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PÄPSTLICHER RAT FÜR GERECHTIGKEIT UND FRIEDEN

REFERAT VON S.E. KARD. RENATO RAFFAELE MARTINO  

Samstag, 15. November 2003

 

Papst Leo XIII. am Übergang zweier Jahrhunderte

 

Leo XIII. leitete die Kirche an der Wende zweier Jahrhunderte. Er wurde am 20. Februar 1878 im Alter von 68 Jahren zum Papst gewählt und starb mit 93 Jahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts am 20. Juli 1903. Die Chronologie unterstützt also unsere Behauptung, Leo XIII. sei ein Papst am Übergang zweier Jahrhunderte gewesen. Doch was verstehen wir, wenn wir einmal von den chronologischen Daten absehen, unter »Übergang zweier Jahrhunderte«? An der Einmündung des 19. in das 20. Jahrhundert können wir den endgültigen Übergang zur Moderne erkennen, deren charakteristische Merkmale sich bereits voll abzuzeichnen begannen.

Leo XIII. und die Moderne

Unter dem Begriff Moderne versteht man gewöhnlich die sogenannten »Grundsatzerklärungen von 1789« mit den aus ihnen abgeleiteten politischen Ideologien: Sozialismus, Laizismus, Demokratie und Liberalismus. Bei genauerem Hinsehen jedoch lassen sich zwei Perioden unterscheiden: eine, während der die Moderne vorwiegend in kultureller und daher noch ziemlich elitärer Gestalt in Erscheinung tritt, um dann in einer zweiten Periode zum Massenphänomen zu werden. Im Zentrum des Überganges zwischen den zwei Epochen der Moderne steht der Industrialisierungsprozeß, der dazu führte, daß unter den bis dahin »christlichen« Massen die »Apostasie« (der Glaubensabfall) bzw. die »Zügellosigkeit«, wie es einige intransigente Zeitdokumente formulierten, um sich griff.

Man kann vielleicht sagen, daß die Pontifikate der Päpste Gregor XVI. und Pius IX. eine Moderne des ersten Typs erfahren haben. Sie mußten mit den Staaten und deren laizistischer Politik abrechnen, aber nicht mit den Massen, die nach wie vor christlich waren. Dafür spricht das Entstehen des »Ultramontanismus«: Der politische Katholizismus der Römischen Kirche setzte sich über die Souveränität der Staaten hinweg und ergriff die Partei der Völker bzw. – wie man in Italien sagte – der Kirche vor Ort, die »die Gesamtheit der Bürger, die im Genuß der politischen Rechte sind«, übergeht, um sich unmittelbar mit den einzelnen »Bürgern des Landes« zu verbünden.

Leo XIII. dagegen bekam es nun mit dem »massenweisen Abfall von der Kirche« zu tun, da im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Industrialisierungsprozeß die alten Gleichgewichte erschütterte und an der Peripherie der Industriestädte große Massen kämpferischer Gruppen unter den Bannern des Sozialismus oder des Anarchismus versammelte.

Es ist kein Zufall, daß erst in diesen letzten 30 Jahren des 19. Jahrhunderts eine organisierte »katholische Bewegung« entstand. Sie war dringend notwendig, weil die »zügellosen modernen Freiheiten «, wie es in der Enzyklika Immortale Dei heißt, oder die »übertriebene Neuerungssucht«, von der die Enzyklika Libertas spricht, inzwischen das einfache Volk und nicht nur die Intellektuellenkreise erreicht hatten.

Als nach dem Ende der Französischen Revolution das Läuten der Kirchenglocken und der Besuch der Kirchen wieder zugelassen wurde, war das französische Volk wieder christlich. Die napoleonischen Truppen sahen sich überall mit dem Auftreten königstreuer Volksgruppen konfrontiert, die gegen die von den Soldaten begangenen Kirchenschändungen protestierten. Ein Zeichen dafür, daß das Volk noch von Religiosität erfüllt war.

Die Kirche konnte sich auf Verhandlungen mit den Staaten beschränken. Seitdem jedoch die Industrielle Revolution die Bauern von den Feldern in die städtischen Fabriken rief und die modernen Ideologien Überzeugungen und Lebensformen anboten, die im Gegensatz zur herkömmlichen Religion standen, nahm die Moderne ein immer bedrohlicheres Aussehen an. Dieser Moderne sah sich Leo XIII. gegenüber: Es war die Moderne, die nicht nur angekündigt, sondern reale Wirklichkeit geworden war; über die nicht nur theoretisiert wurde, sondern die konkrete Gestalt angenommen hatte; die Moderne, die nicht nur in Büchern dargestellt, in Gesprächszirkeln erörtert und in einigen Gesetzen berücksichtigt wurde, sondern auch in den Fabriken und auf den Straßen und Plätzen gegenwärtig war.

