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AMT FÜR DIE LITURGISCHEN FEIERN
DES PAPSTES

KARFREITAG

DIE PASSION DES HERRN

KREUZWEG UNTER VORSITZ DES HEILIGEN VATERS

KOLOSSEUM
ROM, 14. APRIL 2017

Via Crucis 2017 presieduta dal Santo Padre Francesco al Colosseo

MEDITATIONEN
von
Anne-Marie Pelletier

[Arabisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Spanisch]

 

Einleitung

Die Stunde ist also gekommen. Der Weg Jesu auf den staubigen Straßen Galiläas und Judäas, die Begegnung mit den leidenden Körpern und Herzen, unter dem drängenden Antrieb, das Reich zu verkünden, dieser Weg endet heute hier. Auf dem Hügel Golgota. Heute versperrt das Kreuz die Straße. Jesus wird nicht weitergehen. Es ist unmöglich weiterzugehen!

Die Liebe Gottes erreicht hier ihr volles Maß – in ihrer Maßlosigkeit.

Die Liebe des Vaters, der will, dass durch den Sohn alle Menschen gerettet werden; heute geht diese Liebe bis zum Äußersten; dorthin, wo wir keine Worte mehr haben; dorthin, wo wir orientierungslos sind; dorthin, wo das Übermaß der Gedanken Gottes über unsere Religiosität hinausgeht.

Auf Golgota nämlich geht es – gegen jeden Anschein – um das Leben. Es geht um Gnade. Es geht um Frieden. Es geht nicht um das Reich des Bösen, das wir zur Genüge kennen. Es geht um den Sieg der Liebe.

Und gerade unter jenem Kreuz geht es um unsere Welt mit all ihren Stürzen, mit ihren Schmerzen, mit ihren Hilferufen und ihren Aufständen. Mit allem, was heute zu Gott schreit aus den Elends- und Kriegsgebieten, in zerrissenen Familien, in den Gefängnissen, auf den überladenen Flüchtlingsschiffen …

Wie viele Tränen, wie viel Elend ist im Kelch, den der Sohn Gottes für uns trinkt.

Wie viele Tränen, wie viel Elend, die nicht im Ozean der Zeit verloren gehen, sondern von ihm gesammelt werden, um im Geheimnis einer Liebe verwandelt zu werden, in der das Böse verschlungen ist.

Um Gottes unbesiegbare Treue zu unserer Menschheit geht es auf Golgota.

Es ist eine Geburt, die sich dort vollzieht!

Wir müssen den Mut haben zu sagen, dass die Freude des Evangeliums die Wahrheit dieses Momentes ist!

Wenn unser Blick nicht zu dieser Wahrheit gelangt, dann werden wir weiter Gefangene in den Netzen des Leidens und des Todes sein. Und wir machen das Leiden Christi für uns zunichte.

Gebet

Herr, unsere Augen sind trübe. Und wie können wir so weit mit dir gehen?

»Barmherzigkeit« ist dein Name. Doch dieser Name ist Wahnsinn.

Platzen sollen die alten Schläuche unserer Herzen!

Heile unseren Blick, damit er sich durch die gute Nachricht des Evangeliums aufhellt – in der Stunde, in der wir zu Füßen des Kreuzes deines Sohnes verharren.

So möchten wir »die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe« (Eph 3,18) der Liebe Christi feiern können, mit einem getrösteten und von Licht erfüllten Herzen.

 

Erste Station: Jesus wird zum Tode verurteilt

Aus dem Lukasevangelium

Als es Tag wurde, versammelte sich der Ältestenrat des Volkes, die Hohenpriester und die Schriftgelehrten, und sie ließen Jesus vor ihren Hohen Rat führen (22,66).

Aus dem Markusevangelium

Und sie fällten einstimmig das Urteil: Er ist des Todes schuldig. Und einige spuckten ihn an, verhüllten sein Gesicht, schlugen ihn und riefen: »Zeig, dass du ein Prophet bist!« Auch die Diener schlugen ihn ins Gesicht (14,64-65).

Betrachtung

Die Männer des Ältestenrats mussten nicht lange diskutieren, um zu einem Urteil zu kommen. Der Fall war schon seit geraumer Zeit entschieden. Jesus muss sterben!

So dachten schon jene, die ihn vom Abhang des Berges hinabstürzen wollten – damals, als Jesus in der Synagoge von Nazaret die Buchrolle geöffnet hatte und in erster Person die Worte des Propheten Jesaja vorgelesen hatte: »Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt […], damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe« (Lk 4,18.19).

Schon als er den Gelähmten beim Teich Betesda geheilt und den Sabbat Gottes eingeläutet hatte, der von aller Knechtschaft befreit, war das Todesgemunkel gegen ihn aufgewallt (vgl. Joh 5,1-18).

Und auf dem letzten Wegstück, als er für das Paschafest nach Jerusalem hinaufging, zog sich die Schlinge unerbittlich zusammen: Er sollte seinen Feinden nicht mehr entkommen (vgl. Joh 11,45-57).

Aber wir müssen in der Erinnerung noch weiter zurückgehen, in die Zeit von Betlehem, bis zu den Tagen seiner Geburt, als Herodes bestimmt hatte, dass dieses Kind sterben müsse. Das Schwert der Soldaten des machtgierigen Königs massakrierte die Kinder von Betlehem. Damals entkam Jesus ihrem Wüten. Aber nur für eine gewisse Zeit. Er lebte bereits im Ungewissen. Im Weinen Rahels um ihre Kinder, die nicht mehr da waren, hallt im Schluchzen jene Prophezeiung des Schmerzes nach, den Simeon Maria verkündet hatte (vgl. Mt 2,16-18; Lk 2,34-35).

Gebet

Herr Jesus, geliebter Sohn des Vaters, du bist zu uns gekommen, um unter uns zu wandeln und durch das Gute, das du tust, alle zum Leben zurückzubringen, die im Schatten des Todes wohnen. Du kennst unsere schwankenden Herzen.

Wir behaupten, Freunde des Guten zu sein und das Leben zu wollen. Aber wir sind Sünder und Komplizen des Todes.

