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KONGREGATION FÜR DIE GLAUBENSLEHRE 

INSTRUKTION ÜBER EINIGE ASPEKTE DER
"THEOLOGIE DER BEFREIUNG"

 

Das Evangelium Jesu Christi ist eine Botschaft der Freiheit und eine Kraft der Befreiung. Diese grundlegende Wahrheit haben Theologen in den letzten Jahren zum Gegenstand der Überlegung gemacht, verbunden mit einer neuen Aufmerksamkeit, die in sich selbst reich an Hoffnungen ist.

Die Befreiung ist vor allem und grundsätzlich eine Befreiung von der radikalen Knechtschaft der Sünde. Ihr Ziel wie ihre Grenze ist die Freiheit der Kinder Gottes, ein Geschenk der Gnade. Sie umschließt in logischer Konsequenz die Befreiung von vielfältigen Versklavungen auf kulturellem, ökonomischem, sozialem und politischem Gebiet, die letzten Endes alle von der Sünde herrühren und die ebensosehr Hindernisse bilden, welche die Menschen daran hindern, ihrer Würde entsprechend zu leben. Klar zu unterscheiden, was grundlegend ist und was zu den Folgerungen gehört, ist demnach eine unerläßliche Bedingung für eine theologische Reflexion über die Befreiung.

In der Tat, angesichts der Dringlichkeit der Probleme sind manche versucht, den Akzent einseitig auf die Befreiung von der Versklavung auf irdischem und weltlichem Gebiet zu setzen, so daß es scheint, daß diese die Befreiung von der Sünde an die zweite Stelle setzen und ihr hierdurch faktisch nicht mehr die erste Bedeutung einräumen, die ihr zukommt. Daher ist die Art, wie sie die Probleme darstellen, verworren und zweideutig. In der Absicht, die Ursachen der Versklavung, die sie beseitigen wollen, genau zu erkennen, bedienen sich andere ohne hinreichend kritische Vorsicht eines geistigen Instrumentariums, das nur sehr schwer, vielleicht überhaupt nicht, von ideologischen Vorstellungen gereinigt werden kann, die mit dem christlichen Glauben und den daraus folgenden ethischen Forderungen unvereinbar sind.

Die Kongregation für die Glaubenslehre beabsichtigt nicht, das weite Thema der christlichen Freiheit und der Befreiung vollständig zu behandeln. Sie nimmt sich vor, dies in einem späteren Dokument zu tun, das – in positiver Ausrichtung – alle Reichtümer ins rechte Licht stellt, sowohl in der Lehre als auch in der Praxis.

Die vorliegende Instruktion hat ein sehr präzises und begrenztes Ziel: Sie will die Aufmerksamkeit der Hirten, Theologen und aller Gläubigen auf die Abweichungen und die Gefahren der Abweichung lenken, die den Glauben und das christliche Leben zerstören, wie sie gewisse Formen der Theologie der Befreiung enthalten, die in ungenügend kritischer Weise ihre Zuflucht zu Konzepten nehmen, die von verschiedenen Strömungen des marxistischen Denkens gespeist sind.

Diese Warnung darf in keiner Weise als eine Verurteilung all derer ausgelegt werden, die hochherzig und im authentischen Geist des Evangeliums auf die „vorrangige Option für die Armen“ antworten wollen. Sie darf in keiner Weise denen zum Vorwand dienen, die sich angesichts der tragischen und drängenden Probleme des Elends und der Ungerechtigkeit hinter einer Haltung der Neutralität und der Indifferenz verschanzen. Im Gegenteil, sie ist von der Gewißheit bestimmt, daß die tiefgreifenden ideologischen Abweichungen, die sie anzeigt, unabdingbar dazu führen, die Sache der Armen zu verraten. Mehr denn je ist es erforderlich, daß die zahlreichen Christen, die in ihrem Glauben erleuchtet und dazu entschlossen sind, ein christliches Leben ohne Abstriche zu führen, sich aus Liebe zu ihren enterbten, unterdrückten und verfolgten Brüdern im Kampf für Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde einsetzen. Mehr denn je will die Kirche die Mißbräuche, die Ungerechtigkeiten und die Verstöße gegen die Freiheit verurteilen, wo immer sie begegnen und wer immer sie anzettelt, und mit den ihr eigenen Mitteln kämpfen, um die Menschenrechte, insbesondere in der Person der Armen, zu verteidigen und zu fördern.

I.
EINE SEHNSUCHT

1. Die mächtige und gleichsam unwiderstehliche Sehnsucht der Völker nach Befreiung stellt eines der wichtigsten Zeichen der Zeit dar; die die Kirche ergründen und im Licht des Evangeliums auslegen soll.[1] Dieses bedeutende Phänomen unserer Epoche hat eine universale Tragweite; es zeigt sich aber unter den Völkern in verschiedenen Formen und Graden. Diese Sehnsucht kommt bei den Völkern, die die Last des Elends kennen, und unter den entrechteten Schichten besonders stark zum Ausdruck.

2. Diese Sehnsucht drückt eine echte, wenn auch dunkle Wahrnehmung der Würde des Menschen aus, der „nach dem Bild und Gleichnis Gottes“ (Gen 1, 27) geschaffen ist, jener Würde, die durch vielfältige, oft gehäufte Unterdrückungen kultureller, politischen rassischer, sozialer und ökonomischer Art geschändet und mißachtet wird.

3. Die Berufung zur Gotteskindschaft aufdeckend, hat das Evangelium in den Herzen der Menschen die Forderung und den positiven Willen nach einem brüderlichen, gerechten und friedlichen Leben eingestiftet, in dem jeder die Achtung und die Bedingungen seiner geistlichen und materiellen Entfaltung finden kann. Dieser Anspruch ist ohne Zweifel die Quelle jener Sehnsucht, von der wir sprechen.

4. Daher ist der Mensch nicht mehr bereit, die erdrückende Not mit ihren Folgen, Tod, Krankheiten und Entwürdigungen, passiv hinzunehmen. Er erlebt diese Not als eine unerträgliche Verletzung seiner angestammten Würde. Verschiedene Faktoren, darunter der „Sauerteig“ des Evangeliums, haben zum Erwachen des Bewußtseins der Unterdrückten beigetragen.

5. Selbst die noch analphabetischen Bevölkerungsgruppen wissen heute, daß die Menschheit, dank der bewundernswerten Entwicklung der Wissenschaften und der Technik, auch bei beständigem Bevölkerungswachstum in der Lage sein wird, jedem menschlichen Wesen das Minimum an Gütern zu sichern, die die Würde der Person erfordert.

6. Der Skandal der himmelschreienden Ungleichheiten zwischen Reichen und Armen – ob es sich um die Ungleichheiten zwischen reichen und armen Ländern oder um die Ungleichheiten unter den sozialen Schichten desselben Nationalgebietes handelt – wird nicht länger geduldet. Auf der einen Seite hat man einen bislang noch nie dagewesenen Überfluß erreicht, der die Verschwendung fördert; auf der anderen Seite lebt man noch in einem Zustand der Not, die durch das Fehlen der lebensnotwendigsten Güter gekennzeichnet ist, so daß die Opfer der Unterernährung zahllos geworden sind.

7. Das Fehlen der Gerechtigkeit und des Sinnes für Solidarität im internationalen Austausch gereicht den industrialisierten Ländern zum Vorteil, wodurch der Abstand zwischen Reichen und Armen ständig wächst. Daher stammen das Gefühl der Frustration bei den Völkern der Dritten Welt sowie der gegen die industrialisierten Länder gerichtete Vorwurf der Ausbeutung und des ökonomischen Kolonialismus.

8. Die Erinnerung an die Untaten und die verhängnisvollen Folgen eines gewissen Kolonialismus vertieft dabei oft die Wunden und Verletzungen.

9. Auf der Linie des Zweiten Vatikanischen Konzils haben der Apostolische Stuhl ebenso wie die Bischofskonferenzen unermüdlich den Skandal gebrandmarkt, den das gigantische Wettrüsten darstellt, das, neben der Bedrohung des Friedens, enorme Summen verschlingt, von denen ein Teil schon genügen würde, um die allernotwendigsten Bedürfnisse jener Bevölkerungen zu stillen, denen es am Notwendigen mangelt.

II.
AUSDRUCKSFORMEN DIESER SEHNSUCHT

1. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und effektiver Anerkennung der Würde jedes menschlichen Wesens erfordert, wie jede tiefe Sehnsucht, daß sie geklärt und geleitet wird.

2. Die theoretischen und praktischen Ausdrucksformen dieser Sehnsucht bedürfen der Prüfung. Denn zahlreiche politische und soziale Bewegungen geben sich als die authentischen Sprecher der Sehnsucht der Armen aus und halten sich für befugt, notfalls unter Zuhilfenahme von gewalttätigen Mitteln, die radikalen Veränderungen zu bewirken, die der Unterdrückung und der Not des Volkes ein Ende bereiten werden.

3. So wird die Sehnsucht nach der Gerechtigkeit oft von Ideologien in Beschlag genommen, die deren Sinn verdunkeln oder pervertieren, indem sie dem Kampf der Völker für ihre Befreiung Ziele setzen, die dem wahren Ziel des menschlichen Lebens entgegengesetzt sind, und Wege der Aktion vertreten, die den systematischen Rückgriff auf die Gewalt einschließen und einer die Personen achtenden Ethik entgegenstehen.