Leo XIII. ersparte der Kirche nicht die Auseinandersetzung. Er nahm sie schrittweise auf, und zwar nicht nur auf negative, sondern nach und nach auch auf positive Weise, und führte die Kirche in einen schwierigen Richtungswechsel: von der Verurteilung zum Angebot, vom empörten Rückzug zum überzeugten Engagement, vom Erdulden der Geschehnisse zu ihrer Leitung. Man könnte sagen, im Werk Leos XIII. erkennen wir den Einsatz und den Ansporn für eine »christliche Moderne«. Nach dem langen, von Intransigenz gekennzeichneten Pontifikat Pius’ IX. machte sich Leo XIII. in Kontinuität mit der traditionellen Lehre seiner Vorgänger – also auch in Kontinuität mit der Enzyklika Mirari Vos Gregors XVI. (1832) und der Enzyklika Quanta Cura Pius’ IX. (1846) – zum Anführer einer gewaltigen Anstrengung der ganzen Kirche, der es schließlich gelang, die Forderungen und Bedürfnisse der Religion mit denen des authentischen Rechts zu vereinen, indem sie die Gesellschaft, die sich unvermeidlich von der Herrschaft des Christentums verabschiedete, gleichsam an der Hand nahm und begleitete, damit sie sich weiterhin vom Christentum nähre.

Der Übergang war nicht einfach, galt es doch die Untiefe zwischen dem Christentum und der christlichen Moderne zu durchqueren, wobei der Weg durch eine von antichristlichen Zügen geprägte Moderne führte. Das Schiff mußte mit Geschick gesteuert werden, damit die Kirche einerseits nicht in den Modernismus verfiel und sich andererseits nicht auf Positionen zurückzog, welche die Geschichte nun nicht mehr akzeptierte.

Leo XIII. zwischen Bewahrung und »Neuerungssucht«

Ehe ich zur Darlegung dieser These komme, sei mir zunächst eine Klarstellung gestattet. Ich habe die Gegensatzpaare von Kategorien wie »intransigent« – »liberal«, »traditionalistisch« – »modern«, »der Restauration verpflichtet« – »auf Neuerung bedacht« stets mit einem gewissen Unbehagen hingenommen. Ich habe sie immer als Etiketten empfunden, die für ein Begreifen der Geschichte der Kirche jener Zeit zu eng gefaßt sind und sich leicht für ideologische Zwecke verwenden lassen. Ich habe immer gedacht, daß sie möglicherweise den Historikern gelegen kommen, die sich genötigt sehen, die Komplexität der Geschehnisse verkürzt zu betrachten, um sie selektiv erforschen zu können.

Doch das Denken der Kirche, das Suchen nach dem echten geistlichen und materiellen Wohl der Menschen seitens der Päpste, das vielfältige Wirken der Kirche mittels all ihrer ausgedehnten Verbindungen unter der Leitung der Bischöfe waren ein Prozeß, der an Reichhaltigkeit, Originalität bzw. Eigenständigkeit jene Kategorien weit überragt. Und das vor allem wegen der in der Kirche immer bestehenden Spannung, die daraus resultiert, daß sie die Treue zur Tradition bewahrt, dem Menschen aber dort begegnet, wo er lebt, nämlich in seiner Zeit.

Die Priester und Laienchristen, die gerade zur Zeit Leos XIII. vor allem in Italien in die Arbeit katholischer Kongresse und Gremien eingebunden waren und, angespornt von den Enzykliken des Papstes, vor allem von Rerum novarum (1891) und Graves de communi (1901), rund 1000 Soziale Einrichtungen zur solidarischen Hilfe für die arme Bevölkerung ins Leben gerufen haben, waren Ausdruck der Intransigenz.

Freilich nicht mehr der Intransigenz früheren Stils, da die »christliche Volksbewegung« oder die »christliche Demokratie« – diese Ausdrücke werden in der Enzyklika Graves de communi verwendet – den »Schützengrabengeist« und die Polemik des »gefangenen Papstes« nunmehr überwunden hatte und sich auf die Werke gegenseitiger Hilfe verlegte; doch auf jeden Fall handelte es noch immer um Intransigenz bei der Verteidigung der christlichen Kultur gegen die Angriffe der »Sozialisten«, der »Nihilisten« und der »Neuerer«.