Wir bezeichnen uns als deine Jünger, aber wir gehen Wege, die sich weit weg von deinen Gedanken verlieren, weit weg von deiner Gerechtigkeit und deiner Barmherzigkeit.

Überlass uns nicht unserer Gewalt.

Deine Geduld für uns erschöpfe sich nicht.

Erlöse uns vom Bösen!

Pater noster

»Mein Volk, was habe ich dir getan, womit nur habe ich dich betrübt? Antworte mir.«

 

Zweite Station: Jesus wird von Petrus verleugnet

Aus dem Lukasevangelium

Etwa eine Stunde später behauptete wieder einer: »Wahrhaftig, der war auch mit ihm zusammen; er ist doch auch ein Galiläer.« Petrus aber erwiderte: »Mensch, ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Im gleichen Augenblick, noch während er redete, krähte ein Hahn. Da wandte sich der Herr um und blickte Petrus an. Und Petrus erinnerte sich an das Wort, was der Herr zu ihm gesagt hatte: »Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.« Und er ging hinaus und weinte bitterlich (22,59-62).

Betrachtung

Um ein offenes Feuer im Hof des Hauses des Hohenpriesters wärmen sich Petrus und mancher andere in jenen kalten Stunden der Nacht, die in einem hektischen Hin und Her verbracht werden. Drinnen entscheidet sich gerade da Schicksal Jesu, Auge in Auge mit seinen Anklägern. Sie werden seinen Tod fordern.

Wie eine steigende Flutwelle wächst ringsum die Feindseligkeit. Wie ein Stoppelfeld sich entzündet, so fasst der Hass Fuß und breitet sich aus. Schon bald wird die schreiende Menge von Pilatus die Freigabe von Barabbas und die Verurteilung von Jesus fordern.

Es ist schwer, sich als Freund eines zum Tode Verurteilten zu bezeichnen, ohne von einem Schauder der Angst erfasst zu werden. Die furchtlose Treue des Petrus vermag gegenüber den argwöhnischen Worten der Dienerin, der dortigen Pförtnerin, nicht standzuhalten.

Zuzugeben, Jünger des galiläischen Rabbi zu sein, würde bedeuten, der Treue zu Jesus größeres Gewicht zu geben als dem eigenen Leben! Wenn sie solchen Mut verlangt, tut sich die Wahrheit schwer, Zeugen zu finden … Die Menschen sind so geschaffen, dass dann viele ihr die Lüge vorziehen. Und Petrus gehört zu uns Menschen. Er leugnet dreimal. Dann kreuzt ihn der Blick Jesu. Seine Tränen rollen – bitter und zugleich süß – wie Wasser, das eine Verschmutzung abwäscht.

Bald, nach ein paar Tagen, wird Petrus am Ufer des Sees neben einem anderen Kohlenfeuer seinen auferstandenen Herrn wiedererkennen, der ihm die Sorge um seine Schafe anvertrauen wird. Petrus wird die Vergebung ohne Maß erfahren, die der Auferstandene über alle unsere Missetaten ausspricht. Er wird an einer Treue teilhaben, die ihn von nun an den eigenen Tod als eine Opfergabe in Verbindung mit der Opfergabe Christi annehmen lässt.

Gebet

Herr, unser Gott, du hast gewollt, dass Petrus, dem Jünger, der verleugnet hat und dem vergeben wurde, die Aufgabe übertragen wurde, deine Herde zu leiten.

Präge in unsere Herzen das Vertrauen und die Freude ein zu wissen, dass wir in dir die Abgründe der Furcht und des Unglaubens überqueren können.

Gib, dass in der Schule des Petrus alle deine Jünger Zeugen des Blicks seien, den du auf unsere Stürze richtest. Mögen unsere Verhärtungen und unsere Verzweiflung die Auferstehung deines Sohnes nie hinfällig machen!

Pater noster

Christus, gestorben für unsere Sünden,
Christus, auferstanden für unser Leben,
wir bitten dich, erbarme dich unser.

 

Dritte Station: Jesus und Pilatus

Aus dem Markusevangelium

Gleich in der Frühe fassten die Hohenpriester, die Ältesten und die Schriftgelehrten, also der ganze Hohe Rat, über Jesus einen Beschluss. Sie ließen ihn fesseln und abführen und lieferten ihn Pilatus aus. Die Hohenpriester brachten viele Anklagen gegen ihn vor. Darauf ließ Pilatus, um die Menge zufriedenzustellen, Barabbas frei. Jesus lieferte er, nachdem er ihn hatte geißeln lassen, zur Kreuzigung aus. (15,1.3.15)

Aus dem Matthäusevangelium

Als Pilatus sah, dass er nichts erreichte, sondern dass der Tumult immer größer wurde, ließ er Wasser bringen, wusch sich vor allen Leuten die Hände und sagte: Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen. Das ist eure Sache! (27,24).

Aus dem Buch Jesaja

Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg. Doch der Herr ließ auf ihn treffen die Schuld von uns allen (53,6).

Betrachtung

Das Rom des Kaisers Augustus, die Zivilisation bringende Nation, dessen Legionen die Mission haben, die Völker zu erobern, um ihnen die Wohltaten seiner rechten Ordnung zu bringen.

Das Rom, das auch bei der Passion Jesu in der Person des Pilatus zugegen ist, des Vertreters des Kaisers, des Bürgen für Recht und Gerechtigkeit auf fremdem Boden.

Und doch ist dieser Pilatus, der erklärt, keine Schuld an Jesus zu finden, derjenige, der sein Todesurteil bestätigt. Im Prätorium, wo Jesus der Prozess gemacht wird, strahlt die Wahrheit auf: Die Gerechtigkeit der Heiden ist derjenigen des Hohen Rates der Juden nicht überlegen!

Zweifellos versöhnt dieser Gerechte, der auf eigenartige Weise die mörderischen Gedanken des menschlichen Herzens auf sich zieht, Juden und Heiden. Aber er tut es einstweilen dadurch, dass er sie in gleicher Weise zu Mittätern seiner Hinrichtung macht. Dennoch kommt der Augenblick, ja er ist nahe, in dem dieser Gerechte sie auf andere Weise versöhnen wird, nämlich durch das Kreuz und durch eine Vergebung, die zu allen gelangen wird, zu Juden und Heiden, sie zusammen von ihrer Gemeinheit heilen und sie von ihrer gemeinsamen Gewalt befreien wird.