4. Die Deutung der Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums erfordert daher, daß man einerseits den Sinn der tiefen Sehnsucht der Völker nach Gerechtigkeit ergründet, daß man aber auch anderseits mit kritischer Unterscheidung die Ausdrucksformen theoretischer und praktischer Art prüft, die man dieser Sehnsucht gibt.

III.
DIE BEFREIUNG ALS CHRISTLICHES THEMA

1. Die Sehnsucht nach Befreiung kann, in sich betrachtet, im Herzen und im Geist der Christen nur ein starkes und brüderliches Echo finden.

2. Im Einklang mit dieser Sehnsucht ist jene theologische und pastorale Bewegung entstanden, die unter dem Namen „Befreiungstheologie“ bekannt ist, zuerst in den Ländern Lateinamerikas, die vom religiösen und kulturellen Erbe des Christentums geprägt sind, dann auch in anderen Gegenden der Dritten Welt wie auch in bestimmten Gebieten der industrialisierten Länder.

3. Der Ausdruck „Befreiungstheologie“ bezeichnet zunächst eine besondere, das Engagement für die Gerechtigkeit weckende Betroffenheit zugunsten der Armen und der Opfer der Unterdrückung. Von diesem Ansatz aus kann man verschiedene, oft miteinander unvereinbare Weisen unterscheiden, die Bedeutung der christlichen Armut aufzufassen sowie die Art des Einsatzes für die Gerechtigkeit, die sie verlangt. Wie jede Ideenbewegung nehmen auch die „Befreiungstheologien“ unterschiedliche theologische Positionen ein; ihre lehrmäßigen Grenzen sind nicht genau abgesteckt.

4. Die Sehnsucht nach Befreiung entspricht, wie der Ausdruck es selber nahelegt, einem Grundthema des Alten und Neuen Testaments. So ist auch der Ausdruck „Befreiungstheologie“ für sich genommen ein vollgültiger Ausdruck: Er bezeichnet dann eine theologische Reflexion, die sich mit dem biblischen Thema der Befreiung, der Freiheit und ihren drängenden praktischen Konsequenzen befaßt. Das Zusammentreffen der Sehnsucht nach Befreiung mit den Befreiungstheologien ist daher nicht zufällig. Die Bedeutung dieses Zusammentreffens kann nur im Licht der Eigenart der Offenbarungsbotschaft korrekt verstanden werden, welche das Lehramt der Kirche authentisch auslegt.[2]

IV.
BIBLISCHE GRUNDLAGEN

1. Eine recht verstandene Befreiungstheologie stellt eine Aufforderung an die Theologen dar, gewisse wesentliche biblische Themen zu vertiefen, in der Auseinandersetzung mit den schweren und dringlichen Fragen, die die zeitgenössische Sehnsucht nach Befreiung und die Befreiungsbewegungen, die ihr mehr oder weniger getreu entsprechen, an die Kirche stellen. Unmöglich kann man die Situationen dramatischer Not vergessen, die den Theologen diese Herausforderung stellt.

2. Die radikale Erfahrung der christlichen Freiheit[3] bildet hier den ersten Bezugspunkt. Christus, unser Befreier; hat uns von der Sünde befreit wie auch von der Knechtschaft des Gesetzes und des Fleisches, die die Situation des sündigen Menschen kennzeichnet. Frei werden wir also durch das neue Leben der Gnade, die Frucht der Rechtfertigung. Das bedeutet, daß die tiefste Knechtschaft die Knechtschaft der Sünde ist. Die anderen Formen der Knechtschaft wurzeln letztlich in der Knechtschaft der Sünde. Deshalb darf die Freiheit im Vollsinn ihrer christlichen Bedeutung, die durch das Leben im Heiligen Geist gekennzeichnet ist, nicht mit der Freizügigkeit gegenüber den Begierden des Fleisches verwechselt werden. Sie ist neues Leben in der Liebe.

3. Die „Befreiungstheologien“ berufen sich weitgehend auf den Bericht des Exodus er bildet das grundlegende Heilsereignis des Alten Testaments: die Befreiung aus der Fremdherrschaft und der Sklaverei. Man muß die besondere Bedeutung dieses Ereignisses im Blick behalten, die ihm von seinem Ziel her zukommt; denn diese Befreiung ist auf die Gründung des Volkes Gottes und auf den am Berg Sinai gefeierten Bundesschluß hingeordnet.[4] Deshalb kann die Befreiung des Exodus nicht auf eine Befreiung zurückgeführt werden, die hauptsächlich und ausschließlich politischer Natur wäre. Es ist im übrigen bezeichnend, daß der Begriff der Befreiung in der Hl. Schrift manchmal durch den ihm sehr nahestehenden Begriff der Erlösung ersetzt wird.

4. Das Stiftungsereignis des Exodus wird nie aus der Erinnerung Israels schwinden. Auf dieses Ereignis bezog man sich, als nach der Zerstörung Jerusalems und dem babylonischen Exil die Hoffnung auf eine neue Befreiung und darüber hinaus die Erwartung einer endgültigen Befreiung auflebten. In dieser Erfahrung wird Gott als der Befreier anerkannt. Er wird mit seinem Volk einen Neuen Bund schließen, der durch die Gabe seines Geistes und durch die Bekehrung der Herzen gekennzeichnet ist.[5]

5. Die vielfältigen Ängste und Nöte, die der Mensch erlebt, der dem Gott des Bundes treu bleibt, sind das Thema mehrerer Psalmen: Klagen, Hilferufe, Danksagungen erwähnen das religiöse Heil und die Befreiung. In diesem Kontext wird Not nicht einfach mit einer sozialen Notsituation identifiziert noch mit der Not, die der politisch Unterdrückte erleidet. Sie umfaßt auch die Gegnerschaft der Feinde, die Ungerechtigkeit, den Tod, die Schuld. Die Psalmen verweisen uns auf eine wesentliche religiöse Erfahrung: Von Gott allein werden Heil und Heilung erwartet. Gott, nicht der Mensch, hat die Macht, die Notsituationen zu wenden. So leben die „Armen des Herrn“ in einer völligen Abhängigkeit, die auf die liebende Vorsehung Gottes vertraut.[6] Überdies hat der Herr während der ganzen Wüstenwanderung ständig für die Befreiung und die geistliche Reinigung seines Volkes gesorgt.

6. Im Alten Testament erinnern die Propheten seit Amos mit besonderer Eindringlichkeit unablässig an die Forderungen der Gerechtigkeit und Solidarität und verurteilen die Reichen äußerst scharf die den Armen unterdrücken. Sie verteidigen die Witwen und Waisen. Sie drohen den Mächtigen: Die Anhäufung von Unrecht kann nur zu schrecklichen Bestrafungen führen. Denn die Treue zum Bund läßt sich nicht ohne das Tun der Gerechtigkeit denken. Gerechtigkeit gegenüber Gott und Gerechtigkeit gegenüber den Menschen sind untrennbar Gott ist der Verteidiger und der Befreier der Armen.

7. Solche Forderungen finden sich auch im Neuen Testament. Sie werden dort sogar radikalisiert, wie die Rede über die Seligpreisungen zeigt. Die Bekehrung und die Erneuerung müssen im Tiefsten des Herzens vollzogen werden.

8. Das Gebot der brüderlichen Liebe, das bereits im Alten Testament angekündigt wurde, stellt in seiner Ausweitung auf alle Menschen die oberste Regel des sozialen Lebens dar.[7] Der Anerkennung eines jeden Menschen als des Nächsten dürfen sich weder Diskriminierungen noch Grenzen entgegenstellen.[8]

9. Die Armut um des Reiches Gottes willen wird hochgeschätzt. Wir werden angeleitet, in der Gestalt des Armen das Bild und die geheimnisvolle Gegenwart des Sohnes Gottes zu erkennen, der aus Liebe zu uns arm wurde.[9] Das ist die Grundlage jener unausschöpfbaren Worte Jesu über das Gericht in Mt 25, 31-46. Unser Herr ist mit aller Not solidarisch; alle Not ist von seiner Gegenwart gezeichnet.

10. Gleichzeitig werden die bereits im Alten Testament ausgesprochenen Forderungen der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit vertieft, so sehr daß sie im Neuen Testament eine neue Bedeutung erhalten. Die Leidenden und Verfolgten werden mit Christus identifiziert.[10] Die Vollkommenheit, die Jesus von seinen Jüngern fordert (Mt 5, 18), besteht in der Pflicht, barmherzig zu sein, „wie euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6, 36).

11. Im Lichte der christlichen Berufung zur brüderlichen Liebe und zur Barmherzigkeit werden die Reichen streng an ihre Pflicht erinnert.[11] Angesichts der Unordnungen in der Kirche von Korinth unterstreicht der heilige Paulus nachdrücklich die Verbindung, die zwischen der Teilnahme am Sakrament der Liebe und dem Teilen mit dem notleidenden Bruder besteht.[12]

12. Die Offenbarung des Neuen Testaments lehrt uns, daß die Sünde das tiefste Übel ist, das den Menschen im Herzen seiner Persönlichkeit trifft. Die erste Befreiung, Bezugspunkt aller anderen Befreiungen, ist die von der Sünde.

