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 Pontifical Council for the Pastoral Care of Migrants and Itinerant People

People on the Move - Supp. N° 93,  December 2003, pp. 233-237

Die Kindertagesstätte "Schaworalle“ 

in Frankfurt am Main

Sabine Ernst, Leiterin

Eleonora Caldaras, Schüler 

Deutschland

1. Was ist „Schaworalle“?

„Schaworalle“ ist eine besondere Kindertagesstätte. Der Name „Schaworalle“ kommt aus dem Romanes, der Sprache der Roma und bedeutet „Hallo Kinder“. Der Name ist Programm. Als bundesweit einmaliges Modellprojekt werden hier ausschließlich Kinder aus rumänischen Romafamilien betreut.

„Schaworalle“ existiert in dieser Form seit Mitte 1999.

Kindergarten, Schulvorbereitung und Alphabetisierung, Mittagessen und ein abwechslungsreiches Freizeitprogramm am Nachmitag sind die Eckpfeiler der pädagogischen Arbeit. Die Familienberatung und Betreuung des Fördervereins Roma, ergänzt das Angebot.

Die Konzeption von "Schaworalle" ist nicht theoretisch entstanden, sondern entwickelte sich aus der dreijährigen Erfahrung des Projektes "Schaworalle", das seitens des Jugendamtes der Stadt Frankfurt den Auftrag hatte, sich insbesondere der längst schulpflichtigen rumänischen Romakinder anzunehmen, die als "Straßenkinder" durch Bettelei, Diebstähle, Prostitution aufgefallen sind.

Zum Zentrum der Arbeit hatte sich in den vergangenen Jahren, orientiert an der Notwendigkeit, aber auch dem Wunsch der Kinder zu lernen, der Bereich „kleine Schule“ entwickelt, die Alphabetisierung und Schulvorbereitung. Dieses "Herzstück" zu übernehmen zu erweitern und zu ergänzen, ist wesentlicher Bestandteil der Konzeption.

Der Kindertagesstätte "Schaworalle" ist eine für 50 Kinder im Alter von 3 - 16 Jahren vorgesehene Einrichtung des Fördervereins Roma, die regulär über das Schulamt der Stadt Frankfurt, das Jugendamt Frankfurt und das Landesjugendamt finanziert wird in Anbetracht der besonderen Situation der von uns betreuten Familien zahlen die Eltern allerdings keinen Beitrag und auch kein Essensentgelt. Diese Beträge werden zunächst vom Frankfurter Jugend- und Sozialamt übernommen.

Zur Dynamik von "Schaworalle" gehört ein flexibler, niedrigschwefliger, am Gemeinwesen der Roma orientierter Ansatz.

Dies bedeutet, dass zwar ein Stamm von festangemeldeten fünfzig Kindern existiert, die Gesamtgruppe der betreuten und erfassten Kinder aber wesentlich größer ist, ca. 70 Kinder umfasst.

Gerade im Bereich der älteren Kinder und Jugendlichen, die schon lange betreut werden, ist die Fluktuation bei Eintritt ins Erwachsenenalter, das sehr früh beginnt, recht hoch und zudem weiden uns ständig nette Kinder gemeldet, die z.B. aus Spanien eingewandert sind, im Einschulalter oder kurz davor sind, keinerlei Deutsch sprechen und dringend der Schulvorbereitung bedürfen. Besonders wichtig ist uns, auch im Hinsicht auf die Entwicklung der Kinder in Richtung Schule, der Aufbau einer stabilen und regelmäßigen Kindergarten­ und Verschulgruppe.

Die Regelmäßigkeit, ein Grundproblem der Kinder angesichts ihrer Lebensorganisation, ist beider Stammgruppe recht hoch, So besuchen täglich 25 bis 40 Kinder die Einrichtung. Die meisten dieser Kinder kommen 3 - 4 Tage in der Woche und / oder melden sich bei wichtigen Terminen oder Familienereignissen ab.

Im Team von "Schaworalle" arbeiten Roma und Nicht-Roma arbeiten gleichberechtigt Roma und Nicht‑Roma. Seit Beginn des Projektes war uns dieser Bereich sehr wichtig, zum einen, weil die Anwesenheit von Betreuungspersonal des eigenen Kulturkreises Vertrauen schafft und Zugang zu Lebensrealitäten ermöglicht, die den „gadsche" nicht bekannt sind, zum anderen aber auch, um Roma dort Beschäftigungsmöglichkeiten zu bieten, wo die Zusammenarbeit mit ihnen auch entsprechend gewürdigt wird. So ist es uns wichtig, hier Arbeitsplätze zu schaffen, die sicher und so gut wie möglich bezahlt sind. So arbeiten bei "Schaworalle" fünf Roma, ein Mann und vier Frauen, mit unterschiedlichen Nationalitäten in unterschiedlichen Bereichen.