Es gibt nur eine Bedingung, um an diesem Geschenk teilzuhaben: sie besteht darin, die Unschuld des einzigen Unschuldigen, des Lammes Gottes, das für die Sünde der Welt geopfert wurde, zu bekennen; die Anmaßung aufzugeben, die in uns murrt: »Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen«; sich schuldig zu erklären im Vertrauen darauf, dass eine unendliche Liebe alle umhüllt, Juden und Heiden, und dass Gott alle ruft, seine Kinder zu werden.

Gebet

Herr, unser Gott, vor dem ausgelieferten und verurteilten Jesus wissen wir nichts anderes zu tun, als uns zu rechtfertigen und andere anzuklagen. Lange Zeit hindurch haben wir Christen deinem Volk Israel die Last deiner Verurteilung zum Tode aufgebürdet. Lange Zeit hindurch haben wir verkannt, dass wir uns alle als Mittäter in der Sünde bekennen müssen, um alle durch Blut des gekreuzigten Jesus gerettet zu werden.

Gib, dass wir in deinem Sohn den Unschuldigen, den einzigen in der ganzen Geschichte, erkennen. Er hat es angenommen, dass er »für uns zur Sünde gemacht wurde« (vgl. 2 Kor 5,21), damit du durch ihn uns wiederfinden konntest als die Menschheit, die in der Unschuld wiederhergestellt ist, in der du uns erschaffen hast und uns zu deinen Kindern machst.

Pater noster

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

 

Vierte Station: Jesus, der König der Herrlichkeit

Aus dem Markusevangelium

Die Soldaten führten ihn ab, in den Hof hinein, der Prätorium heißt, und riefen die ganze Kohorte zusammen. Dann legten sie ihm einen Purpurmantel um und flochten einen Dornenkranz; den setzten sie ihm auf und grüßten ihn: Sei gegrüßt, König der Juden! (15,16-18).

Aus dem Buch Jesaja

Er hatte keine schöne und edle Gestalt, sodass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm. Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt (53,2-4).

Betrachtung

Banalität des Bösen. Unzählbar sind die Männer, die Frauen, selbst die Kinder, die unter allen Himmeln und zu jeder Zeit der Geschichte vergewaltigt, gedemütigt, gefoltert, ermordet werden.

Ohne Schutz in seinem Gottsein zu suchen, reiht sich Jesus in den schrecklichen Zug der Leiden ein, die der Mensch dem Menschen zufügt. Er kennt die Verlassenheit der Gedemütigten und der Vereinsamten.

Aber welche Hilfe kann uns das Leiden eines weiteren Unschuldigen geben? Er, der einer von uns ist, ist zuallererst der geliebte Sohn des Vaters, der kommt, um durch seinen Gehorsam die Gerechtigkeit ganz zu erfüllen.

Und plötzlich kehren sich alle Zeichen um. Nun enthüllen uns die höhnischen Worte und Gesten seiner Peiniger – o absolutes Paradox – die unergründliche Wahrheit: die Wahrheit des wahren und einzigen Königtums, das sich als eine Liebe kundtut, die nichts anderes kennen wollte als den Willen des Vaters und dessen Wunsch, dass alle Menschen gerettet werden. »An Schlacht- und Speiseopfern hattest du kein Gefallen […] Da habe ich gesagt: Siehe, ich komme. In der Buchrolle steht es über mich geschrieben. Deinen Willen zu tun, mein Gott, war mein Gefallen« (Ps 40,7-9).

Diese Stunde des Karfreitags verkündet es: es gibt eine einzige Herrlichkeit in dieser und in der anderen Welt, nämlich den Willen des Vaters zu kennen und zu erfüllen. Niemand von uns kann nach einer höheren Würde streben als der, Kind zu sein in ihm, der für uns gehorsam geworden ist bis zum Tod am Kreuz.

Gebet

Herr, unser Gott, wir bitten dich: An diesem heiligen Tag, der die Offenbarung vollendet, reiße in uns und in unserer Welt die Götzen nieder. Du kennst ihre Macht über unseren Geist und unsere Herzen.

Reiß in uns die trügerischen Formen des Erfolgs und des Ruhmes nieder.

Reiß in uns die immer wieder aufkommenden Bilder von einem Gott nach unseren Vorstellungen nieder, von einem fernen Gott, so weit entfernt von dem Antlitz, das im Bund geoffenbart wurde und sich heute über jegliche Vorhersage, über aller Hoffnung hinaus in Jesus zeigt. In ihm, den wir als » Abglanz deiner Herrlichkeit« (vgl. Hebr 1,3) bekennen.

Lass uns in die ewige Freude eintreten, in der wir dem in Purpur gekleideten und dornengekrönten Jesus als dem König der Herrlichkeit zujubeln, den der Psalm besingt: »Ihr Tore, hebt eure Häupter, hebt euch, ihr uralten Pforten, denn es kommt der König der Herrlichkeit!« (24,9).

Pater noster

Ihr Tore, hebt eure Häupter,
hebt euch, ihr uralten Pforten,
denn es kommt der König der Herrlichkeit!

 

Fünfte Station: Jesus trägt das Kreuz

Aus dem Buch der Klagelieder

Ihr alle, die ihr des Weges zieht, schaut doch und seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz, den man mir angetan, mit dem der Herr mich geschlagen hat am Tag seines glühenden Zornes (1,12).

Aus Psalm 146

Selig, wer den Gott Jakobs als Hilfe hat, wer seine Hoffnung auf den Herrn, seinen Gott, setzt. […] Der Herr befreit die Gefangenen. Der Herr öffnet die Augen den Blinden, der Herr richtet auf die Gebeugten […] Der Herr beschützt die Fremden, er hilft auf den Waisen und Witwen (146,5.7-8.9).

Betrachtung

Entlang des rauen Weges nach Golgota hat Jesus das Kreuz nicht wie eine Trophäe getragen! Er ähnelt in nichts den Helden aus unserer Fantasie, die triumphierend ihre bösen Feinde niederschlagen.