Wir stellen uns die Frage: Darf man diesen Einsatz »sozialer Nächstenliebe« der – zu einer Zeit, als gerade die kapitalistische Ausbeutung ihren Feldzug begann und die Sozialisten den Klassenkampf und den Atheismus verbreiteten –, wie die Historiker sagen, die Letzten der Gesellschaft aus der Rückständigkeit befreite und sie zum ersten Mal ein Bewußtsein sozialer Würde erfahren ließ, nicht zugleich innovativ, modernisierend und fortschrittlich nennen?

Mußte nicht, auch wenn anfangs die Verteidigung der Religion der Hauptbeweggrund war, nach und nach der Dienst am Menschen, das Bewußtsein der Gleichheit und Gerechtigkeit, die dringend gebotene Verteidigung der Rechte, die Übernahme bürgerlicher Verantwortung in den Vordergrund treten? Mußte nicht aus dem Kampf gegen den liberalen Staat, der anfangs im Rahmen der »Römischen Frage« geführt worden war, langsam die Idee des Primats der Gliedgemeinschaften und später, kraft des Subsidiaritätsprinzips, der Bürgerschaft auftauchen? Ist das alles etwa nicht Moderne, Erneuerung, Fortschrittsangebot?

Wir können noch ein anderes Beispiel anführen. Die in Rerum novarum festgeschriebene Forderung nach Einhaltung der Sonntagsruhe, um dem Arbeiter die Erfüllung seiner religiösen Pflichten zu ermöglichen, mochte wie ein Festhalten an kirchlichen Privilegien, als Überbleibsel einer Sakralgesellschaft aus einer Zeit erscheinen, in der die Zivilgesetze unmittelbar für das religiöse Leben eintraten, wie dies zum Beispiel in Lombardo-Venetien vor dessen Angliederung an Italien im Jahr 1866 der Fall war, wo die Gesetze vorschrieben, daß während der Feier der heiligen Messe die Gasthäuser geschlossen bleiben müßten. Aber muß man die Einforderung jenes Rechtes des Arbeiters nicht auch als innovativ, als eine Vorwegnahme der Verkündigung des Grundrechtes der Religionsfreiheit verstehen? Und in der Tat, genau in diesem Sinne interpretiert und entwickelt es Papst Johannes Paul II., als er sich – im Abstand von 100 Jahren – in seiner 1991 veröffentlichten Enzyklika Centesimus annus mit diesem Abschnitt aus Rerum novarum ausführlich auseinandersetzt.

Diese beiden Beispiele beweisen, daß die Anwendung allzu erstarrter Kategorien wie der von uns oben angeführten irreführend sein kann. Bei meiner Beschäftigung mit der Persönlichkeit Leos XIII. geht es mir daher nicht darum, festzustellen, ob er Traditionalist oder Erneuerer gewesen ist. Das ist nicht der Blickwinkel der Kirche. Mir geht es darum, herauszustellen, wie er versucht hat, die Kirche in die ihr von der Zeit mit Ungestüm auferlegte Moderne zu führen, ohne in der Achtung vor der Tradition auch nur im mindesten nachzugeben.

Um das zu erreichen, blickte auch er, wie Johannes Paul II. in Centesimus annus, zurück (auf das Evangelium und die Überlieferung), um sich (auf die bevorstehenden res novae) und in die Zukunft, beseelt von der Hoffnung, die in dem wohnt, der die Geschichte im Zeichen der Vorsehung lenkt.

Um diese Wesenszüge des Pontifikates Leos XIII. deutlicher herauszustellen, will ich meine Untersuchung auf sein soziales Lehramt beschränken, das heißt auf die Enzyklika Rerum novarum, aber auch auf die anderen, häufig vergessenen Sozialenzykliken dieses Papstes. Angesichts meiner Rolle als Präsident des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden scheint mir eine solche Beschränkung sogar geboten.

Der Übergang zu einer »christlichen Moderne«

Es sei mir gestattet, als Ausgangspunkt für unsere weiteren Überlegungen die jüngste Note der Kongregation für die Glaubenslehre über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben heranzuziehen. In ihr ist die Rede von der Gewissensfreiheit. Sie ist, wie wir wissen, das Thema, das gerade die Spannungen zwischen Kirche und Moderne, wie sie auch Leo XIII. erlebt hat, am besten zusammenfaßt.