Hintergründe

Viele, längst schulpflichtige rumänische Romakinder besuchen die Regelschule sporadisch oder gar nicht. Die Diskrepanz zwischen der Lernbereitschaft und Motivation der Kinder im Zusammenhang von "Schaworalle" und der Tatsache, dass sie, obwohl zum Teil schon sehr lange in Deutschland, der Schulpflicht kaum Beachtung schenken, zeigt, dass der herkömmliche Regelschulbetrieb ein Bereich ist, in dem sie ihre Erfahrungswelt, ihre Geschichte und Sprache nicht wiederfinden, der alarmierend hohe Teil von Romajugendlichen ohne Schulabschluss weist gleichzeitig auf die geringe Chance einer qualifizierten beruflichen Perspektive hin. Der Teufelskreis von gesellschaftlicher Ausgrenzung, sozialer Randständigkeit und Verelendung schließt sich. Schule und Ausbildung wird so zu einem Moment der Ausgrenzung.

Die Erfahrung vieler Romafamilien aus Rumänien ist die Erfahrung des Lebens in Unsicherheit, der ständigen Sorge um den Lebensunterhalt der Familie, der Sorge um die gesundheitliche Lage der Familienmitglieder, der Sorge um Aufenthalt und Wohnung. Der Lebensunterhalt wird oft "auf der Strasse" verdient, mit Betteln, dem Verkauf von

Obdachlosenzeitungen, kleinen Diebstählen, dem halblegalen Handel, etc. Schon sehr früh tragen dir Kinder mit dazu bei. Die Lebenserfahrung der Eltern und Großeltern hat sie gelehrt, dass auf die Institutionen der Nicht‑Rom („Gadsche“) kein Verlass ist (viele Eltern waren, selbst nicht in der Schule), sondern dass die entscheidenden Erfahrungen für das Erwachsenenleben in der Familie und auf der Straße gemacht worden.

Ebenso groß ist dir, Sorge der Eltern, dass der Besuch der Schule, ohne Rücksicht auf unsere Zweisprachigkeit, auf unsere Erziehung zu Unabhängigkeit, und auf ein Leben in Herrschaftslosigkeit, unsere Kinder von dun Familien entfremdet" (Melanic Spitta, aus FR vom 15.04.2000).

"Schaworalle" versucht, an der Schnittstelle anzusetzen. Die meisten Eltern wünschen sehr wohl für ihre Kinder, dass sie Rechnen, Schreiben und Lesen lernen, finden sich und ihre Lebensorganisation aber in den Institutionen der „Gadsche“ nicht wieder und stehen diesen misstrauisch gegenüber. Oft obliegt es den Kindern selbst, in die Schule zu gehen oder nicht; es gibt auch Kinder die den Schulbesuch gegen den Willen der Eltern durchsetzen. Vielen Kindern fehlen im Einschulalter die „Voraussetzungen“ für den Schulbesuch. Sie sind in ihrer Muttersprache Romanes sozialisiert worden, sprechen die Sprache der Mehrheitsgesellschaft wenig oder nicht und haben mit den spielerischen Tätigkeiten, die andere Kinder im Kindergarten- und Vorschulbereich lernen, wenig zu tun gehabt.

2. Das Schulprogramm

„Shaworalle“ ist auch Schule, die Kinder nennen es die „kleine Schule“. Die „kleine Schule“ will Zwischenstation oder Alternative zur "großen Schule" (Regelschule) sein, zuständig für all die Kinder, die aufgrund von Überalterung oder kultureller Konflikte, mangelnder Sprachkenntnis, häufigem Wohnungswechsel oder einfach aufgrund des Misstrauens der Roma vor der Institution Schule, diese nicht oder nicht mehr besuchen. Es ist uns wichtig, den natürlich schulpflichtigen Kindern einen Zugang zu Bildung ermöglichen, den sie auch annehmen - dürfen und können-, und so der „Schulpflicht“ ein „Recht auf Bildung“ entgegenzusetzen. Eine Zielvorstellung dabei ist natürlich die begleitete Einschulung in die Regelschule. Die Erfahrung der letzten Jahre hat allerdings gezeigt, dass dieser Schritt für viele Kinder und auch für viele Schulen kein einfacher ist. Gerade deshalb ist es wichtig, dass der Unterricht in "Schaworalle" so gut wie möglich personell und inhaltlich organisiert ist.

In „Schaworalle“ arbeiten zwei vom Staatlichen Schulamt abgeordnete Lehrer mit voller Stundenzahl, eine Grundschullehrerin und seit Sommer 2002 ein Hauptschullehrer. Die Stelle im Hauptschulbereich war bislang von einer Sonderschullehrerin mit reduzierter Stundenzahl wahrgenommen worden.