Schritt für Schritt ist er gegangen, der Leib immer schwerer und langsamer. Er spürt, wie sein Fleisch vom Holz der Hinrichtung eingeschnitten wird und die Beine unter der Last erschlaffen.

Von Generation zu Generation hat die Kirche diesen durch Straucheln und Fallen gezeichneten Weg betrachtet.

Jesus fällt, steht wieder auf, fällt abermals, nimmt den zermürbenden Weg erneut auf, wahrscheinlich unter Schlägen der Wachen, die ihn begleiten, denn so werden die Verurteilten in dieser Welt behandelt, misshandelt.

Er, der die bettlägerigen Leiber aufstehen ließ, die verkrümmte Frau aufrichtete, die Tochter des Jaïrus dem Totenbett entriss, so viele Niedergeschlagene wieder aufrichtete – siehe, da ist er heute in den Staub gesunken.

Der Allerhöchste ist am Boden.

Richten wir unseren Blick fest auf Jesus. Durch ihn lehrt uns der Allerhöchste, dass er gleichzeitig – unglaublich! – der Demütigste ist, der bereit ist, bis zu uns herabzusteigen und noch tiefer, wenn nötig, so dass sich niemand in der Gosse des eigenen Elends verliere.

Gebet

Herr, unser Gott, du steigst in die Tiefe unserer Nacht herab, ohne deiner Demütigung Grenzen zu setzen, weil du in ihr die oftmals unbehagliche, manchmal verwüstete Erde unserer Lebensumstände erreichst.

Wir bitten dich: Gib, dass deine Kirche bezeugen kann, dass der Allerhöchste und der Demütigste in dir ein und dasselbe Antlitz haben. Lass sie allen, die fallen, die Frohbotschaft des Evangeliums bringen: Es gibt keinen Fall, der uns deiner Barmherzigkeit entreißen könnte; es gibt kein Verlorengehen, keinen derart tiefen Abgrund, dass du den, der sich verirrt hat, nicht wiederfinden könntest.

Pater noster

Siehe, ich komme. Deinen Willen zu tun, mein Gott, war mein Gefallen.

 

Sechste Station: Jesus und Simon von Kyrene

Aus dem Lukasevangelium

Als sie Jesus hinausführten, ergriffen sie Simon, einen Mann aus Kyrene, der gerade vom Feld kam. Ihm luden sie das Kreuz auf, damit er es hinter Jesus hertrage (23,26).

Aus dem Matthäusevangelium

»Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd gesehen und aufgenommen oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?« (25,37-39).

Betrachtung

Jesus stolpert entlang des Weges, der Rücken wird unter der Last des Kreuzes erdrückt. Aber er muss weitermachen, gehen und weitergehen, weil das Ziel der Truppe, die Jesus vorantreibt, Golgota ist, die außerhalb der Stadtmauern gelegene unheimliche „Schädelhöhe“.

Dort kommt in diesem Augenblick ein Mann mit kräftigen Armen vorbei. Er scheint an den Ereignissen dieses Tages unbeteiligt zu sein. Er weiß nichts von der ganzen Geschichte des Rabbi Jesus. Er ist gerade auf dem Heimweg, als er von den Wachen herbeordert wird, das Kreuz zu tragen.

Was wird er von dem Verurteilten, der von den Wachen zur Hinrichtung geführt wird, gewusst haben? Was konnte er von ihm kennen, dessen »Gestalt nicht mehr die eines Menschen« war wie beim entstellten Gottesknecht bei Jesaja?

Von seiner Verwunderung, von seiner vielleicht anfänglichen Ablehnung, vom Mitleid, das ihn überkam, wird uns nichts gesagt. Das Evangelium hat nur die Erinnerung an seinen Namen bewahrt: Simon aus Kyrene. Aber das Evangelium wollte uns den Namen dieses Libyers und seine demütige Hilfeleistung überliefern, auch um uns zu lehren, dass Simon, als er den Schmerz eines zum Tode Verurteilten linderte, den Schmerz Jesu gelindert hat – des Sohnes Gottes, der in der Gestalt des Knechtes, die er um unseretwillen, um seinetwillen, zum Heil der Welt angenommen hat, Simons Weg kreuzte. Und dieser hatte davon keine Ahnung.

Gebet

Herr, unser Gott, du hast uns geoffenbart, dass in jedem Armen, der nackt, gefangen, durstig ist, du vor uns stehst und wir dich aufnehmen und besuchen, dir Kleidung und zu trinken geben: »Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen« (Mt 25,35-36). – Geheimnis deiner Begegnung mit unserer Menschheit! So erreichst du jeden Menschen! Niemand ist von dieser Begegnung ausgeschlossen, wenn er akzeptiert, ein Mensch zu sein, der Mitleid hat.

Alle Taten der Güte, der Aufnahme und der Hingabe, die jeden Tag in dieser Welt vollbracht werden, bringen wir dir als heilige Gabe dar. Erkenne sie als die Wahrheit unseres Menschseins an, die lauter ruft als alle Handlungen der Ablehnung und des Hasses. Segne die Männer und Frauen, die Mitleid haben und die dir Ehre erweisen, auch wenn sie deinen Namen noch nicht auszusprechen wissen.

Pater noster

Christus, gestorben für unsere Sünden,
Christus, auferstanden für unser Leben,
wir bitten dich, erbarme dich unser.

 

Siebte Station: Jesus und die Töchter Jerusalems

Aus dem Lukasevangelium

Es folgte ihm eine große Menge des Volkes, darunter auch Frauen, die um ihn klagten und weinten. Jesus wandte sich zu ihnen um und sagte: Ihr Töchter Jerusalems, weint nicht über mich; weint vielmehr über euch und eure Kinder! […] Denn wenn das mit dem grünen Holz geschieht, was wird dann erst mit dem dürren werden?“ (23,27-28.31)

Betrachtung

Jesus vertraut den Töchtern Jerusalems das Weinen als Werk des Mitleids an. Dieses Weinen der Frauen fehlt in dieser Welt niemals.

Es fließt still über die Wangen der Frauen. Wahrscheinlich noch öfters – auf unsichtbare Weise – in ihrem Herzen, wie die Blutstränen, von denen die heilige Katharina von Siena spricht.

