewährung der Dispens, welche ihrer Natur nach einer „Gnade“ zugunsten des Bittstellers gleichkommt, vorausgehen. In Anbetracht der Kompliziertheit des vom Codex dafür vorgesehenen Verfahrens ist jedoch vorhersehbar, daß einige Ordinarien bei seiner Umsetzung auf beträchtliche Schwierigkeiten stoßen werden.

Daher wäre ich Eurer hochwürdigsten Eminenz für Ihre geschätzte Meinung dankbar, welche Möglichkeit bestehen könnte, in bestimmten Fällen ein schnelleres und vereinfachtes Verfahren vorzusehen.

Der Brief bringt vor allem das natürliche Widerstreben der Rechtsordnung zum Ausdruck, etwas als „Gnadenakt“ (Dispens von den priesterlichen Verpflichtungen) zu gewähren, was vielmehr als Strafe verhängt werden muß (Entlassung ex poena aus dem Klerikerstand). Um „technische Komplikationen“ der vom Codex vorgesehenen Verfahren zur Bestrafung rechtswidrigen Verhaltens zu vermeiden, wurde gelegentlich auf das „freiwillige“ Ansuchen des Schuldigen zurückgegriffen, das Priestertum zu verlassen. Auf diese Weise gelangte man sozusagen zu demselben „praktischen“ Ergebnis, den Betreffenden aus dem Priestertum zu entfernen – sofern dies die vorgesehene Strafsanktion war – und umging gleichzeitig „lästige“ juristische Verfahren. Dies war, wie man in diesen Fällen zu sagen pflegte, eine „pastorale“ Vorgehensweise am Rande des rechtlich Vorgesehenen. Dabei wurde jedoch auch die Gerechtigkeit aufgegeben und, wie Kardinal Ratzinger ausführte, ungerechterweise „das Wohl der Gläubigen“ außer Acht gelassen. Darin lag das zentrale Anliegen der Anfrage wie auch der Grund, warum in diesen Fällen der Verhängung gerechter Strafmaßnahmen der Vorrang eingeräumt werden sollte durch schnellere und vereinfachte Verfahren als die im CIC vorgesehenen.

Obwohl der Codex eine spezifische Jurisdiktion der Glaubenskongregation auf dem Gebiet des Strafrechts (can. 1362 § 1, 1 CIC) auch außerhalb der Fälle evident doktrinellen Charakters anerkannte (zum Beispiel Straftaten der Häresie – ebenso wie schwerste, das Bußsakrament betreffende Vergehen wie das der Verführung), muß berücksichtigt werden, daß im damaligen normativen Kontext keineswegs eindeutig ersichtlich war, welche anderen konkreten Delikte in die Strafrechtskompetenz dieses Dikasteriums fielen. Canon 6 des Codex hatte im übrigen jedwedes andere frühere Strafgesetz ausdrücklich aufgehoben: „Mit Inkrafttreten dieses Codex werden aufgehoben ... alle allgemeinen oder partikularen Strafgesetze, die vom Apostolischen Stuhl erlassen worden sind, es sei denn, daß sie in diesem Codex selbst aufgenommen sind“. Außerdem beschränkten sich die Vorschriften der Apostolischen Konstitution Regimini Ecclesiae universae aus dem Jahr 1967, welche die Kompetenzen der Dikasterien der Römischen Kurie festlegte, darauf, der Kongregation die Aufgabe anzuvertrauen, „die Lehre über den Glauben und die Sitten in der ganzen katholischen Welt zu schützen“ (Art. 29).

Der Brief des Präfekten der Kongregation setzt daher voraus, daß die rechtliche Verantwortung im Strafrecht auf die Ordinarien oder auf die Ordensoberen zurückfällt, wie aus dem Wortlaut des Codex hervorgeht.