So sind wir auch in formaler und rechtlicher Hinsicht jetzt anerkannter Unterrichtstort.

Unterricht in „Schaworalle“ wird nicht nur von den Lehrern gestaltet. Die pädagogischen Teams der Gruppen bestehen aus den ausgebildeten Lehrern, Romamitarbeitern und Sozial- oder Diplompädagogen/innen, die im Sinne der Finzelförderung tätig sind und / oder im Unterrichtsbereich besondere Angebote machen (Lernen am Computer, muttersprachlicher Unterricht, "Natur und Technik", Musik und Kunst).

Der Unterricht findet in zwei Lerneinheiten statt, von 9.30 Uhr bis 11 Uhr und von 11.3 0 Uhr bis 13 Uhr.

Es gibt drei Schulgruppen: die Grundschulgruppe (7-11 Jahre), die Mittelstufengruppe (11-14 Jahre) und die Hauptstufengruppe (14-16 Jahre).

3. Die Geschichte eines Schülers

Gratian. Caldaras, mittlerweile 18 Jahre alt ist seit seinem 12.Lebenesjahr, mit einigen Unterbrechungen Schüler von „Schaworalle“. Vorher hatte er keine Schule besucht. Zwei Versuche in der Regelschule scheiterten, ebenso die Teilnahme an einem Berufsvorbereitungsjahr. Seit diesem Sommer nimmt er an einem Beschäftigungsprojekt des Fördervereins Roma teil, in dem er neben Berufspraktika hoffentlich seinen Hauptschulabschluss machen wird, Er ist nach Roma‑Tradition verheiratet und Vater eines kleinen Sohnes.

Seiner Mutter war acht Jahre und sein Vater sechs Jahre in Rumänien in der Schule. 1987 floh die Familie aus Rumänien. 

Sie kamen nach Deutschland, haben zwei Jahre in Duisburg gelebt und waren dann einige Jähre unterwegs, um durch Betteln Geld zu verdienen. Die Kinder mussten mitarbeiten. Für Schule war keine Zeit.

1995 kam die Familie nach Frankfurt.

1997 erfuhr die Familie über Nachbarschaftshilfe vom Projekt „Schaworalle“. Der 12jährige Gratian sowie seine 14jährige Schwester Alina waren begeistert und wurden regelmäßige Schüler, die schnell und motiviert lernten. Schon bald kamen die beiden jüngeren Geschwister Cristina und Dragos dazu. Alina brach nach einem Jahr den Schulbesuch ab, um sich zuhause um den Haushalt zu kümmern. Gratian wurde zusammen mit einem Cousin in den Seiteneinsteigerkurs einer Hauptschule eingeschult. Auch hier überzeugte er durch gute Leistungen. Der Übergang in die achte Klasse stand unmittelbar bevor, als er aus familiären Gründen abbrechen musste. Ein zweiter Versuch, ein Jahr später, scheiterte ebenfalls. „Ich hätte Probleme in der Familie, musste mich um andere Dinge kümmern. Du weißt ja, wie das bei uns ist. Unsere Kultur ist so, dass die Kinder zwischen 14 und 15 heiraten und selbst für sich sorgen müssen. Es ist bei uns wichtiger, dass der Sohn mit dem Vater geht und die Geschäfte lernt.“

Dennoch kam er nach einiger Zeit zu „Schaworalle“ zurück und nahm weiter am Unterricht teil. Nicht nur freiwillig. Es war ihm auch wichtig, der Ausländerbehörde ein Papier vorzulegen zu können, das er sich bemüht, etwas zu lernen. «In „Schaworalle“ ist es leichter für mich als in der großen Schule. Die Lehrer hier kennen unsere Kultur, die anderen sind auch alle Roma und haben die gleichen Probleme. Meine ganze Familie ist hier. Es ist nicht so streng und es ist auch nicht so schlimm, wenn man mal fehlt. Jetzt wünsche ich mir, dass ich das Projekt schaffe, einen Schulabschluss mache und einen Beruf lerne. Am liebsten würde ich Dolmetscher werden.»

Für seinen Sohn wünscht sich Gratian, dass er die Möglichkeit hat, von Anfang, an richtig in die Schule zu gehen und eine vernünftige Ausbildung zu machen. Ich weiß wie schwer es ist, wenn man keine Ausbildung hat und nicht lesen und schreiben kann. 

Doch über Allem schwebt das Problem mit dem Ausbildung. Die derzeitige Gesetzeslage sieht vor, die rumänischen Roma abzuschieben. 80 % der Familien, deren Kinder "Schaworalle“ besuchen, sind davon betroffen. 

„Unser größtes Problem ist der Aufenthalt. Ich möchte in Deutschland bleiben, eine Zukunft haben für mich und meine Familie. Wir würden nie nach Rumänien zurückgehen, da kann man nicht leben.“
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