13. Das Neue Testament verlangt wohl deshalb als Vorbedingung zum Eintritt in diese Freiheit nicht zuerst eine Änderung der politischen und sozialen Situation, weil es dadurch den radikalen Charakter des Loskaufes anzeigen will, den Christus gewirkt hat und der jedem Menschen angeboten ist, ob er politisch frei oder Sklave ist. Dennoch zeigt der Philemonbrief, daß die neue Freiheit, die die Gnade Christi bringt, notwendigerweise Auswirkungen auf der sozialen Ebene haben muß.

14. Man darf folglich den Bereich der Sünde, deren erste Wirkung es ist, die Beziehung zwischen Mensch und Gott in Unordnung zu bringen, nicht auf das beschränken, was man „die soziale Sünde“ nennt. In Wirklichkeit vermag nur, eine richtige Lehre von der Sünde die Schwere ihrer sozialen Auswirkungen zu zeigen.

15. Man darf auch nicht das Böse vorrangig und allein in den ökonomischen, sozialen und politischen „Strukturen“ orten, als hätten alle anderen Übel ihre Ursache und Quelle in diesen Strukturen, so daß die Schaffung eines „neuen Menschen“ von der Errichtung anderer ökomonischer und sozio-politischer Strukturen abhinge. Gewiß, es gibt unrechte Strukturen, die auch wieder Unrecht hervorbringen und die zu ändern man den Mut haben muß. Die Früchte des menschlichen Tuns, die Strukturen, gute oder böse, sind eher Folgen als Ursachen. Die Wurzel des Bösen liegt in den freien und verantwortlichen Personen, die durch die Gnade Jesu Christi bekehrt werden sollen, um als neue Geschöpfe zu leben und zu handeln, in der Liebe zum Nächsten, im wirksamen Streben nach Gerechtigkeit, in der Selbstbeherrschung und in der Übung der Tugenden.[13] Wenn man im Namen einer radikalen Revolution der sozialen Beziehungen, die der erste Imperativ wäre, das Streben nach persönlicher Vollkommenheit kritisiert, so läuft man Gefahr, den Sinn für die Person und ihre Transzendenz zu verlieren und die Ethik und ihr Fundament, nämlich den absoluten Charakter der Unterscheidung von Gut und Böse, zu zerstören, Da im übrigen die Liebe für die echte Vollkommenheit grundlegend ist, kann sie nicht ohne Öffnung auf den anderen hin und ohne den Geist des Dienens verstanden werden.

V.
DIE STIMME DES LEHRAMTES

1. Das Lehramt der Kirche hat häufig und immer wieder die Aktualität und die Dringlichkeit der in der Offenbarung enthaltenen Imperative in Erinnerung gerufen, um der Herausforderung zu antworten, die Unterdrückung und Hunger an unsere Zeit richten. Das Lehramt ist dabei von der Sorge geleitet, das christliche Gewissen für den Sinn für Gerechtigkeit, für soziale Verantwortung und Solidarität mit den Armen und Unterdrückten zu wecken.

2. Beschränken wir uns hier darauf, einige dieser Stellungnahmen zu erwähnen: die neueren päpstlichen Rundschreiben Mater et Magistra, Pacem in terris, Populorum progressio, Evangelii nuntiandi. Wir erwähnen ebenso den Brief an Kardinal Roy Octogesima adveniens.

3. Das Zweite Vatikanische Konzil hat seinerseits die Fragen der Gerechtigkeit und der Freiheit in seiner Pastoralkonstitution Gaudium et spes angesprochen.

4. Der Heilige Vater hat wiederholt diese Themen behandelt, besonders in den Enzykliken Redemptor hominis, Dives in misericordia und Laborem exercens. Die zahlreichen Stellungnahmen, die die Lehre von den Menschenrechten in Erinnerung rufen, behandeln direkt die Probleme der Befreiung der menschlichen Person aus den verschiedenen Arten von Unterdrückung, deren Opfer sie ist. Besondere Erwähnung verdient dabei die Rede vor der XXXVI. Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York am 2. Oktober 1979.[14] Am 28. Januar desselben Jahres hatte Johannes Paul II. bei der Eröffnung der dritten Konferenz des CELAM in Puebla darauf hingewiesen, daß die volle Wahrheit über den Menschen die Grundlage einer echten Befreiung darstellt.[15] Dieser Text ist ein direktes Bezugsdokument zur Befreiungstheologie.

5. Zweimal, in den Jahren 1971 und 1974, hat die Bischofsynode Themen behandelt, die direkt die christliche Auffassung von der Befreiung betreffen: das Thema der Gerechtigkeit in der Welt und das Thema der Beziehung zwischen der Befreiung der Unterdrückten und der umfassenden Befreiung oder dem Heil des Menschen. Die Arbeiten der Synoden von 1971 und 1974 haben Papst Paul VI. bewogen, in dem Apostolischen Lehrschreiben Evangelii nuntiandi die Beziehungen zwischen der Evangelisation und der Befreiung oder Förderung des Menschen genauer zu bestimmen.[16]

6. Die Sorge der Kirche um die Befreiung und Förderung des Menschen zeigt sich auch in der Errichtung der Päpstlichen Kommission Iustitia et Pax.

7. Zahlreiche Episkopate haben in Übereinstimmung mit dem Heiligen Stuhl ihrerseits die Dringlichkeit und die Wege einer authentischen menschlichen Befreiung angesprochen. In diesem Zusammenhang verdienen die Dokumente der Konferenzen des CELAM in Medellin (1968) und in Puebla (1979) besondere Erwähnung. Paul VI. war bei der Eröffnung von Medellin, Johannes Paul II. bei der von Puebla anwesend. Beide haben dabei das Thema der Bekehrung und der Befreiung angesprochen.

8. Paul VI. hatte die Besonderheit der Botschaft des Evangeliums betont, die mit ihrem göttlichen Ursprung zusammenhängt.[17] In seiner Ansprache in, Puebla hat Johannes Paul II. dies aufgegriffen und die drei Pfeiler genannt, auf denen jede echte Befreiungstheologie aufruhen soll: die Wahrheit über Jesus Christus, die Wahrheit über die Kirche, die Wahrheit über den Menschen.[18]

VI.
EINE NEUINTERPRETATION DES CHRISTENTUMS

1. Wie könnte man die unermeßliche Summe an uneigennütziger Mühe vergessen, die Christen, Hirten, Priester Ordensleute oder Laien, darauf verwenden, aus Liebe zu ihren in unmenschlichen Situationen lebenden Brüdern Hilfe und Linderung in den zahllosen Nöten zu bringen, die das Elend verursacht? Unter ihnen gibt es manche, die danach trachten, wirksame Mittel zu finden, die es möglich machen würden, einer unerträglichen Situation möglichst schnell ein Ende zu bereiten.

2. Es besteht freilich die Gefahr, daß der Eifer und das Mitgefühl, die alle Hirten im Herzen tragen sollen, irregeleitet und Unternehmungen zugeführt werden, die für den Menschen und seine Würde ebenso verderblich sind wie das Elend, das man bekämpft, wenn man sich gewissen Versuchungen gegenüber nicht genügend wachsam zeigt.

3. Das beängstigende Gefühl der Dringlichkeit der Probleme darf nicht dazu verleiten, das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren und die Antwort Jesu zu dem Versucher gab: „Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt“ (Mt 4, 4; vgl. Dtn 8, 3). So sind manche versucht angesichts der Dringlichkeit, das Brot zu teilen, die Evangelisierung einzuklammern und auf später zu verschieben: zuerst das Brot, später das Wort. Es ist ein tödlicher Irrtum die beiden zu trennen oder einander entgegenzusetzen. Im übrigen drängt ihr christliches Gespür sich ganz spontan dazu, beides zugleich zu tun.[19]

4. Manchen scheint sogar der notwendige Kampf für Gerechtigkeit und menschliche Freiheit, beide in ihrem ökonomischen und politischen Sinn verstanden, das Wesentliche und das Ganze des Heils darzustellen.

5. Die Situierung der verschiedenen Befreiungstheologien bestimmt sich einerseits nach ihrer Beziehung zur vorrangigen Option für die Armen, wie sie, nach Medellin, die Konferenz von Puebla klar und ohne Zweifel bekräftigt hat,[20] andererseits hinsichtlich der Versuchung, das Evangelium vom Heil auf ein irdisches Evangelium zu reduzieren.

6. Wir rufen ins Gedächtnis, daß die vorrangige Option für die Armen, wie sie in Puebla festgehalten ist, eine doppelte ist: für die Armen und für die Jugendlichen.[21] Es ist bezeichnend, daß die Option für die Jugendlichen allgemein völlig in Vergessenheit geraten ist.

7. Wir haben weiter oben gesagt (vgl. IV., 4), daß es eine authentische „Theologie der Befreiung“ gibt, die im recht verstandenen Wort Gottes verwurzelt ist.