Nicht dass die Tränen Sache der Frauen wären, als wäre es ihre Bestimmung, tatenlos und ohnmächtig zu weinen in einer Geschichte, die von den Männern allein geschrieben werden sollte.

Tatsächlich sind ihre Tränen auch und vor allem jene Tränen, die sie in einer Welt, in der es viel zu weinen gibt, fern aller Blicke und Feierlichkeiten auffangen. Das Weinen der verängstigten Kinder, der Verwundeten auf den Schlachtfeldern, die nach einer Mutter rufen; das einsame Weinen der Kranken und der Sterbenden auf der Schwelle zur Anonymität. Das Weinen der Verlorenheit auf dem Gesicht dieser Welt, die am Schöpfungsmorgen unter Freudentränen im gemeinsamen Jubel von Mann und Frau entstanden ist.

Und auch Etty Hillesum, eine starke Frau Israels, die im Sturm der nationalsozialistischen Verfolgung aufrecht blieb und bis zuletzt die Gutheit des Lebens verteidigte, flüstert uns dieses Geheimnis ins Ohr, das sie am Ende ihres Weges erahnt: Auf dem Antlitz Gottes gibt es Tränen zu trocknen, wenn er über das Elend seiner Kinder weint. Im Inferno, das die Welt überzieht, wagt sie, zu Gott zu beten: »Ich werde versuchen, dir zu helfen«, sagt sie ihm. Eine so weibliche und so göttliche Kühnheit!

Gebet

Herr, unser Gott, du Gott des zärtlichen Erbarmens, du Gott voll Liebe und Treue, lehre uns, in den glücklichen Tagen die Tränen der Armen, die zu dir schreien und uns um Hilfe bitten, nicht zu verachten. Lehre uns, nicht gleichgültig an ihnen vorüberzugehen. Lehre uns, den Mut zu haben, mit ihnen zu weinen. Lehre uns auch, in der Nacht unserer Leiden, unserer Einsamkeit und unserer Enttäuschungen das Wort der Gnade zu hören, das du uns auf dem Berg geoffenbart hast: »Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden« (Mt 5,4).

Pater noster

Christus, gestorben für unsere Sünden,
Christus, auferstanden für unser Leben,
wir bitten dich, erbarme dich unser.

 

Achte Station: Jesus wird der Kleider beraubt

Aus dem Johannesevangelium

Die Soldaten nahmen seine Kleider und machten vier Teile daraus, für jeden Soldaten einen Teil, und dazu das Untergewand (19,23).

Aus dem Buch Ijob

Nackt kam ich hervor aus dem Schoß meiner Mutter; nackt kehre ich dahin zurück (1,21).

Betrachtung

Der gedemütigte Leib Jesu wird entblößt. Er ist den höhnenden und verächtlichen Blicken ausgesetzt. Der Leib Jesu ist von Wunden zerfurcht und zur äußersten Qual der Hinrichtung am Kreuz bestimmt. Was gäbe es, menschlich gesehen, anderes zu tun, als die Augen zu senken, um seine Entehrung nicht noch zu steigern?

Aber der Heilige Geist kommt unserer Verlorenheit zu Hilfe. Er lehrt uns, die Sprache Gottes zu verstehen, die Sprache der kenosis, dieses Hinabsteigen Gottes, um uns dort zu erreichen, wo wir sind. Diese Sprache Gottes spricht für uns der orthodoxe Theologe Christos Yannaras: »Sprache der kenosis: das nackte Jesuskind in der Krippe; im Fluss entkleidet, als er wie ein Knecht die Taufe empfängt; am Baum des Kreuzes aufgehängt, nackt, einem Verbrecher gleich. Durch all das hat er seine Liebe zu uns offenbar gemacht«.

Wenn wir in dieses Geheimnis der Gnade eintreten, können wir die Augen auf den gemarterten Leib Jesu hin wieder öffnen. Dann beginnen wir, das wahrzunehmen, was unser Auge nicht sehen kann: seine Nacktheit leuchtet mit demselben Licht, welches sein Gewand im Augenblick der Verklärung ausstrahlte.

Licht, das alle Finsternis vertreibt.

Unwiderstehliches Licht der Liebe bis zur Vollendung.

Gebet

Herr, unser Gott, wir stellen dir die gewaltige Menge der Menschen vor Augen, die Folter erleiden, wie auch die erschreckende Schar der Menschen, deren Leiber misshandelt wurden, die vor Angst erzittern, wenn sich Schläge nähern, und im Dreck der Gosse dahinsiechen.

Wir flehen dich an, höre ihre Klage.

Das Böse lässt uns stumm und hilflos zurück.

Aber du weißt, was wir nicht wissen. Du kannst einen Weg durch das Chaos und Dunkel des Bösen finden. Du kannst schon im Leiden deines geliebten Sohnes das Leben der Auferstehung aufstrahlen lassen.

Vermehre in uns den Glauben!

Wir bringen dir ebenso die Raserei der Peiniger und ihrer Befehlshaber dar. Auch sie lässt uns ohne Worte zurück … Wir können nur zu dir beten und dich inmitten der Tränen mit den Gebetsworten anflehen, die du uns gelehrt hast: »Erlöse uns von dem Bösen!«

Pater noster

Christus, gestorben für unsere Sünden,
Christus, auferstanden für unser Leben,
wir bitten dich, erbarme dich unser.

 

Neunte Station: Jesus wird gekreuzigt

Aus dem Lukasevangelium

Sie kamen an den Ort, der Schädelhöhe heißt; dort kreuzigten sie ihn und die Verbrecher, den einen rechts von ihm, den andern links. Jesus aber betete: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« (23,33-34).

Aus dem Buch Jesaja

Zu unserem Heil lag die Züchtigung auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt (53,5).

Betrachtung

Gott ist wahrhaft dort, wo er nicht sein sollte!

Der geliebte Sohn, der Heilige Gottes, ist jener Leib, der an einem Schandkreuz hängt und zwischen zwei Verbrechern der Schmach preisgegeben wird. Ein Mann der Schmerzen, von dem man Abstand hält; um die Wahrheit zu sagen, so wie man von vielen entstellten Menschen Abstand hält, die unsere Wege kreuzen.