In dieser Note wird klargestellt, daß die Anerkennung des Rechtes auf Gewissensfreiheit durch die Kirche mit der Erklärung Dignitatis humanae des Zweiten Vatikanischen Konzils ihren Grund in der objektiven Anerkennung der Würde der menschlichen Person und nicht in einer vagen und inhaltslosen subjektivistischen Freiheit hat. Auf die Wahrheit von der menschlichen Person und ihrer unantastbaren Würde gründet sich die Anerkennung und damit der Schutz ihrer Freiheit. Indem die Note bekräftigt, daß die Gewissensfreiheit nicht Indifferentismus bedeutet, und in der Anmerkung die Enzyklika Quanta cura Pius’ IX. (mit dem Syllabus als Anhang) zitiert, stellt sie eine Übereinstimmung des Lehramtes der jüngsten Zeit mit jenem sogenannten »intransigenten« des 19. Jahrhunderts fest.

Mit anderen Worten, die Vorstellung, daß die Freiheit nur in der Wahrheit Bedeutung hat, ist die unumstößliche Linie des Lehramtes, die sowohl von der Enzyklika Libertas Leos XIII. als auch von der letzten Sozialenzyklika Centesimus annus Johannes Pauls II. festgeschrieben wird. Ebenso ist zu sagen, daß die katholische Kirche unter dem Druck der geschichtlichen Ereignisse, durch die sie intensiv mit dieser Frage konfrontiert wurde, und selbst durch die Provokationen der »Erneuerer«, wie Leo XIII. sie nannte, zuerst fürchtete, die Menschenrechte würden vom objektiven Recht losgelöst und somit die Freiheit von der Wahrheit getrennt werden.

Deshalb erweckte sie mitunter den Eindruck, als verwerfe sie die Rechte als solche, während sie in Wirklichkeit deren Loslösung von den Pflichten, also die Trennung der Freiheit von der Wahrheit, verurteilte.

In der Folge hat die Kirche schrittweise eine Auffassung von den Rechten entwickelt, die sich aus der objektiven und transzendenten Würde der menschlichen Person ergeben; diese Rechte wollte sie vor dem Relativismus schützen, der sie unvermeidlich schwächt, und sie stärkte sie dadurch noch nachhaltiger als die modernen Ideologien. Anstatt durch die Annahme der Wahrheit beschädigt zu werden, geht die Freiheit gestärkt daraus hervor.

Danach ist die Kirche die wichtigste Kraft zur Verteidigung der Rechte des Menschen und seiner Freiheiten geworden. Die Aktivitäten und das Lehramt des gegenwärtigen Papstes Johannes Paul II. in diesem Bereich sind großartig und in gewisser Hinsicht außergewöhnlich gewesen. Aber nicht weniger außergewöhnlich waren meines Erachtens das Engagement Leos XIII. und die von ihm erzielten Resultate.

Man darf wohl sagen, daß Papst Pecci konsequent ein Ziel verfolgte: von der Position, die (auf die Gefahr hin, die Freiheit nicht gebührend hervorzuheben) die Priorität der Wahrheit betont, zu der Position überzugehen, die die Freiheit in der Wahrheit zu schätzen weiß. Es handelte sich dabei nicht um eine Kapitulation vor der Moderne. Und es ging auch nicht darum, sich der Moderne einfach zu widersetzen. Es begann eine Auseinandersetzung, die natürlich noch kein Dialog war und außerdem manchmal noch mit großer Erbitterung geführt wurde.

Während dieser Auseinandersetzung sollte sich die Kirche schrittweise die eigentlichen Themen der Moderne – die Wertschätzung des Subjektes und seines Gewissens, die persönlichen Freiheiten, angefangen bei der Meinungsfreiheit, die Menschenrechte, angefangen beim Recht auf Religionsfreiheit – wieder aneignen und versuchen, sie sogar noch zu stärken, indem sie sie vom Monopol des modernen Subjektivismus und Nihilismus befreit, wie es Leo XIII. wiederholt formuliert. Eine solche Auseinandersetzung fand gewiß nicht mit Leo XIII. ihren Abschluß, aber ihm muß das Verdienst zuerkannt werden, sie in ihrer allgemeinen Struktur in die Wege geleitet zu haben.