8. Von einem beschreibenden Standpunkt aus gesehen muß man von den Befreiungstheologien sprechen; denn dieser Begriff umfaßt nicht nur verschiedene, sondern häufig auch miteinander unvereinbare theologische Positionen.

9. In diesem Dokument wird nur von solchen Ausformungen dieser Gedankenrichtung die Rede sein, die unter dem Namen „Befreiungstheologie“ eine Deutung des Glaubensinhaltes und der christlichen Existenz vorlegen, die in Wirklichkeit ganz neu ist und schwerwiegend vom Glauben der Kirche ab- weicht, mehr noch, die dessen praktische Leugnung bedeutet.

10. Unkritische Anleihen bei der marxistischen Ideologie und der Rückgriff auf die Thesen einer vom Rationalismus geprägten biblischen Hermeneutik sind die Wurzeln dieser neuen Deutung, die daran ist, das zu verderben, was das anfängliche großherzige Engagement für die Armen an Echtem besaß.

VII.
DIE MARXISTISCHE ANALYSE

1. Die Ungeduld und der Wille zur Effizienz haben manche Christen, die an allen anderen Methoden verzweifelten, dazu geführt, sich dem zuzuwenden, was sie „marxistische Analyse“ nennen.

2. Ihre Überlegung ist folgende: Eine unerträgliche und explosive Situation erfordert ein wirksames Handeln, das nicht mehr zuwarten kann. Ein wirksames Handeln setzt eine wissenschaftliche Analyse der strukturellen Ursachen des Elends voraus. Nun hat aber der Marxismus die Instrumente einer solchen Analyse entwickelt. Es genügt also, diese auf die Situation der Dritten Welt und besonders Lateinamerikas anzuwenden.

3. Daß die wissenschaftliche Kenntnis der Situation und der möglichen Wege sozialer Umgestaltung die Voraussetzung eines Handelns ist, das fähig ist, die gesteckten Ziele zu erreichen, ist selbstverständlich. Darin liegt ein Kennzeichen der Ernsthaftigkeit des Engagements.

4. Der Begriff „wissenschaftlich“ gibt freilich eine fast mythische Faszination aus, und doch ist nicht alles auch wirklich wissenschaftlich, was dieses Etikett trägt. Deshalb muß der Verwendung einer Methode des Zugangs zur Wirklichkeit eine kritische Prüfung erkenntnistheoretischer Art vorausgehen. Diese vorgängige kritische Prüfung fehlt bei manchen „Befreiungstheologien“.

5. In den Sozial- und Humanwissenschaften ist es wichtig, auf die Vielfalt der Methoden und Gesichtspunkte zu achten, von denen jede nur einen Aspekt einer Wirklichkeit hervorhebt, die wegen ihrer Komplexität keine einheitliche und univoke Erklärung zuläßt.

6. Im Falle des Marxismus, wie man ihn in der Befreiungstheologie zu gebrauchen beansprucht, drängt sich eine vorgängige Kritik um so mehr auf als das Denken von Marx eine Weltanschauung darstellt, in der zahlreiche Daten der Beobachtung und der beschreibenden Analyse in eine philosophisch-ideologische Struktur integriert sind, die bestimmt, welche Bedeutung und relative Wichtigkeit man diesen Daten zumißt. Die ideologischen Apriori werden bei der Lektüre der sozialen Wirklichkeit vorausgesetzt. So wird es unmöglich, die heterogenen Elemente auseinanderzuhalten, die dieses erkenntnistheoretisch hybride Gemisch bilden. Man glaubt, nur das aufzugreifen, was sich als Analyse darbietet, und wird dabei verleitet, gleichzeitig die Ideologie anzunehmen. Deshalb geschieht es nicht selten, daß unter dem, was viele „Befreiungstheologen“ marxistischen Autoren entleihen, die ideologischen Aspekte überwiegen.

7. Die Warnung Pauls VI. hat bis heute ihre volle Gültigkeit bewahrt: Im Marxismus, so wie er konkret gelebt wird, kann man verschiedene Aspekte und Fragen unterscheiden, die sich der Reflexion und dem Handeln der Christen stellen. „Es wäre freilich illusorisch und gefährlich, darüber zu vergessen, daß sie durch ein inneres Band untereinander radikal verbunden sind; die Elemente der marxistischen Analyse zu übernehmen, ohne deren Bezug zur Ideologie zu erkennen; in die Praxis des Klassenkampfes und dessen marxistische Interpretation einzutreten, und dabei zu übersehen, zu welchem Typus von totalitärer Gesellschaft dieser Prozeß führt.“[22]

8. Es stimmt zwar; daß sich marxistisches Denken von Anfang an, in deutlicherer Weise aber in den letzten Jahren in verschiedener Weise ausgeformt hat, so daß mehrere Strömungen entstanden sind, die sich beträchtlich voneinander unterscheiden. In dem Maße jedoch, wie solche Strömungen wirklich marxistisch bleiben, folgen sie weiterhin einigen Grundthesen, die mit der christlichen Auffassung vom Menschen und der Gesellschaft nicht zu vereinbaren sind. In diesem Rahmen sind gewisse Sprachformeln keineswegs neutral, sondern bewahren jene Bedeutung, die sie in der ursprünglichen marxistischen Doktrin erhalten haben. So verhält es sich zum Beispiel mit dem Aus- druck „Klassenkampf“. Dieser bleibt durchdrungen von der Interpretation, die ihm Marx gegeben hat; er sollte deshalb nicht für gleichbedeutend dem empirisch verstandenen Ausdruck „zugespitzter Sozialkonflikt“ gehalten werden. Wer ähnliche Formeln benutzt und dabei behauptet, nur gewisse Elemente der marxistischen Analyse beizubehalten, während er letztere als Ganzes zurückweise, schafft im Denken seiner Leser zumindest eine tiefe Zweideutigkeit.

9. Wir rufen in Erinnerung, daß der Atheismus und die Negation der menschlichen Person, ihrer Freiheit und ihrer Rechte, sich im Zentrum der marxistischen Konzeption befinden. Diese enthalten auch die Irrtümer, die die Wahrheiten des Glaubens über die ewige Bestimmung der Person direkt bedrohen. Mehr noch, wer eine solche Analyse in die Theologie integrieren will, bei der die Kriterien der Interpretation von dieser atheistischen Konzeption abhängen, verstrickt sich in schlimme Widersprüche. Das Verkennen der geistigen Natur der Person führt dazu, diese völlig dem Kollektiv unterzuordnen und ebenso die Prinzipien eines sozialen und politischen Lebens zu leugnen, die mit der Menschenwürde übereinstimmen.

10. Die kritische Prüfung der analytischen Methoden, die man anderen Disziplinen entlehnt, ist für den Theologen besonders dringlich. Das Glaubenslicht vermittelt der Theologie ihre Prinzipien. Wenn daher der Theologe philosophische oder humanwissenschaftliche Ergebnisse gebraucht, so hat dieser Gebrauch „instrumentalen“ Wert und muß Gegenstand einer kritischen Prüfung theologischer Art sein. Anders gesagt, das letzte und entscheidende Wahrheitskriterium kann letztlich nur selber ein theologisches Kriterium sein. Die Gültigkeit oder der Grad an Gültigkeit dessen, was die anderen Disziplinen, im übrigen oft mehr mutmaßend, als Wahrheiten über den Menschen, seine Geschichte und sein Ziel vorlegen, muß im Licht des Glaubens geprüft werden, im Licht dessen, was der Glaube uns über die Wahrheit des Menschen und den letzten Sinn seines Weges lehrt.

11. Die Anwendung von der marxistischen Denkströmung entliehenen Interpretationsschemata auf die ökonomische, soziale und politische Wirklichkeit von heute kann auf den ersten Blick eine gewisse Wahrscheinlichkeit bieten, in dem Maße, als die Situation gewisser Länder einige Analogien mit den Situationen aufweist, die Marx in der Mitte des letzten Jahrhunderts beschrieben und interpretiert hat. Auf Grund dieser Analogien nimmt man Vereinfachungen von die von wesentlichen spezifischen Faktoren absehen und dadurch eine wirklich genaue Analyse der Ursachen des Elends verhindern und die Verwirrungen andauern lassen.

12. Die Anhäufung des Großteils der Reichtümer durch eine Besitzeroligarchie ohne soziales Gewissen, das fast völlige Fehlen oder die Mängel des Rechtsstaats, die Militärdiktaturen, die die elementaren Menschenrechte mißachten, die Korruption bestimmter Machthaber, die zügellosen Praktiken des ausländischen Kapitals bilden in manchen Gegenden Lateinamerikas Faktoren, die ein gewaltiges Gefühl des Aufbegehrens bei denen hervorrufen, die sich als die ohmnächtigen Opfer eines neuen technologischen, finanziellen, monetären oder ökonomischen Kolonialismus betrachten. Das Bewußtwerden der Ungerechtigkeiten ist von einem Pathos begleitet, das seine Sprache oft dem Marxismus entlehnt, die mißbräuchlich als eine „wissenschaftliche“ Sprache hingestellt wird.