Das Wort Gottes, durch das alles erschaffen wurde, ist nur noch stummes und leidendes Fleisch. Die Grausamkeit unseres Menschseins hat sich gegen das Wort Gottes erbittert und hat gewonnen. Ja, Gott ist dort, wo er nicht sein sollte und wo uns seine Gegenwart dennoch nottut!

Er war gekommen, um sein Leben mit uns zu teilen. »Nehmt!«, hat er ohne Unterlass gesagt, als er seine Heilung den Kranken, seine Vergebung den vom Weg abgekommenen Herzen, seinen Leib im Paschamahl darreichte.

Er befand sich aber in unserer Hand, in einem Bereich des Todes und der Gewalt: jene Gewalt, die uns angesichts der aktuellen Vorfälle in der Welt fassungslos lässt; und jene, die sich in einem jeden von uns breitmacht. Dessen waren sich die in Tibhirine getöteten Mönche wohl bewusst, die dem Gebet »Entwaffne sie!« die Bitte hinzufügten »Entwaffne uns!«.

Es war notwendig, dass die Güte Gottes unsere Hölle besuchte, es war die einzige Weise, um uns vom Bösen zu befreien.

Es war notwendig, dass Jesus Christus die unendliche Zärtlichkeit Gottes in das Herz der Sünde der Welt brachte.

Dies war notwendig, damit der Tod vor dem Leben Gottes zurückweiche und wie ein Feind falle, der auf einen Stärkeren gestoßen ist und im Nichts verschwindet.

Gebet

Herr, unser Gott, nimm unser stilles Lob an.

Wie die Könige in Anbetracht des Werkes des Gottesknechts, das durch die Weissagung Jesajas geoffenbart wurde, ohne Worte waren (vgl. Jes 52,15), so werden wir angesichts des Lammes, das für unser Leben und unsere Welt geopfert wird, von Staunen erfüllt; und wir bekennen, dass wir durch deine Wunden geheilt wurden. »Wie kann ich dem Herrn vergelten all das Gute, das er mir erwiesen? […] Ich will dir ein Opfer des Dankes bringen, ausrufen will ich den Namen des Herrn« (Ps 116,12.17).

Pater noster

Christus, gestorben für unsere Sünden,
Christus, auferstanden für unser Leben,
wir bitten dich, erbarme dich unser.

 

Zehnte Station: Jesus wird am Kreuz verhöhnt

Aus dem Lukasevangelium

Die führenden Männer verlachten ihn und sagten: »Andere hat er gerettet, nun soll er sich selbst retten, wenn er der Christus Gottes ist.« Auch die Soldaten verspotteten ihn; sie traten vor ihn hin, reichten ihm Essig und sagten: »Wenn du der König der Juden bist, dann rette dich selbst!« Über ihm war eine Aufschrift angebracht: »Das ist der König der Juden.« Einer der Verbrecher, die neben ihm hingen, verhöhnte ihn: »Bist du denn nicht der Christus? Dann rette dich selbst und auch uns!« (23,35-39).

»Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl diesem Stein, zu Brot zu werden. […]  Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz dich von hier hinab; denn es steht geschrieben: […] [Die Engel] werden dich auf ihren Händen tragen« (4,3.9-11).

Betrachtung

Hätte Jesus nicht vom Kreuz herabsteigen können? Wir wagen kaum, uns diese Frage zu stellen: Legt das Evangelium sie nicht den Frevlern in den Mund?

Und doch verfolgt sie uns in dem Maße, in dem wir noch Teil der Welt der Versuchung sind, welcher Jesus während der vierzig Tage in der Wüste – dem Vorspiel und Beginn seines öffentlichen Wirkens – entgegengetreten ist: „Wenn du Gottes Sohn bist, befiehl diesen Steinen, Brot zu werden, stürz dich oben vom Tempel hinab, denn Gott wacht über den, der sein Freund ist“. Aber in dem Maße, in dem wir, die wir auf den Tod und die Auferstehung Jesu Christi getauft sind, ihm auf seinem Weg nachfolgen, haben die Provokationen des bösen Feindes keine Macht mehr über uns, sie werden zunichte gemacht, ihre Lüge wird aufgedeckt.

So wird die dringliche Notwendigkeit jenes »musste« (Lk 24,26) offenbar, das Jesus geduldig und leidenschaftlich die Jünger, die auf dem Weg nach Emmaus waren, lehrte.

Christus „musste“ in diesen Gehorsam und in diese Ohnmacht eintreten, um uns in der Ohnmacht zu erreichen, in die uns unser Ungehorsam versetzt hat.

So beginnen wir zu verstehen: »Nur der leidende Gott kann helfen«, wie der protestantische Pastor Dietrich Bonhoeffer wenige Wochen vor seiner Hinrichtung schrieb, als er in dieser einfachen und schwingelerregenden Wahrheit das Bekenntnis des christlichen Glaubens zusammenfassen konnte, während er die Macht des Bösen bis zum Äußersten erfahren hat.

Gebet

Herr, unser Gott, wer wird uns von den Verlockungen der Macht, wie sie die Welt kennt, befreien? Wer wird uns von der Tyrannei der Lügen befreien, die uns dazu führt, den Mächtigen zu huldigen und unsererseits dem falschen Ruhm nachzulaufen?

Du allein kannst unsere Herzen bekehren.

Du allein kannst uns dazu führen, die Pfade der Demut zu lieben.

Du allein … der du uns offenbarst, dass es keinen Sieg gibt außer in der Liebe und dass alles Übrige nichts als Stroh ist, das der Wind verweht, ein Trugbild, das vor deiner Wahrheit verschwindet.

Wir bitten dich, Herr, zerstreue die Lügen, die danach trachten, über unsere Herzen und unsere Welt zu herrschen.

Lass uns gemäß deinen Wegen leben, damit die Welt die Macht des Kreuzes erkenne.

Pater noster

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

 

Elfte Station: Jesus und seine Mutter

Aus dem Johannesevangelium

Bei dem Kreuz Jesu standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als Jesus die Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zur Mutter: »Frau, siehe, dein Sohn!« Dann sagte er zu dem Jünger: »Siehe, deine Mutter!« Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich (19,25-27).