Die »kleinen« Sozialenzykliken von Leo XIII.

Die Hauptzüge dieses Entwurfes in den Sozialenzykliken Leos XIII. herauszulesen fällt nicht schwer. Die Großartigkeit und Bedeutung der Enzyklika Rerum novarum sind weltweit bekannt, doch wäre es ungerecht, deshalb die anderen Sozialenzykliken Leos XIII. zu vergessen: Quod apostolici muneris vom 28. Dezember 1878; Diuturnum illud vom 29. Juni 1881; Immortale Dei vom 1. November 1885; Libertas vom 20. Juni 1888; Graves de communi vom 19. Januar 1901. In ihnen ist die Absicht des Übergangs zu einer christlichen Moderne, von dem wir oben gesprochen haben, vielleicht weniger offenkundig als in Rerum novarum, wie wir gleich zeigen werden. Er läßt sich aber dennoch aufspüren, sofern es gelingt, die Probleme der sprachlichen Ausdrucksweise zu überwinden, die unter dem Einfluß einer Zeit der Kontraste und eines »militanten Aktivismus« alter Prägung steht.

Wir beschränken uns auf einige allgemeine Betrachtungen. Zunächst stellen wir in diesen Enzykliken dort, wo sie auf die Gefahren hinweisen, die der nihilistische Subjektivismus der Gesellschaft langfristig zufügen würde, einen bemerkenswerten vorausschauenden Scharfsinn fest. Die Enzyklika Diuturnum illud beleuchtet die Schwäche der politischen Vertragslehre – »dünner, instabiler Grund« –, die nicht imstande sei, der sozialen Verbindung die dringend erforderliche Stabilität zu verleihen und vor allem deren sittliche Ausrichtung auf ein Gemeinwohl zu vollziehen, das von den individuellen Nützlichkeitserwägungen (»utilitates«) unabhängig und Gegenstand des Vertrages zwischen den Bürgern ist. Aus dieser Quelle sollten sich die Begriffe von der ursprünglichen gesellschaftlichen Natur des Menschen, von der Notwendigkeit gemeinsamer sittlicher Überzeugungen (man denke an die Ausführungen über die Demokratie in Centesimus annus), vom Grundbezug der Gesellschaft zur Würde der Person (man denke an diesbezügliche Stellen in der Konzilskonstitution Gaudium et spes) entwickeln.

Zweitens stellen wir fest, daß in diesen Enzykliken Grundprinzipien der kirchlichen Soziallehre enthalten sind, die in den nachfolgenden Enzykliken Ausdruck finden werden, und sobald die verbale Hülle der Intransigenz des zu Ende gehenden Jahrhunderts entfernt ist, werden ihre sämtlichen Möglichkeiten die dynamischen Kräfte der Moderne zum Strahlen bringen. Wir denken zum Beispiel an die Überlegungen zum Thema Autorität in den Enzykliken Libertas, Immortale Dei und Diuturnum Illud, die 70 Jahre später in Pacem in Terris eine einzigartige Entfaltung finden sollten.

Die äußerst heftige Kritik Leos XIII. an einem Autoritätsbegriff, dessen Hauptquelle der Volkswille ist, zielt darauf ab, eine angemessene Grundlage für die Rechtmäßigkeit der politischen Autorität mit Bezug auf die Erlangung des Gemeinwohls zu legen. Der an und für sich sittliche Charakter der Autorität fordert dazu auf, zwischen Autorität und Macht zu unterscheiden. Aus der Einsetzung des Volkes wird, wenn überhaupt, die Macht, aber gewiß nicht die Autorität kommen können. Deshalb stellt der Papst in der Enzyklika Libertas klar: Vom Volk wird die Designation der Personen, aber nicht die Quelle der Autorität ausgehen können.

Bis zu Leo XIII. hatte die Kirche die Demokratie verworfen. Mit diesem Papst erklärte sich die Kirche als neutral gegenüber jeder Regierungsform. 100 Jahre später hat sich die Enzyklika Centesimus annus für das demokratische System ausgesprochen. Auf jeden Fall hat das Lehramt den von Leo XIII. aufgestellten Grundsatz von der wahren Rechtmäßigkeit der Macht auch der demokratischen Regime niemals aufgegeben und entschieden abgelehnt, daß sich die Demokratie auf das mechanische Vorherrschen der Mehrheit beschränke.