13. Die erste Bedingung einer Analyse ist die völlige Bereitschaft, sich von der zu beschreibenden Wirklichkeit belehren zu lassen ohne vorgefaßte Ideen. Ein kritisches Bewußtsein muß mit dem Gebrauch der Arbeitshypothesen Hand in Hand gehen, die man übernimmt. Man muß wissen, daß diese einem Teilgesichtspunkt entsprechen, was unweigerlich zur Folge hat, daß gewisse Aspekte der Wirklichkeit hervorgehoben, andere im Dunkel gelassen werden. Diese Begrenztheit, die sich aus der Natur der Sozialwissenschaften ergibt, wird von denen übersehen die statt Hypothesen zu gebrauchen, die als solche erkannt werden, eine umfassende Weltanschauung übernehmen, wie sie das Denken von Marx darstellt.

VIII.
UNTERGRABUNG DES SINNES FÜR WAHRHEIT UND DIE GEWALT

1. Diese Gesamtkonzeption besticht in ihrer Logik und treibt die „TheoIogien der Befreiung“ an, eine Summe von Positionen zu übernehmen, die mit dem christlichen Menschenbild unvereinbar sind. Der ideologische, dem Marxismus entlehnte Kern, auf den man sich bezieht, übt in der Tat die Funktion eines bestimmenden Prinzips aus. Diese Rolle wird ihm aufgrund der Qualifikation als wissenschaftlich, das heißt als notwendig wahr zugesprochen. In diesem Kern kann man verschiedene Komponenten unterscheiden.

2. In der Logik des marxistischen Denkens ist die „Analyse“ nicht von der Praxis und von der Geschichtsauffassung, die mit ihr verbunden ist, zu trennen. So ist die Analyse ein Instrument der Kritik, und die Kritik ist ihrerseits nur ein Moment des revolutionären Kampfes. Der Kampf ist der der Klasse des Proletariats, die mit einer geschichtlichen Sendung betraut ist.

3. Deshalb kann nur derjenige, der an diesem Kampf teilnimmt, eine korrekte Analyse durchführen.

4. Das richtige Bewußtsein ist daher das parteiliche Bewußtsein. Man sieht, daß hier die Auffassung von der Wahrheit auf dem Spiel steht. Sie wird vollständig umgekehrt: Wahrheit gibt es nur, so wird behauptet, in der und durch die parteiliche Praxis.

5. Die Praxis und die Wahrheit, die sich aus ihr ergibt, sind parteiliche Praxis und Wahrheit, da die Grundstruktur der Geschichte vom Klassenkampf gekennzeichnet ist. Es besteht daher eine objektive Notwendigkeit, in den Klassenkampf einzutreten (der das dialektische Gegenteil der Ausbeutungsbeziehung ist, die man anprangert). Die Wahrheit ist Klassenwahrheit; Wahrheit gibt es nur im Kampf der revolutionären Klasse.

6. Das Grundgesetz der Geschichte, der Klassenkampf, beinhaltet, daß die Gesellschaft auf der Gewalt aufbaut. Der Gewalt, die die Herrschaftsbeziehung der Reichen über die Armen darstellt, antwortet die revolutionäre Gegengewalt, durch die diese Beziehung umgestürzt werden wird.

7. Der Klassenkampf wird als ein objektives, notwendiges Gesetz dargestellt. Indem man in diesen Prozeß auf seiten der Unterdrückten eintritt, „tut“ man die Wahrheit, handelt man „wissenschaftlich“. Folglich geht diese Auffassung von der Wahrheit mit der Behauptung der Notwendigkeit von Gewalt Hand in Hand und damit mit dem politischen Amoralismus. In diesen Perspektiven verliert die Bezugnahme auf ethische Forderungen nach radikalen und mutigen strukturellen und institutionellen Reformen jeden Sinn.

8. Das Grundgesetz des Klassenkampfes hat den Charakter des Umfassenden und Universalen. Es spiegelt sich in allen Lebensbereichen, den religiösen, ethischen, kulturellen und institutionellen. Keiner dieser Bereiche ist diesem Gesetz gegenüber autonom. In allen diesen Bereichen ist dieses Gesetz das bestimmende Element.

9. Durch die Abhängigkeit dieser These vom marxistischen Ursprung wird besonders das Wesen der Ethik radikal in Frage gestellt. De facto wird das transzendente Prinzip der Unterscheidung von Gut und Böse, das Grundprinzip der Moral, in der Sicht des Klassenkampfes implizit geleugnet.

IX.
DIE "THEOLOGISCHE" ÜBERSETZUNG DIESES KERNS

1. Die in Frage stehenden Positionen finden sich mitunter wörtlich in gewissen Schriften der „Befreiungstheologen“. Bei anderen erscheinen sie von ihren Prämissen logisch abgeleitet. Zudem sind sie bei bestimmten liturgischen Praktiken vorausgesetzt, wie zum Beispiel die „Eucharistie“ in eine Feier des Klassenkampfes umgeformt wird, auch wenn es denjenigen, die daran teilnehmen, nicht voll bewußt ist. Es handelt sich also um ein wirkliches System, wenn auch manche zögern, der Logik bis auf den Grund zu folgen. Dieses so beschaffene System ist eine Perversion der christlichen Botschaft, wie Gott sie seiner Kirche anvertraut hat, Diese Botschaft wird also in ihrer Ganzheit bei den „Befreiungstheologien“ in Frage gestellt.

2. Die „Befreiungstheologien“ übernehmen nicht die Tatsache der gesellschaftlichen Schichtungen und die mit ihnen verbundenen Ungerechtigkeiten, sondern die Theorie des Klassenkampfes als strukturelles Grundgesetz der Geschichte. Man zieht dabei die Schlußfolgerung, daß der so verstandene Klassenkampf selbst die Kirche spaltet und daß man die kirchliche Wirklichkeit von ihm her beurteilen muß. Man behauptet auch, es hieße unredlicherweise eine trügerische Illusion aufrechterhalten zu beanspruchen, daß die Liebe in ihrer Universalität das besiegen könnte, was doch das erste Strukturgesetz der kapitalistischen Gesellschaft darstellt.

3. In dieser Sicht ist der Klassenkampf der Motor der Geschichte. Dadurch wird die Geschichte zu einem Zentralbegriff. Man sagt, Gott sei Geschichte geworden. Man fügt hinzu, es gebe nur eine Geschichte, in der nicht mehr zwischen Heils- und Profangeschichte unterschieden werden darf. Die Unterscheidung aufrechterhalten hieße, in einen „Dualismus“ zu fallen. Dergleichen Aussagen zeugen von einem historizistischen Immanentismus. Dadurch ist man bestrebt, das Reich Gottes und sein Werden mit der menschlichen Befreiungsbewegung zu identifizieren und aus der Geschichte das Subjekt ihrer eigenen Entwicklung als Prozeß der Selbsterlösung des Menschen durch den Klassenkampf zu machen. Diese Identifizierung steht zum Glauben der Kirche in Widerspruch, wie ihn das Zweite Vatikanische Konzil in Erinnerung gerufen hat.[23]

4. In dieser Richtung gehen manche so weit, Gott selbst mit der Geschichte zu identifizieren und den Glauben als „Treue zur Geschichte“ zu definieren, womit eine Treue gemeint ist, die in der politischen Praxis engagiert ist, wie sie der Vorstellung von der Entwicklung der Menschheit entspricht, die als ein rein zeitlicher Messianismus aufgefaßt wird.

5. Folglich erhalten Glaube, Hoffnung und Liebe einen neuen Inhalt: Sie bedeuten „Treue zur Geschichte „Vertrauen in die Zukunft“ und „Entscheidung für die Armen“. Das heißt, sie werden in ihrer theologischen Wirklichkeit geleugnet.

6. Eine radikale Politisierung der Glaubensaussagen und der theologischen Urteile ist die unvermeidliche Folge dieser neuen Auffassung. Es geht nicht mehr nur darum, die Aufmerksamkeit auf die politischen Folgen und Auswirkungen der Glaubenswahrheiten zu lenken, die in ihrem transzendenten Wert geachtet werden. Vielmehr wird jede Aussage des Glaubens und der Theologie einem politischen Kriterium unterzogen, das seinerseits wieder von der Theorie des Klassenkampfes als des Motors der Geschichte abhängt.

7. Daher wird der Einsatz im Klassenkampf als eine Forderung der Liebe hingestellt. Man prangert es als eine demobilisierende und der Liebe zu den Armen entgegengesetzte Haltung an, wenn man schon jetzt jeden Menschen lieben will, zu welcher Klasse er auch gehöre, und wenn man ihm auf den Wegen des gewaltlosen Dialogs und der Überzeugung begegnen möchte. Wenn man auch sagt, er solle nicht Gegenstand des Hasses sein, so behauptet man doch, daß er aufgrund seiner objektiven Zugehörigkeit zur Welt der Reichen zuerst ein zu bekämpfender Klassenfeind sei. Daher wird die Universalität der Nächstenliebe und der Brüderlichkeit zu einem eschatologischen Prinzip, das erst für den „neuen Menschen“ gelten wird, der aus der siegreichen Revolution hervorgehen wird.