Die Antwort der Päpstlichen Kommission für die Interpretation (März 1988)

Nach drei Wochen, mit Brief vom 10. März 1988, erfolgte die Antwort der damaligen Päpstlichen Kommission. Die rasche Ausführung und der Inhalt des Antwortschreibens werden verständlich, wenn man die besondere Situation des Stands der Gesetzgebung bedenkt: Die Arbeit am Codex, welche die Kommission über Jahrzehnte beschäftigt hatte, war gerade abgeschossen. Demgegenüber war der Prozeß der Angleichung der anderen Normen des universalen und partikularen Rechts – ebenso wie des Eigenrechts anderer Institutionen der Leitung der Kirche – an das neue Disziplinarrecht des Codex noch im Gange. Das Antwortschreiben teilte zwar die vorgebrachten Beweggründe und stimmte auch darin zu, daß strafrechtliche Sanktionen der Gewährung von Gnadenentscheidungen vorzuziehen seien. Unausweichlich wurde aber auch die vorrangige Notwendigkeit bestätigt, daß diejenigen, welche die Autorität und die rechtliche Macht besaßen, die Vorschriften des soeben promulgierten Codex in der gebotenen Weise anwendeten.

Der Text, den der damalige Präsident der Päpstlichen Kommission dem Präfekt der Glaubenskongregation übersandte, spiegelt die seinerzeitige Lage wider:

Ich kann gut verstehen, daß Sie, Eminenz, über den Umstand besorgt sind, daß die betreffenden Ordinarien nicht an erster Stelle ihre richterliche Gewalt ausgeübt haben, derartige Straftaten – auch zum Schutz des allgemeinen Wohls der Gläubigen – angemessen zu bestrafen. Indes scheint das Problem nicht auf der Ebene des rechtlichen Verfahrens zu liegen, sondern auf derjenigen der verantwortungsvollen Ausübung einer Leitungsfunktion.

Im geltenden Codex sind die Straftaten, die den Verlust des klerikalen Standes nach sich ziehen können, eindeutig bestimmt: Sie werden in den cann. 1364 § 1, 1367, 1370, 1387, 1394 und 1395 benannt. Gleichzeitig ist das Verfahren im Vergleich zu den vorher geltenden Normen des CIC 1917 beträchtlich vereinfacht und beschleunigt worden, auch mit der Zielsetzung, die Ordinarien anzuregen, mittels der notwendigen Verurteilung Schuldiger nach Maßgabe des Rechts und der Anwendung der vorgesehenen Sanktionen ihre Autorität wahrzunehmen.

Das gerichtliche Verfahren zur Verhängung oder Feststellung derart schwerer Strafen wie der Entlassung aus dem klerikalen Stand weiter vereinfachen zu wollen, erscheint gänzlich unangemessen, ebenso eine Änderung der bestehenden Bestimmung des can. 1342 § 2, die in diesen Fällen ein Vorgehen mittels eines außergerichtlichen Strafdekrets (vgl. can. 1720) verbietet. Man würde nämlich einerseits das Grundrecht auf Verteidigung gefährden – und dies in Verfahren, die den Status einer Person betreffen – und andererseits die (vielleicht auf einem Mangel an der erforderlichen Kenntnis oder Wertschätzung des Rechts beruhende) beklagenswerte Neigung zu einer fehlgehenden, als „pastoral“ bezeichneten Leitung begünstigen, die im Grunde nicht pastoral ist, weil sie zur Vernachlässigung der gebotenen Ausübung der Autorität führt, was dem allgemeinen Wohl der Gläubigen Schaden zufügt.

Auch zu anderen schwierigen Zeiten im Leben der Kirche, der Verwirrung des Gewissens und des Nachlassens der kirchlichen Disziplin haben es die heiligen Hirten nicht versäumt, ihre richterliche Gewalt zum Schutz des obersten Gutes des „Heils der Seelen“ auszuüben.

Sodann unternimmt der Brief einen Exkurs über die Diskussion im Verlauf der Codex-Revision, an deren Ende die Entscheidung stand, die sogenannte ex-officio-Entlassung aus dem klerikalen Stand nicht einzuführen. Man war zum Ergebnis gelangt, daß diejenigen Fallkonstellationen, die ein solches ex-officio-Verfahren hätten rechtfertigen können, nahezu durchweg in Gestalt derjenigen Straftaten typisiert worden waren, für welche die Entlassung aus dem klerikalen Stand vorgesehen worden war (vgl. Communicationes 14 [1982], 85). Aus eben diesem Grund erwähnen auch die neuen Bestimmungen hinsichtlich der Dispens von der priesterlichen Zölibatsverpflichtung vom 14. Oktober 1980 (AAS 72 [1980], 1136-1137) ein derartiges Verfahren nicht, das hingegen in den Vorgängerbestimmungen von 1971 (AAS 63 [1971]), 303-308) vorgesehen war.