Schließlich weisen wir auf die historisch fruchtbare Wirkung des Prinzips der Forderung nach der Religionsfreiheit hin, das in diesen Enzykliken ausgeführt ist. Wie wir wissen, hat uns Johannes Paul II. immer wieder gelehrt, daß in gewissem Sinn der erste Platz unter den Menschenrechten dem Recht auf Religionsfreiheit gebührt. Die Sozialdokumente Leos XIII. sind durchdrungen von der Einforderung dieses Rechtes der katholischen Kirche gegenüber dem liberalen Laizismus.

Und in der Tat, während die Kirche für sich die Freiheit einforderte, kämpfte sie zugleich für die Freiheit aller. Durch ihr Verhalten relativierte sie nämlich die Politik und den Staat – der sich damals sehr zentralistisch gebärdete und geradezu eine an der positivistischen Philosophie inspirierte »Bürgerreligion« materialistischen Zuschnitts schuf – und ging, wie es die Enzyklika Libertas tut, soweit, das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen gegenüber der Macht zu fordern, da man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen.

Wie aus diesen wenigen Hinweisen zu ersehen ist, brachte Leo XIII. bereits in den »kleinen« Enzykliken, die Rerum novarum gleichsam einrahmen, eine dynamische Initiative in Gang, die dem Aufbau einer »christlichen Moderne« galt und eine Saat ausstreute, deren Ernte viele Jahre später schließlich eingebracht werden sollte. Es handelt sich dabei nicht einfach um die Aufzählung der Irrtümer der Moderne wie im Syllabus Pius’ IX., sondern der Kritik an den relativistischen und nihilistischen Voraussetzungen der aus den Geschehnissen von 1789 herrührenden Prinzipien schließt sich die konstruktive, die modernen Kräfte orientierende Absicht an.

Die Enzyklika »Rerum novarum«

In der Enzyklika Rerum novarum schlägt die Auseinandersetzung mit der Moderne jedoch grundlegend neue Töne an, und es zeichnet sich der Übergang von der religiös motivierten Gegensätzlichkeit zur Beanspruchung eines Rechtes der Kirche ab, sich eigenständig zur Sozialen Frage zu äußern, und zwar nicht aufgrund eines Privilegs oder um eine Art Urteils- oder Verurteilungsrecht auszuüben, sondern aus einer Verpflichtung zum Dienst am Menschen, die wesenhaft zu ihrem Evangelisierungsauftrag gehört.

Die Methode von Rerum novarum ist bereits ganz modern im Sinne einer »christlichen Moderne«: Die Enzyklika nimmt eine historische Analyse der Situation vor; sie versetzt sich in eine implizit moraltheologische Perspektive – das heißt der Unterscheidung der Geschichte im Lichte des Wortes und der Tradition –, um ihr Handeln auf den Dienst am Menschen auszurichten; sie argumentiert nicht in rein kirchlichen Begriffen, sondern betritt das Gebiet der Menschenrechte, besonders der Rechte des Arbeiters; sie entwirft positiv eine Vision der Gesellschaft, die in der Lage ist, die neuen brisanten Problemstellungen im Dienste des Gemeinwohls in einen ausgewogenen Rahmen einzuordnen.

Sicher gibt es in der Enzyklika auch Akzente, die typisch vor-moderne Sorgen erkennen lassen, wie zum Beispiel die Ablehnung des sozialen Konfliktes als Triebfeder des Fortschritts und der Verteidigung legitimer Interessen. Aber im großen und ganzen zeugt die Enzyklika von einem neuen Ansatz: Die »soziale Frage« wird als strukturelles Phänomen wahrgenommen und nicht mehr als eine auf die ethisch-religiöse Beziehung zwischen der Person des Arbeiters und der des Arbeitgebers zurückführbare Erscheinung; sie führt uns an das Thema Arbeit heran, indem sie den Primat der Person des Arbeiters vor dem Kapital verkündet und wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeit als untragbar verurteilt; man überwindet die intransigente Staatsfeindlichkeit und hat den Mut, zur Lösung der sozialen Frage unter bestimmten Bedingungen das Eingreifen des Staates zu fordern.

Bezüglich der Pastoral der Zeit, die sich häufig darauf beschränkte, Eintracht und Duldsamkeit zu predigen, und der Moraltheologie des 19. Jahrhunderts, in deren Kasuistik Fragen der Arbeitsbeziehungen nicht vorkamen, stellte Rerum novarum, wie Wissenschaftler hervorgehoben haben, ein bemerkenswertes Novum dar.