8. Bezüglich der Kirche besteht die Tendenz, in ihr nur eine innergeschichtliche Wirklichkeit zu sehen, die auch nur den Gesetzen gehorcht, die angeblich die geschichtliche Entwicklung in ihrer Immanenz lenken. Diese Reduktion entleert die Kirche von ihrer eigenen Wirklichkeit, die Gabe der Gnade Gottes und Geheimnis des Glaubens ist. Gleicherweise bestreitet man, daß die Teilnahme am gleichen eucharistischen Tisch für Christen, die ansonsten entgegengesetzten Klassen angehören, noch einen Sinn habe.

9. In ihrer positiven Bedeutung bezeichnet die Kirche der Armen die Bevorzugung – ohne Ausschließlichkeit – der Armen in allen Formen des menschlichen Elends, weil sie die Bevorzugten Gottes sind. Der Ausdruck bezeichnet zudem, daß in unserer Zeit der Kirche als Gemeinschaft und als Institution sowie ihren Gliedern die Forderungen der evangelischen Armut bewußt werden.

10. Die „Befreiungstheologien“ haben zwar das Verdienst, die große Texte der Propheten und des Evangeliums über die Verteidigung der Armen wieder aufgewertet zu haben, doch verwechseln sie darüber hinaus in verderblicher Weise den Armen der Schrift mit dem Proletariat von Marx. Dadurch wird der christliche Sinn der Armut pervertiert und der Kampf für die Rechte der Armen verwandelt sich in eine Klassenauseinandersetzung im ideologischen Sinn des Klassenkampfes. Die Kirche der Armen bezeichnet dann eine Klassenkirche, die sich der Notwendigkeit des revolutionären Kampfes als Etappe zur Befreiung bewußt geworden ist und die diese Befreiung in ihrer Liturgie feiert.

11. Eine analoge Bemerkung muß bezüglich des Ausdrucks Volkskirche gemacht werden. Vom pastoralen Standpunkt aus kann man darunter die vorrangigen Adressaten der Evangelisierung verstehen, diejenigen, denen sich wegen ihrer Lebensbedingungen die pastorale Liebe der Kirche besonders zuwendet. Man kann von der Kirche auch als vom „Volk Gottes“ sprechen, d. h. vom Volk des Neuen Bundes, den Christus geschlossen hat.[24]

12. Die „Befreiungstheologien“ von denen wir hier sprechen, verstehen aber unter Volkskirche eine Klassenkirche, die Kirche des unterdrückten Volkes, das es „bewußt zu machen“ gilt für den organisierten Befreiungskampf. Das so verstandene Volk wird für manche sogar zum Glaubensgegenstand.

13. Ausgehend von einer solchen Auffassung von der Volkskirche wird eine Kritik der Kirchenstrukturen entwickelt. Es geht nicht mehr nur um eine brüderliche Zurechtweisung derjenigen Hirten der Kirche, deren Verhalten nicht den evangelischen Geist des Dienens widerspiegelt und sich an überholte Autoritätszeichen klammert, die den Armen ein Ärgernis sind. Es handelt sich vielmehr um eine Infragestellung der sakramentalen und hierarchischen Struktur der Kirche, wie der Herr selbst sie gewollt hat. Man verurteilt die Hierarchie und das Lehramt als eindeutige Vertreter der herrschenden Klasse, die man notwendigerweise bekämpfen muß. Theologisch läuft diese Position darauf hinaus, daß gesagt wird, das Volk sei die Quelle der Ämter, es könne sich deshalb selber die Amtsträger seiner Wahl geben, entsprechend den Bedürfnissen seiner historischen, revolutionären Sendung.

X.
EINE NEUE HERMENEUTIK

1. Die parteiliche Auffassung von der Wahrheit, die sich in der revolutionären Klassenpraxis kundtut, erhärtet diese Position. Die Theologen, die die Thesen der „Befreiungstheologie“ nicht teilen, die Hierarchie und vor allem das römische Lehramt werden a priori diskreditiert, da sie zur Unterdrückerklasse gehören; Argumente und Lehren brauchen daher erst gar nicht für sich geprüft werden, da sie nur Klasseninteressen widerspiegeln. Dadurch wird deren Rede für prinzipiell falsch erklärt.

2. Hier zeigt sich der umfassende und totalisierende Charakter der „Befreiungstheologie“. Diese muß folglich nicht in dieser oder jener ihrer Aussagen kritisiert werden, sondern auf der Ebene des Klassenstandpunktes, den sie a priori einnimmt und der in ihr als ein bestimmendes hermeneutisches Prinzip wirkt.

3. Aufgrund dieses Klassenvorverständnisses wird es äußerst schwierig, um nicht zu sagen unmöglich, von manchen „Befreiungstheologen“ einen echten Dialog zu erreichen, in dem der Gesprächspartner gehört und seine Argumente objektiv und aufmerksam diskutiert werden. Denn diese Theologen gehen, mehr oder weniger bewuß von der Voraussetzung aus, daß der Standpunkt der unterdrückten und revolutionären Klasse, der der ihre sei, den einzigen Standpunkt der Wahrheit ausmache. Die theologischen Wahrheitskriterien werden dadurch relativiert und den Forderungen des Klassenkampfes untergeordnet. In dieser Perspektive ersetzt man die Orthodoxie als die rechte Glaubensregel durch die Idee der Orthopraxie als Wahrheitskriterium. In dieser Hinsicht darf die praktische Ausrichtung, die auch der herkömmlichen Theologie eigen ist, und zwar mit dem gleichen Recht wie die spekulative Ausrichtung, mit einem bevorzugten Primat, wie er in einer bestimmten Form von Praxis vorkommt, nicht verwechselt werden. Letztere ist in der Tat eine revolutionäre Praxis, die zum obersten Kriterium der theologischen Wahrheit erhoben wird. Eine gesunde theologische Methodologie berücksichtigt ohne Zweifel die Praxis der Kirche und findet dort eine ihrer Grundlagen, aber nur deshalb, weil sie aus dem Glauben hervorkommt und sein gelebter Ausdruck ist.

4. Die Soziallehre der Kirche wird verächtlich verworfen. Sie gehe, so sagt man, von der Illusion eines möglichen Kompromisses aus, die für die Mittelklassen typisch sei, die ohne historische Bestimmung sind.

5. Die neue Hermeneutik die in den „Befreiungstheologien“ vertreten wird, führt zu einer im wesentlichen politischen „relecture“ der Schrift. So wird dem Ereignis des Exodus eine vorrangige Bedeutung zugemessen, insofern er Befreiung aus der politischen Knechtschaft ist. Auch das Magnifikat wird politisch gelesen. Der Fehler besteht hier nicht darin, daß man für eine politische Dimension der biblischen Berichte aufmerksam ist, sondern darin, daß aus ihr die wichtigste und ausschließliche Dimension gemacht wird, was zu einer verkürzten Lektüre der Schrift führt.

6. Ebenso stellt man sich in die Perspektive eines zeitlichen Messianismus, der eine der radikalsten Ausdrucksformen der Säkularisierung des Reiches Gottes und seines Verschwindens in der Immanenz der menschlichen Geschichte darstellt.

7. Indem man auf diese Weise die politische Dimension privilegiert, gelangt man dazu, die radikale Neuheit des Neuen Testaments zu leugnen und vor allem die Person unseres Herrn Jesus Christus zu verkennen, der wahrer Gott , und wahrer Mensch ist, sowie den spezifischen Charakter der Befreiung, die er uns gebracht hat und die zuerst Befreiung von der Sünde ist, der Quelle aller Übel.

8. Anderseits entfernt man sich eben dadurch von der Tradition, daß man die autorisierte Auslegung durch das Lehramt ablehnt, indem man sie als eine klassenbedingte Auslegung verurteilt. Dadurch beraubt man sich eines wesentlichen theologischen Auslegungskriteriums und in dem dadurch entstandenen Leerraum greift man zu den radikalsten Thesen der rationalistischen Exegese. So übernimmt man unkritisch den Gegensatz zwischen dem „Jesus der Geschichte“ und dem „Christus des Glaubens“.

9. Gewiß hält man am Buchstaben der Glaubensformeln fest, besonders an der von Chalkedon, doch gibt man ihnen eine neue Bedeutung, die eine Verneinung des kirchlichen Glaubens ist. Einerseits verwirft man die von der Tradition getragene christologische Lehre im Namen des Klassenkriteriums; anderseits beansprucht man, dem „Jesus der Geschichte“ von der revolutionären Erfahrung des Befreiungskampfes der Armen her zu begegnen.

10. Man gibt vor; eine analoge Erfahrung zu der zu erleben, die Jesus gemacht haben soll. Die Erfahrung der Armen, die für ihre Befreiung kämpfen, die die Erfahrung Jesu gewesen sein soll, offenbare einzig und allein die Erkenntnis des wahren Gottes und seines Reiches.

11. Es ist klar, daß hier der Glaube an das fleischgewordene Wort, das für alle Menschen gestorben und auferstanden ist und das Gott „zum Herrn und Christus gemacht hat“,[25] geleugnet wird. Man ersetzt es durch eine Jesusgestalt, die eine Art Symbol darstellt, das in sich die Forderungen des Kampfes der Unterdrückten zusammenfaßt.

12. So gibt man dem Tod Christi eine ausschließlich politische Deutung. Dadurch leugnet man seine Heilsbedeutung und die ganze Heilsökonomie der Erlösung.