In Anbetracht all dieser Gesichtspunkte – so abschließend die Antwort – vertritt diese Päpstliche Kommission die Ansicht, daß in geeigneter Weise gegenüber den Bischöfen (vgl. can. 1389) darauf zu dringen ist, daß diese sooft es sich als notwendig erweist es nicht versäumen, selbst ihre richterliche wie ihre Zwangsgewalt auszuüben, anstatt Bittgesuche um Dispens an den Heiligen Stuhl weiterzuleiten.

Obwohl die Päpstliche Kommission den Grundansatz, das „allgemeine Wohl der Gläubigen“ zu schützen, teilte, erschien es ihr riskant, einige bestimmte Verfahrensgarantien zu streichen, statt die Verantwortlichen zu ermahnen, das geltende Recht auch anzuwenden.

Der Briefwechsel zwischen den Dikasterien endete seinerzeit mit einer höflichen Antwort des Präfekten der Glaubenskongregation an den Präsidenten der Päpstlichen Kommission vom 14. Mai 1988:

Ich beehre mich, Ihnen mitzuteilen, daß diesem Dikasterium Ihr geschätztes Votum zur Kenntnis gelangt ist, welche Möglichkeiten bestehen, ein im Vergleich zu dem gegenwärtig geltenden schnelleres und vereinfachtes Verfahren vorzusehen, um seitens der zuständigen Ordinarien gegen Priester, die sich schwerwiegender und skandalöser Verhaltensweisen schuldig gemacht haben, Strafen zu verhängen. In Anbetracht dessen möchte ich Eurer hochwürdigsten Eminenz versichern, daß das von Ihnen Dargelegte seitens dieser Kongregation sorgsam in Betracht gezogen werden wird.

Die Konstitution „Pastor Bonus“ erweitert die Zuständigkeiten der Kongregation (Juni 1988)

Formal schien die Angelegenheit beendet, doch das Problem war nicht gelöst. Genau einen Monat später erfolgte das erste bedeutende Zeichen einer Änderung der Situation auf anderem Weg, nämlich mit der Promulgation der Apostolischen Konstitution Pastor Bonus. Diese modifizierte die Gesamtorganisation der Römischen Kurie, wie sie in der Konstitution Regimini Ecclesiae universae von 1967 normiert war, und ordnete die Zuständigkeiten der einzelnen Dikasterien neu zu. Art. 52 dieser bis heute gültigen Norm setzt eindeutig die ausschließliche Strafgerichtsbarkeit der Kongregation für die Glaubenslehre fest, die nicht nur Straftaten gegen den Glauben oder bei der Feier der Sakramente betrifft, sondern auch „schwerwiegendere Delikte gegen die Moral“. Die Kongregation für die Glaubenslehre „urteilt über Straftaten gegen den Glauben und über schwerwiegendere Straftaten gegen die Sitten und solche, die bei der Feier der Sakramente begangen wurden, wenn diese ihr angezeigt wurden, und, wo es angebracht ist, wird sie nach Maßgabe des allgemeinen oder des besonderen Rechts kanonische Strafen feststellen oder verhängen“ (Art. 52 Pastor Bonus).

Diese Vorschrift, offenkundig auf Betreiben der von Kardinal Ratzinger geleiteten Kongregation aufgrund ihrer eigenen Erfahrung in die Konstitution eingefügt, weist eine direkte Beziehung zu dem soeben Behandelten auf. Noch deutlicher wird dies, führt man sich vor Augen, daß der vorhergehende Gesetzentwurf – das drei Jahre zuvor erarbeitete Schema Legis Peculiaris de Curia Romana – sich weitgehend mit der Wiedergabe der Zuständigkeiten begnügte, wie sie 1967 in der Konstitution Regimini bestimmt worden war, wo es schlicht hieß, daß die Kongregation „über Straftaten gegen den Glauben befindet und verfährt, wann immer es notwendig ist, kanonische Strafen festzustellen oder zu verhängen, nach der Rechtsnorm“ (Art. 36 des Schemas Legis Peculiaris de Curia Romana, Typis Polyglottis Vaticanis 1985, S. 35).