Wir haben schon auf die an sich einfache, aber sehr bedeutsame Tatsache der Einforderung des Rechtes auf die Sonntagsruhe hingewiesen. Verteidigung der kirchlichen Rechte, vielleicht auch eine gewisse Nostalgie nach der jüngsten Vergangenheit, als die Heiligkeit des Sonntags, des Herrentages, vom staatlichen Gesetz bestätigt wurde, oder auch Abneigung gegen diejenigen, die die Ernüchterung ausgelöst haben – all das ist wohl in jenem Abschnitt von Rerum novarum enthalten. Aber da gibt es auch bereits etwas anderes: eine Vorankündigung des Rechtes auf Religionsfreiheit, die Berücksichtigung des menschlichen Bedürfnisses nach Ruhe von der Arbeit, der Gedanke, daß der Arbeiter zuallererst eine menschliche Person ist und daß die erste Bedeutung der Arbeit der arbeitende Mensch ist, wie es später die Enzyklika Laborem exercens formuliert hat.

Wir können als Beispiel auch einen anderen Abschnitt der Enzyklika heranziehen, in dem Leo XIII. die Konfiszierungen kirchlicher Güter und die Aufhebung der religiösen Orden verurteilt. Damit berührt er einen wunden Punkt des Streites zwischen der Kirche und der Moderne in der Folge der Französischen Revolution. Es hat in der Tat unzählige Enteignungsdekrete und Erlässe zur Aufhebung kontemplativer Orden und frommer Werke gegeben.

In der in Rerum novarum erhobenen Anklage finden natürlich diese ideologischen Auseinandersetzungen, der Schmerz über die materiellen und geistlichen Leiden, denen so viele Ordensinstitute ausgesetzt waren, und die Verteidigung der Rechte der Religion einen Widerhall. Aber es gab auch die Forderung nach dem Recht auf Vereinsbildung: davon spricht die Enzyklika gerade in diesem Zusammenhang.

Es tauchte auch die Meinung auf, daß sich der Staat nicht in die intermediären Körperschaften einmischen dürfe, die vom Menschen kraft seiner ihm angeborenen gesellschaftlichen Natur geschaffen wurden. Es geht nicht mehr um Einforderungen erworbener Rechte, um Ansprüche von Parteien, es geht vielmehr um die menschliche Person und ihre Rechte, es geht um die gerechte Organisation des Sozialgefüges, um die richtige Konzeption politischer Macht.

Schließlich denken wir an das Subsidiaritätsprinzip, das zwar in Rerum novarum explizit nicht vorkommt, aber die Hauptaussagen der Enzyklika implizit stärkt, wie dort, wo es heißt, daß die Familie eine kleine, aber wirkliche Gesellschaft und mit einer eigenen Macht ausgestattet sei und daß der Staat nicht das Recht habe, sie ihrer ursprünglichen Autonomie zu berauben.

Diese Aussagen entstehen im Umfeld einer stark akzentuierten katholischen Staatsfeindlichkeit, die sich aus der Polemik im Gefolge der schmachvollen Ereignisse an der »Porta Pia« nähren; so wurden am Ende des 19. Jahrhunderts in den Berichten der Präfekten die »Klerikalen« zusammen mit den Sozialisten zu den »Subversiven « und damit zu den Personen gezählt, die unter besondere Beobachtung der Polizeiorgane zu stellen seien. Zweifellos nähren sich diese Aussagen aber auch und vor allem aus der traditionellen Auffassung von der menschlichen Freiheit, die Leo XIII. in der Enzyklika Libertas darlegen wird; und sie erfahren eine Weiterentwicklung in den Autonomieforderungen, die an die Tatsache gebunden sind, daß »der Mensch den Vorrang vor dem Staat hat«.

Die Liebe zur Kultur und die Kultur der Liebe

Mit dem Eintritt in eine Periode der Stagnation während des Pontifikats Pius’ X. mußte angesichts des Auftretens modernistischer Phänomene der Plan Leos XIII., die Kirche zu einer »christlichen Moderne« zu führen, ins Stocken geraten. Unter dem Pontifikat Pius’ XI. hatte sich das Vorhaben mit den totalitären und imperialistischen Strömungen auseinanderzusetzen. Ganz vehement wieder zutage gefördert wurde Leos Plan hingegen durch Pius XII. nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges angesichts der Notwendigkeit, das menschliche Zusammenleben von Grund auf neu aufzubauen.