13. Die neue Interpretation betrifft daher das Ganze des christlichen Mysteriums.

14. Ganz allgemein betrachtet bewirkt sie eine Art Umkehr der Symbole. Anstatt zum Beispiel mit dem hl. Paulus im Exodus ein Bild für die Taufe zu sehen,[26] ist man geneigt, aus dieser ein Symbol der politischen Befreiung des Volkes zu machen,

15. Da dasselbe hermeneutische Kriterium auch auf das kirchliche Leben und die hierarchische Verfassung der Kirche angewandt wird, werden die Beziehungen zwischen der Hierarchie und der „Basis“ Herrschaftsbeziehungen, die dem Gesetz des Klassenkampfes gehorchen. Die Sakramentalität, die die Wurzel der kirchlichen Ämter ist und die aus der Kirche eine geistliche Wirklichkeit macht, die nicht auf eine rein soziologische Analyse beschränkt werden kann, wird einfach übergangen.

16. Die Umkehrung der Symbole kann man auch im Bereich der Sakramente beobachten. Die Eucharistie wird nicht mehr in ihrer Wahrheit als sakramentale Gegenwart des Opfers der Versöhnung und als die Gabe von Leib und Blut Christi verstanden. Sie wird zur Feier des Volkes in seinem Kampf. Daher wird die Einheit der Kirche radikal geleugnet, Die Einheit, die Versöhnung, die Gemeinschaft in der Liebe werden nicht mehr als eine Gabe verstanden, die wir von Christus empfangen.[27] Die Einheit wird von der historischen Klasse der Armen durch ihren Kampf aufgerichtet werden. Der Klassenkampf ist der Weg dieser Einheit. Die Eucharistie wird so zur Klasseneucharistie. Gleichzeitig wird die siegreiche Kraft der Liebe Gottes geleugnet, die wir empfangen.

XI.
ORIENTIERUNGEN

1. Die Warnung vor den schweren Abweichungen, die in manchen „Befreiungstheologien“ enthalten sind, darf keinesfalls als eine auch nur indirekte Gutheißung derer verstanden werden, die zur Fortdauer des Elends der Völker. beitragen, die davon profitieren, die sich daran beteiligen oder die dieses Elend unberührt läßt. Die Kirche, die dem Evangelium von der Barmherzigkeit und der Liebe zum Menschen folgt, hört den Ruf nach Gerechtigkeit[28] und möchte mit allen ihren Kräften darauf antworten.

2. Mit Mut und Wagnis, mit Klarsicht und Klugheit, mit Eifer und Seelenstärke, mit einer bis zum Opfer gehenden Liebe zu den Armen sollen die Hirten – und viele tun es bereits – es als eine vorrangige Aufgabe betrachten, auf diesen Ruf zu antworten.

3. Alle, Priester, Ordensleute und Laien, die diesen Ruf nach Gerechtigkeit hören und für die Evangelisierung und die Förderung des Menschen arbeiten wollen, werden es in Gemeinschaft mit ihrem Bischof und mit der Kirche tun, jeder entsprechend seiner spezifischen kirchlichen Berufung.

4. Im Bewußtsein des kirchlichen Charakters ihrer Berufung werden die, Theologen loyal und im Geist des Dialogs mit dem Lehramt der Kirche zusammenarbeiten. Sie werden im Lehramt ein Geschenk Christi an seine Kirche erkennen[29] und sein Wort und seine Weisung mit kindlichem Respekt entgegennehmen.

5. Die Anforderungen einer echten menschlichen Förderung und Befreiung kann man nur von dem in seiner Ganzheit gesehenen Auftrag Evangelisierung her verstehen. Die unerläßlichen Pfeiler dieser Befreiung sind die Wahrheit über die Kirche und die Wahrheit über Jesus Christus, den Erlöser, die Wahrheit über die Kirche und die Wahrheit über den Menschen und seine Würde.[30] Die Kirche, die auf der ganzen Welt. Kirche der Armen sein will, ist entschlossen, den wichtigen Kampf für die Wahrheit und für die Gerechtigkeit zu fuhren, und dies im Licht der Seligpreisungen, vorab der Seligpreisung der vor Gott Armen. Sie wendet sich an jeden Menschen und aus diesem Grunde an alle Menschen. Sie ist „die universale Kirche, die Kirche der Menschwerdung. Sie ist keine Kirche einer Klasse oder nur einer Kaste. Und sie spricht im Namen der Wahrheit. Diese Wahrheit ist realistisch“. Sie lehrt, „jede menschliche[31] Wirklichkeit, jede Ungerechtigkeit, jede Spannung, jeden Kampf“ wahrzunehmen.

6. Eine wirksame Verteidigung der Gerechtigkeit muß sich auf die Wahrheit über den Menschen stützen, der nach dem Bild Gottes geschaffen und zur Gnade der Gotteskindschaft berufen ist. Die Anerkennung der wahren Beziehung des Menschen zu Gott stellt das Fundament jener Gerechtigkeit dar, die die Beziehungen unter den Menschen regelt. Deshalb ist der Kampf für die Menschenrechte, den die Kirche ständig in Erinnerung ruft, der wahre Kampf für die Gerechtigkeit.

7. Die Wahrheit über den Menschen erfordert, daß dieser Kampf mit Mitteln geführt wird, die der menschlichen Würde gemäß sind. Deshalb muß der systematische und planmäßige Gebrauch der blinden Gewalt, von welcher Seite sie auch komme, verurteilt werden.[32] Man wird das Opfer einer tödlichen Illusion, wenn man auf gewalttätige Mittel vertraut, in der Hoffnung, mehr Gerechtigkeit zu erwirken. Gewalt erzeugt Gewalt und entwürdigt den Menschen. Sie schändet die Würde des Menschen in der Person der Opfer, und sie erniedrigt diese gleiche Würde bei denen, die Gewalt anwenden.

8. Die Dringlichkeit der radikalen Reformen jener Strukturen, die Elend hervorbringen und die selber Formen der Gewalt darstellen, darf nicht dazu verleiten, daß man übersieht, daß die Quelle der Ungerechtigkeit im Herzen des Menschen liegt. Soziale Veränderungen, die wirklich im Dienst des Menschen sind, wird man nur dadurch erreichen, daß man an die ethischen Fähigkeiten der Person und an die beständige innere Umkehr appelliert.[33] Denn je mehr die Menschen frei, aus eigener Initiative und solidarisch an diesen notwendigen Veränderungen mitwirken werden, desto mehr werden sie in ihrer Menschlichkeit wachsen. Die Verkehrung von Moralität und Strukturen stammt aus einer materialistischen Anthropologie, die mit der Wahrheit über den Menschen unvereinbar ist.

9. Es ist daher gleichfalls eine tödliche Illusion zu glauben, neue Strukturen brächten von sich aus einen „neuen Menschen“ hervor, im Sinne der Wahrheit über den Menschen. Der Christ kann nicht verkennen, daß der uns verliehene Heilige Geist die Quelle jeder wahren Neuheit ist und daß Gott der Herr der Geschichte ist.

10. Ebenso ist der Umsturz von Ungerechtigkeit erzeugenden Strukturen durch die revolutionäre Gewalt nicht ipso facto der Beginn der Errichtung einer gerechten Herrschaft. Eines der wichtigsten Fakten unserer Zeit muß alle, die ehrlich die Befreiung ihrer Brüder wollen, zum Nachdenken anregen. Millionen unserer Zeitgenossen sehnen sich legitimerweise danach, die grundlegenden Freiheiten wiederzuerlangen, deren sie durch totalitäre und atheistische Regierungsformen beraubt wurden, die auf revolutionärem und gewalttätigem Weg die Macht an sich gerissen haben, und dies im Namen der Befreiung des Volkes. Man kann diese Schande unserer Zeit nicht übersehen: Ganze Nationen werden unter menschenunwürdigen Bedingungen in Knechtschaft gehalten, während gleichzeitig behauptet wird, man bringe ihnen die Freiheit. Diejenigen, die, vielleicht unbewußt, sich zum Verbündeten solcher Unterdrückung machen, verraten die Armen, denen sie zu dienen behaupten.

11. Der Klassenkampf als Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft ist ein Mythos, der die Reformen verhindert sowie das Elend und die Ungerechtigkeiten verschlimmert. Diejenigen, die sich von diesem Mythos faszinieren lassen, sollten die bitteren geschichtlichen Erfahrungen bedenken, zu denen dieser geführt hat. Sie sollen verstehen, daß es sich nicht darum handelt, eine wirksame Form des Kampfes zugunsten der Annen auf Kosten eines Ideals aufzugeben, das wirkungslos sein wird. Es handelt sich im Gegenteil darum, sich von einem Blendwerk zu befreien, um sich auf das Evangelium und seine befreiende Kraft zu berufen.

12. Eine der Voraussetzungen für die notwendige theologische Erneuerung ist es, die kirchliche Soziallehre wieder zu betonen. Diese Lehre ist keineswegs abgeschlossen. Im Gegenteil, sie ist offen für alle neuen Fragen, die im Laufe der Zeit auftauchen. In dieser Hinsicht ist der Beitrag der Theologen und Denker der Dritten Welt zur Reflexion der Kirche heute unerläßlich.