Verglichen mit der vorherigen Rechtslage bedeutet die durch die Apostolische Konstitution Pastor Bonus bewirkte Gesetzesänderung also eine eindeutige Spezifizierung, um so mehr, als sie vor dem normativen Hintergrund des Codex von 1983 erfolgte und in Bezugnahme auf die in ihm definierten Straftaten (zusätzlich zum Eigenrecht der Kongregation selbst). In einem normativen Kontext, der von den erwähnten Kriterien der Subsidiarität und der „Dezentralisation“ geprägt war, behielt nunmehr die Apostolische Konstitution Pastor Bonus von Rechts wegen dem Heiligen Stuhl eine ganze Kategorie von Straftaten vor (vgl. can 381 § 1 CIC), welche der Papst der ausschließlichen Gerichtsbarkeit der Kongregation für die Glaubenslehre zuwies. Man kann erhebliche Zweifel anmelden, ob eine solche Entscheidung, welche die Kompetenzen der Kongregation genauer bestimmte und das Kriterium des Codex hinsichtlich der Zuständigkeit der kanonischen Strafverhängung modifizierte, getroffen worden wäre, wenn das System vollständig funktioniert hätte.

Gleichwohl erschien die oben erwähnte Norm auf der Ebene der Rechtsanwendung noch unzureichend. Elementare Erfordernisse der Rechtssicherheit machten es notwendig, zunächst einmal diejenigen „schwereren Straftaten“ – seien es solche gegen die Moral oder solche, die bei der Feier der Sakramente begangen werden – konkret zu benennen, welche die Konstitution Pastor Bonus der Zuständigkeit der Ordinarien entzog und nunmehr der Kongregation zuwies.

Zwei bedeutsame spätere Gesetzesänderungen

Die bislang dargelegten Vorkommnisse betreffen, wie gesehen, einen kurzen Zeitraum: einige Monate der ersten Jahreshälfte 1988. In den folgenden Jahren – allgemein gesprochen – versuchte man noch, den im Zusammenhang mit Strafen in der Kirche aufgetretenen dringlichen Fragen zu begegnen, indem man den allgemeinen Kriterien des Codex von 1983 folgte, die im wesentlichen im Schreiben der Päpstlichen Kommission für die Interpretation des Codex Iuris Canonici zusammengefaßt waren. So bemühte man sich, die Ortsordinarien zum Handeln zu ermutigen, indem man mitunter die Verfahren erleichtern wollte oder auch mittels spezieller Gesetze vorging – beides unter Einbeziehung vor allem der betroffenen Bischofskonferenzen. Im Laufe der 1990er Jahre haben dann derartige Treffen und Projekte zugenommen, an denen – wie sich leicht dokumentieren läßt – verschiedene Dikasterien der römischen Kurie beteiligt waren.

Die fortlaufenden Erfahrungen bestätigten jedoch, daß diese Lösungen unzureichend waren und daß an ihrer Stelle andere – von größerer Reichweite und auf einer anderen Ebene – notwendig waren. Besonders zwei von ihnen haben die Konzeption des kanonischen Strafrechts entscheidend verändert – woran in diesen letzten Monaten der Päpstliche Rat für die Gesetzestexte arbeiten mußte –, und hinter beiden stand als Protagonist der jetzige Papst, in vollkommener Kontinuität mit den im oben behandelten Brief von 1988 zum Ausdruck gebrachten Besorgnissen.

Die erste, bereits hinreichend bekannte Initiative betrifft die Vorbereitung der Ausführungsbestimmungen zu den sogenannten delicta graviora in den späten 1990er Jahren. Diese Ausführungsbestimmungen erst hatten Art. 52 der Apostolischen Konstitution Pastor Bonus wirksam werden lassen, indem sie konkret festlegten, welche Straftaten gegen die Moral und welche bei der Feier der Sakramente begangenen Straftaten als „besonders schwerwiegend“ zu gelten haben und daher der ausschließlichen Gerichtsbarkeit der Kongregation für die Glaubenslehre unterliegen.