Betrachtung

Auch Maria ist am Ende des Weges angelangt. Nun ist für sie der Tag gekommen, von dem der greise Simeon gesprochen hat, als er mit seinen zitternden Armen das Kind hoch gehoben und seinen Dank in geheimnisvollen Worten ausgebreitet hatte, in denen sich Dramatik und Hoffnung, Schmerz und Erlösung miteinander verflochten.

»Siehe« – hatte er ausgerufen – »dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele zu Fall kommen und aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird – und deine Seele wird ein Schwert durch die Seele dringen. So sollen die Gedanken vieler Herzen offenbar werden« (Lk 2,34-35).

Schon der Besuch des Engels hatte in ihrem Herzen die unglaubliche Botschaft erschallen lassen: Gott hatte ihr Leben ausgewählt, um die dem Volk Israel verheißene Neuheit aufblühen zu lassen, das, »was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat« (1 Kor 2,9; vgl. Jes 64,3). Und Maria hatte diesem göttlichen Plan zugestimmt, der ihren Leib überwältigen und dann den aus ihrem Schoß geborenen Sohn auf unvorhersehbaren Wegen begleiten sollte.

Während des ganz gewöhnlichen Alltags in Nazaret und dann zur Zeit des öffentlichen Lebens Jesu, als es nötig geworden war, der anderen Familie Platz zu machen – der Familie der Jünger, jener fremden Personen, die er zu seinen Brüdern, Schwestern, Müttern machte –, hatte Maria diese Dinge in ihrem Herzen bewahrt. Sie hatte sie der großen Geduld ihres Glaubens anvertraut.

Heute ist die Zeit der Erfüllung. Die Klinge, welche die Seite des Sohnes durchbohrt, durchdringt auch ihr Herz. Auch Maria versenkt sich in das rückhaltlose Vertrauen, in dem Jesus den Gehorsam gegenüber dem Vater bis zum Äußersten lebt.

Sie steht, sie verlässt ihn nicht. Stabat Mater. Im Dunkeln, doch mit Gewissheit weiß sie, dass Gott seine Verheißungen erfüllt. Im Dunkeln, doch mit Gewissheit weiß sie, dass Jesus die Verheißung und ihre Erfüllung ist.

Gebet

Maria, Mutter Gottes und Frau aus unserem Geschlecht, in ihm, den du geboren hast, gebierst du uns als Mutter: Nähre in uns den Glauben in den Stunden der Dunkelheit, lehre uns die Hoffnung wider alle Hoffnung.

Bewahre die ganze Kirche in einer treuen Wachsamkeit, wie es deine Treue war, die sich demütig in die Gedanken Gottes ergab. Sie ziehen uns dorthin, wohin zu gehen wir nicht denken würden: dass sie uns über alle Vorhersagen hinaus mit dem Werk der Erlösung verbinden mögen.

Pater noster 

Salve, Regina, mater misericordiae;
vita, dulcedo et spes nostra, salve.

  

Zwölfte Station: Jesus stirbt am Kreuz

Aus dem Johannesevangelium

[Jesus sagte:] »Mich dürstet.« Ein Gefäß voll Essig stand da. Sie steckten einen Schwamm voll Essig auf einen Ysopzweig und hielten ihn an seinen Mund. Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach er: »Es ist vollbracht!« Und er neigte das Haupt und übergab den Geist. […] Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, dass er schon tot war, zerschlugen sie ihm die Beine nicht, sondern einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite und sogleich floss Blut und Wasser heraus. Und der, der es gesehen hat, hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr. Und er weiß, dass er Wahres sagt, damit auch ihr glaubt (19,28-30.33-35).

Betrachtung

Jetzt ist alles vollbracht. Der Auftrag Jesu ist zu Ende geführt. Jesus war vom Vater für die Sendung der Barmherzigkeit ausgegangen. Sie wurde mit einer Treue erfüllt, die bis zur äußersten Liebe ging. Alles ist vollbracht. Jesus übergibt seinen Geist in die Hände des Vaters.

Es ist wahr, offenbar scheint alles im Schweigen des Todes zu versinken, das sich auf Golgota und auf die drei aufgerichteten Kreuze legt. Wer an diesem Tag des Leidens, der sich nun zu Ende neigt, auf jenem Weg vorbeikommt, wie kann der etwas anderes erkennen als die Niederlage Jesu, als das Zusammenbrechen einer Hoffnung, welche viele ermutigt, die Armen getröstet, die Erniedrigten wiederaufgerichtet hatte; einer Hoffnung, welche die Jünger hatte erahnen lassen, dass die Zeit gekommen war, in der Gott die durch die Propheten angekündigten Verheißungen verwirklichen sollte. All das schien verloren, zerstört, zusammengebrochen.

Inmitten großer Enttäuschung lässt uns der Evangelist Johannes dennoch den Blick auf ein winziges Detail richten, bei dem er feierlich innehält. Wasser und Blut fließen aus der Seite des Gekreuzigten. Welch ein Staunen! Die von der Lanze des Soldaten geöffnete Wunde lässt Wasser und Blut heraustreten, die uns von Leben und Geburt künden.

Der Bericht ist überaus zurückhaltend, aber sehr vielsagend für die Herzen, die sich ein wenig erinnern. Aus dem Leib Jesu entspringt die Quelle, die der Prophet aus dem Tempel hervorströmen sah. Die Quelle schwillt an und wird zu einem mächtigen Fluss. Seine Wasser machen alles, was sie im Vorbeifließen berühren, gesund und fruchtbar. Hatte Jesus nicht einst seinen Leib als den neuen Tempel bezeichnet? Und das »Blut des Bundes« begleitet das Wasser. Hatte Jesus nicht von seinem Fleisch und seinem Blut als Speise für das ewige Leben gesprochen?

Gebet

Herr Jesus, erneuere in diesen heiligen Tagen des Ostergeheimnisses in uns die Freude über unsere Taufe.

Wenn wir das Wasser und das Blut, die aus deiner Seite fließen, betrachten, dann lehre uns erkennen, aus welcher Quelle unser Leben geboren, aus welcher Liebe deine Kirche auferbaut ist und zu welcher in die Welt ausstrahlenden Hoffnung du uns erwählt und ausgesandt hast.