13. Ebenso ist die Erfahrung derer die direkt in der Evangelisierung und der Förderung der Armen und Unterdrückten arbeiten, für die Lehr- und Pastoralreflexion der Kirche notwendig. In diesem Sinne kann man sagen, daß gewisse Aspekte der Wahrheit von der Praxis her bewußt werden, wenn man darunter die pastorale und soziale Praxis versteht, die sich am Evangelium ausrichtet.

14. Die kirchliche Soziallehre bietet die großen ethischen Richtlinien. Damit sie aber direkt das Handeln leiten kann, braucht es kompetente Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Technik. Die Hirten sollen auf die Ausbildung solcher kompetenter Persönlichkeiten achten, die tief aus dem Evangelium leben. Es gehört zur ureigenen Sendung der Laien, die Gesellschaft zu formen; hier sind sie höchstpersönlich betroffen.

15. Die Thesen der „Befreiungstheologien“ werden in einer vereinfachten Form weit verbreitet in Bildungstagungen und in Basisgruppen, denen es an katechetischer und pastoraler Vorbereitung mangelt. So werden diese Thesen von hochherzigen Männern und Frauen übernommen, ohne daß ihnen ein kritisches Urteil möglich wäre.

16. Deshalb müssen die Hirten über die Qualität und den Inhalt der Katechese und der Ausbildung wachen, welche immer die Heilsbotschaft in ihrer Ganzheit und, in deren Rahmen, die Forderungen der wahren menschlichen Befreiung darstellen sollen.

17. In dieser ganzheitlichen Darlegung des christlichen Mysteriums wird es angebracht sein, gerade jene wesentlichen Aspekte zu betonen, die die „Befreiungstheologien“ in besonderer Weise verkennen oder ausschließen: die Transzendenz und die Ungeschuldetheit der Befreiung in Jesus Christus, der wahrer Gott und wahrer Mensch ist; die Souveränität seiner Gnade, die wahre Natur der Heilsmittel, besonders der Kirche und der Sakramente. Man wird an die wahre Bedeutung der Ethik erinnern, in der die Unterscheidung von Gut und Böse nicht relativiert werden darf, an den authentischen Sinn der Sünde, die Notwendigkeit der Bekehrung und die Universalität des Gebotes der Nächstenliebe. Man wird vor einer Politisierung der menschlichen Existenz warnen, die die Eigenart des Reiches Gottes und die Transzendenz der Person verkennt und die auf eine Sakralisierung des Politischen und eine Vereinnahmung der Volksreligiosität für revolutionäre Vorhaben hinausläuft.

18. Den Verteidigern der „Orthodoxie“ wirft man manchmal Passivität, Nachsichtigkeit und schuldhafte Mitwisserschaft gegenüber unerträglichen Situationen der Ungerechtigkeit und gegenüber politischen Regimen, die diese erhalten, vor. Wie es auch um die Berechtigung dieses Vorwurfs stehen mag, sicher ist von allen, besonders aber von den Hirten und den Verantwortlichen, die geistliche Bekehrung, die intensive Gottes- und Nächstenliebe, der Eifer für Gerechtigkeit und Frieden, der evangelische Sinn für die Armen und die Armut gefordert. Die Sorge um die Reinheit der Lehre geht nicht ohne die Bemühung, durch ein integrales theologales Leben die Antwort eines wirksamen Zeugnisses des Dienstes am Nächsten, besonders aber am Armen und Unterdrückten, zu geben. Durch das Zeugnis ihrer dynamischen und konstruktiven Fähigkeit zu lieben werden die Christen so die Grundlagen jener „Zivilisation der Liebe“ legen, von der nach Paul VI., auch die Konferenz von Puebla gesprochen hat.[34] Im übrigen gibt es zahlreiche Priester, Ordensleute und Laien, die sich in wahrhaft evangelischem Geist der Bildung einer gerechten Gesellschaft widmen.

ABSCHLUSS

Die Worte Pauls VI. in seinem Credo des Gottesvolkes sprechen in großer Klarheit den Glauben der Kirche aus, von dem man sich nicht entfernen darf, ohne Gefahr zu laufen, nicht nur geistlich Schiffbruch zu erleiden, sondern auch neues Elend und neue Knechtschaften zu verursachen.

„Wir bekennen, daß Gottes Reich hier auf Erden in der Kirche Christi seinen Anfang nimmt und nicht von dieser Welt ist, deren Antlitz ja vergeht, und daß das Wachstum der Kirche nicht mit dem Fortschritt der Zivilisation, der Wissenschaft und Technik des Menschen gleichgesetzt werden darf, sondern daß die Kirche nur aus dem einen Grunde besteht, um immer tiefer den unergründlichen Reichtum Christi zu erkennen, immer zuversichtlicher auf die ewigen Güter zu hoffen, immer besser der Liebe Gottes zu antworten und den Menschen immer freigebiger die Güter der Gnade und Heiligkeit mitzuteilen. Ebenso ist es die Liebe, die die Kirche bewegt, sich stets um das wahre zeitliche Wohl der Menschen zu sorgen. Unablässig erinnert sie ihre Kinder daran, daß ihnen hier auf Erden keine bleibende Wohnung beschieden ist. Sie drängt sie dazu, daß jeder von ihnen, entsprechend seiner Berufung und seinen Möglichkeiten, zum Wohle seiner Gemeinschaft beiträgt, daß er Gerechtigkeit, Frieden und Brüderlichkeit unter den Menschen fordert und seinen Brüdern, vor allem den Armen und Unglücklichen, hilft. Die stete Sorge der Kirche, der Braut Christi, für die Not der Menschen, für ihre Freuden und Hoffnungen, für ihre Arbeiten und Mühen ist demnach nichts anderes als die große Sehnsucht, ihnen nahe zu sein, um sie zu erleuchten mit dem Lichte Christi und sie alle in ihm, ihrem alleinigen Heiland, zu vereinen. Diese Sorge kann niemals bedeuten, daß sich die Kirche den Dingen dieser Welt gleichförmig macht, noch kann sie die brennende Sehnsucht mindern, mit der die Kirche ihren Herrn und sein ewiges Reich erwartet.“[35]

Diese Instruktion, die in der ordentlichen Versammlung dieser Kongregation verabschiedet wurde, hat Papst Johannes Paul II. in der dem unterzeichneten Kardinalpräfekten gewährten Audienz gutgeheißen und ihre Veröffentlichung angeordnet.

Gegeben am 6. August 1984, dem Fest der Verklärung des Herrn, am Sitz der Kongregation für die Glaubenslehre in Rom.

Joseph Kardinal Ratzinger
Präfekt

Alberto Bovone
Tit.-Erzbischof von Cesarea in Numidien
Sekretär


ANMERKUNGEN

[1] Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes, 4.

[2] Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dei verbum, 10.

[3] Vgl. Gal 5, 1 ff.

[4] Vgl. Ex 24

[5] Vgl. Jer 31, 31-34; Ez 36, 26 ff.

[6] Vgl. Zef 3, 12 ff.

[7] Vgl. Dtn 10, 18-19.

[8] Vgl. Lk 10, 25-37.

[9] Vgl. 2 Kor 8, 9.

[10] Vgl. Mt 25, 31-46; Apg 9, 4-5; Kol 1, 24.

[11] Vgl. Jak 5, 1 ff.

[12] Vgl. 1 Kor 11, 17-34.

[13] Vgl. Jak 2, 14-26.

[14] Vgl. AAS 71 (1979) 1144-1160.

[15] Vgl. AAS 71 (1979) 196.

[16] Vgl. Evangelii nuntiandi, 25-33: AAS 68 (1976) 23-28.

[17] Vgl. Evangelii nuntiandi, 32: AAS 68 (1976) 27.

[18] Vgl. AAS 71 (1979) 188-196.

[19] Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes, 39; Papst Pius XI., Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 207.

[20] Vgl. Nr. 1134-1165 und Nr. 1166-1205.

[21] Vgl. Dokument von Puebla IV, Il.

[22] Papst Paul VI., Octogesima adveniens, 34: AAS 63 (1971) 424-425.

[23] Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Lumen gentium, 9-17.

[24] Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes, 39.

[25] Vgl. Apg 2, 36.

[26] Vgl. 1 Kor 10, 1-2.

[27] Vgl. Eph 2, 11-22.

[28] Vgl. Dokument von Puebla I, III, 3. 3.

[29] Vgl. Lk 10, 16.

[30] Vgl. Papst Johannes Paul II., Eröffnungsrede auf der Konferenz von Puebla: AAS 71 (1979) 188-196; Dokument von Puebla II, I.

[31] Vgl. Papst Johannes Paul II., Ansprache an die Einwohner der Favela „Vidigal“ in Rio de Janeiro, 2. Juli 1980: AAS 72 (1980) 852-858.

[32] Vgl. Dokument von Puebla II, II, 5. 4.

[33] Vgl. Dokument von Puebla IV, III, 3. 3.

[34] Vgl. Dokument von Puebla IV, II, 2. 3.

[35] Papst Paul VI., Credo des Gottesvolkes, 30. Juni 1968: AAS 60 (1968) 443-444.

          

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