Diese im Jahr 2001 promulgierten Bestimmungen, schließlich, erscheinen in Bezug auf die vom Codex für die Anwendung von Strafsanktionen vorgesehenen Kriterien zwangsläufig als „Gegentendenz“. So wurden sie vielerorts sogleich als „zentralisierende“ Normen abgestempelt, während sie in Wirklichkeit einer klaren Pflicht der „Vertretung“ entsprachen, wobei es in erster Linie darum ging, ein ernsthaftes Problem der Kirche bei der Anwendungsfähigkeit des Strafsystems zu lösen und an zweiter Stelle darum, bei derartigen Fällen ein einheitliches Vorgehen in der ganzen Kirche sicherzustellen. Zu diesem Zweck mußte die Kongregation zunächst die entsprechenden internen Verfahrensvorschriften vorbereiten und gleichzeitig das Dikasterium umorganisieren, um diese Rechtsprechungstätigkeit mit den Prozeßbestimmungen des Codex in Übereinstimmung zu bringen.

Aufgrund der sich herausstellenden juristischen Erfahrung erhielt der damalige Präfekt der Kongregation ab 2001 vom Heiligen Vater außerdem neue Befugnisse und Dispensen, um die verschiedenen Fallgestaltungen zu behandeln, bis hin zur Definition neuer Straftatbestände. Man gelangte unterdessen zu der Überzeugung, daß im Fall von Klerikern, die sehr schwerer Straftaten angeklagt waren und diese gestanden hatten, die „Gnade“ der Dispens von den priesterlichen Pflichten und die folgliche Versetzung in den laikalen Stand auch eine Gnade pro bono Ecclesiae sei. Aus ebendiesem Grund zögerte die Kongregation in einigen besonders schweren Fällen nicht, vom Papst das Dekret zur ex-officio-Entlassung aus dem klerikalen Stand für Priester zu erbitten, die verabscheuungswerte Verbrechen verübt hatten. Diese späteren Anpassungen sind nun in den Bestimmungen über die delicta graviora zusammengefaßt, welche die Kongregation im vergangenen Juli veröffentlicht hat.

Es gibt aber noch eine zweite, weit weniger bekannte Initiative des jetzigen Papstes, die ich ebenfalls kurz erwähnen möchte, denn sie hat mit Sicherheit dazu beigetragen, die Bandbreite der Anwendung des Strafrechts in der Kirche zu modifizieren. Dabei handelt es sich um sein Eingreifen als Mitglied der Kongregation für die Evangelisierung der Völker bei der Vorbereitung von Spezialvollmachten für diese Kongregation, um (ebenfalls auf dem Wege notwendiger „Vertretung“) anderen disziplinären Problemen in den Missionsgebieten zu begegnen.

Man kann sich unschwer vorstellen, wie die Hindernisse, nach dem Strafsystem des Codex zu verfahren, aufgrund fehlender Mittel jedweder Art in besonderer Weise in den Gebieten der Mission spürbar waren. Diese Gebiete, die von der Kongregation für die Evangelisierung der Völker abhängen, umfassen im großen und ganzen etwa die Hälfte der katholischen Kirche.

Daher beschloß diese Kongregation auf ihrer Vollversammlung im Februar 1997, den Heiligen Vater um „Spezialvollmachten“ zu bitten, die es ihr erlauben sollten, in bestimmten Fällen von Straftaten auf dem Verwaltungsweg einzuschreiten, was im Grenzbereich der allgemeinen Vorschriften des Codex lag. Referent jener Vollversammlung war der damalige Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre. Bekanntlich wurden diese „Vollmachten“ im Jahr 2008 aktualisiert und erweitert. Vergleichbare Befugnisse wurden mit entsprechenden Bestimmungen in der Folgezeit auch der Kongregation für den Klerus gewährt.

Damit mag es sein Bewenden haben. An einschlägigen Stellen sind bereits Beiträge veröffentlicht worden, welche die mit all diesen Initiativen bewirkten Änderungen im kirchlichen Strafrecht hinreichend ausleuchten. Die Erfahrung wird zeigen, in welchem Maß die nun beabsichtigten Modifizierungen im VI. Buch, die auch diese neuen Möglichkeiten zur Geltung bringen, die Situation wieder in ein Gleichgewicht zu bringen vermögen. An dieser Stelle ging es mir vor allem darum, herauszustellen, welch entscheidende Rolle in diesem mehr als zwanzigjährigen Prozeß der Erneuerung der Strafdisziplin das entschlossene Handeln des gegenwärtigen Papstes gespielt hat. Dieses stellt, wie so viele andere konkrete Initiativen auch, eine der „Konstanten“ dar, die das Handeln Joseph Ratzingers gekennzeichnet hat.

 

La Civiltà Cattolica, 4. Dezember 2010

     

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