Hier ist die Quelle des Lebens, welche die ganze Welt wäscht, während sie aus der Wunde Christi entspringt. Allein unserer Taufe wollen wir uns rühmen und voll Staunen danken.

Pater noster

Würdig ist das Lamm, das geschlachtet ist,
Macht zu empfangen,
Reichtum und Weisheit,
Kraft und Ehre,
Lob und Herrlichkeit in alle Ewigkeit.

 

Dreizehnte Station: Jesus wird vom Kreuz abgenommen

Aus dem Lukasevangelium

[Josef von Arimathäa] nahm ihn vom Kreuz, hüllte ihn in ein Leinentuch und legte ihn in ein Felsengrab, in dem noch niemand bestattet worden war (23,53).

Betrachtung

Zeichen der Aufmerksamkeit und der Ehrerweisung für den geschändeten und gedemütigten Leib Jesu. Einige Männer und Frauen befinden sich zu Füßen des Kreuzes. Josef aus Arimathäa, ein »guter und gerechter« Mensch (Lk 23,50), bittet Pilatus um den Leichnam, wie der heilige Lukas berichtet; Nikodemus, der Jesus bei Nacht aufgesucht hatte, fügt der heilige Johannes hinzu, und einige Frauen, die beharrlich treu folgten, schauen zu.

Die Betrachtung der Kirche hat zu ihnen die Jungfrau Maria hinzugefügt, die sehr wahrscheinlich in diesem Moment auch dabei war.

Maria, die Mutter der Schmerzen, empfängt in ihren Armen den Leib, den sie aus ihrem Fleisch geboren und die Jahre hindurch liebevoll und unaufdringlich begleitet hat. Als Mutter kümmert sie sich immer um ihren Sohn.

Nun ist es ein unermesslicher Leib, den sie aufnimmt – im Ausmaß ihres Schmerzes, im Ausmaß der neuen Schöpfung, die in der Passion der Liebe, die das Herz des Sohnes und der Mutter durchbohrt hat, ihren Ursprung hat.

Großes Schweigen herrscht nach dem Geschrei der Soldaten, dem Spott der Vorübergehenden und dem Lärm der Kreuzigung. Jetzt gibt es nur mehr Gesten sanfter und aufmerksamer Liebkosung. Josef lässt den Leichnam herab, der in ihre Arme sinkt. Er hüllt ihn in ein Leinentuch und legt ihn in ein neues Grab, das seinen Gast im gerade angrenzenden Garten erwartet.

Jesus ist den Händen seiner Mörder entrissen. Im Tod befindet er sich nun wieder in den Händen der Zärtlichkeit und des Mitleids.

Die Gewalt der mörderischen Männer hat sich weit zurückgezogen. Die Güte ist an den Ort der Hinrichtung zurückgekehrt.

Güte Gottes und derer, die zu ihm gehören, jene sanftmütigen Herzen, denen Jesus versprach, dass sie eines Tages das Land erben. Ursprüngliche Güte der Schöpfung und des Menschen als Abbild Gottes. Güte der Erfüllung, wenn alle Tränen abgewischt werden, wenn der Wolf beim Lamm wohnt, denn die Erkenntnis Gottes wird jedes Geschöpf erreichen (vgl. Jes 11,6.9).

Gesang zu Maria

O Maria, weine nicht mehr: Dein Sohn, unser Herr, ist in Frieden eingeschlafen. Und sein Vater in der Herrlichkeit des Himmels öffnet die Pforten des Lebens!

O Maria, freue dich: Jesus, der Auferstandene, hat den Tod besiegt!

Pater noster

In deinem Frieden, Herr, legte ich mich nieder und schlief;
ich erwachte, denn der Herr stützt mich.

 

 

Vierzehnte Station: Jesus im Grab und die Frauen

Aus dem Lukasevangelium

Die Frauen in seiner Nachfolge, die mit Jesus aus Galiläa gekommen waren, sahen das Grab und wie der Leichnam bestattet wurde. Dann kehrten sie heim und bereiteten wohlriechende Salben und Öle zu. Am Sabbat aber hielten sie die vom Gebot vorgeschriebene Ruhe ein (23,55-56).

Betrachtung

Die Frauen sind weggegangen. Er, den sie auf der Wanderung auf den Straßen Galiläas beharrlich und fürsorglich begleitet hatten, er ist nicht mehr. Heute Abend lässt er ihnen keine andere Begleitung als den Anblick, der sich ihnen von seinem Grab und vom Leinentuch, in dem er jetzt ruht, eingeprägt hat. Schlichte, doch kostbare Erinnerung an vergangene intensive Tage. Einsamkeit und Schweigen. Im Übrigen naht der Sabbat, der Israel einlädt, die Arbeit ruhen zu lassen, wie Gott ruhte, als die Schöpfung abgeschlossen war und unter seinem Segen vollendet wurde.

Heute geht es um eine andere Vollendung – vorläufig noch verborgen und unzugänglich. An diesem Sabbat heißt es, in der Sammlung des Herzens und der tränenverschleierten Erinnerung still bleiben; zudem auch die Duftstoffe und Salben zubereiten, mit denen sie am nächsten Morgen in aller Frühe seinem Leichnam die letzte Ehrerbietung erweisen wollen.

Doch mit dieser Geste, schicken sie sich da nicht bloß an, ihre Hoffnung einzubalsamieren? Und wenn Gott hinsichtlich ihrer Fürsorge eine Antwort vorbereitet hätte, die sie überhaupt nicht voraussehen, nicht einmal sich vorstellen oder erahnen können … Die Entdeckung eines leeren Grabes …, die Botschaft, dass er nicht mehr hier ist, weil er die Pforten des Todes zerbrochen hat…

Gebet

Herr, unser Gott, schau gnädig auf alle Gesten der Frauen, die in dieser Welt den zerbrechlichen Leibern liebevoll und respektvoll die Ehre erweisen, und segne sie.

Und uns, die wir dich auf diesem Weg der Liebe bis zur Vollendung begleitet haben, bewahre uns gnädig mit den Frauen des Evangeliums im Gebet und in der Erwartung. Wir wissen, dass sie erhört werden durch die Auferstehung Jesu, die deine Kirche im Jubel der Osternacht bald feiern wird.

Pater noster

Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht in alle Ewigkeit. Amen.