Das fand seine Fortsetzung mit Johannes XXIII. in dem Aufbruchs- und Erneuerungsklima im Zusammenhang mit dem Konzil. Und Johannes Paul II. hat sich diesen Plan erneut zu eigen gemacht, bestand doch nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime und dem Ende weltlicher »Heilslehren« mit ideologischem Hintergrund die dringende Notwendigkeit, die menschliche Entwicklung im allgemeinen »ab imis« (von Grund aus) neu zu überdenken. Umstände und Akzentuierungen haben sich geändert, doch an dem Verdienst Leos XIII., eine Tradition, eine fundierte Tradition der Präsenz der Kirche in der Moderne eingeleitet zu haben, besteht kein Zweifel.

Ein solcher Entwurf konnte die Kultur, die Philosophie, die Denkweisen, die Suche nach der Wahrheit ebenso wenig vernachlässigen wie den Aufbau der Gesellschaft. Und in der Tat war es ein weiteres großes Verdienst Leos XIII., alle Sozialenzykliken, die wir uns angesehen haben, Rerum novarum eingeschlossen, in eine viel umfassendere, auch kulturelle Sichtweise hineinzustellen.

Jene Enzykliken wären nämlich ohne ihren Zusammenhang mit der Enzyklika Aeterni patris (1879), die der »Einführung der christlichen Philosophie in Rückwendung zum Denken des hl. Thomas von Aquin in den katholischen Schulen « gewidmet ist, gar nicht verständlich. Meiner Überzeugung nach wollte Leo XIII. damit nicht eine Art Monopolstellung des Thomismus festschreiben. Noch viel weniger dachte er an den oft in sich selbst verschlossenen und in seinen Kategorien strengen Schulthomismus. Ich glaube, der Papst dachte an einen Aufschwung der »christlichen Philosophie« in dem Sinn, den später der Philosoph Etienne Gilson diesem Begriff zuschrieb: ein »Philosophieren im Glauben«.

Ich meine, der Papst hatte einen Aufschwung der Liebe zur Kultur im Dienste der Wahrheit im Sinn, die in der Treue zu einer klassischen philosophischen Tradition, welche sich in der Vergangenheit immer wieder auf einen tiefgründigen Dialog mit dem Christentum eingelassen hat, aufs neue das Denken der Menschen im Einklang mit dem christlichen Glauben lenken könnte. Mit anderen Worten, Leo XIII. dürfte wohl dieselben Absichten gehabt haben wie Johannes Paul II. mit der Abfassung der Enzyklika Fides et ratio.

Wir verweilten in diesem Referat vor allem bei den Sozialenzykliken und im besonderen bei Rerum novarum. Aber es sollte nie vergessen werden, daß die Soziallehre der Kirche, deren moderne Phase Leo XIII. begründet hat, sich vom Denken und vom Tun nährt. Sie entsteht aus der Begegnung zwischen der ewigen Wahrheit des Evangeliums und der geschichtlichen Wirklichkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Eine historische Begegnung, die vom Leben der Kirche in der damaligen Welt ausging, von der Aktivität vieler Christen, Geistlicher und Laien, einzelner und organisierter Gruppen, die schon lange vor der Veröffentlichung der Enzyklika begonnen hatten, sich auf christliche Weise mit den neuen sozialen Fragen auseinanderzusetzen.

Johannes Paul II. spricht von der »Tatkraft von Millionen von Menschen, die angeregt und geleitet vom sozialen Lehramt der Kirche, sich dem Dienst in der Welt zur Verfügung gestellt haben« (Centesimus annus, 3). Aber die Soziallehre der Kirche entsprang auch dem Denken vieler Wissenschaftler, wie zum Beispiel des Italieners Giuseppe Toniolo.

Er kann ganz als eine Persönlichkeit der Zeit Leos XIII. angesehen werden. Als er sich ab 1890 in der Kongreßarbeit engagierte und im Jahr 1905 die Präsidentschaft der »Unione Popolare« übernahm, fühlte er sich angezogen von dem Entwurf einer konkreten sozialen und politischen Liebe, die die katholische Welt zur Zeit Leos XIII. belebte. 1889 entwickelte er die Idee, eine »Katholische Vereinigung für Sozialstudien« einzurichten; 1893 gründete er die »Internationale Zeitschrift für Sozialwissenschaften«; 1899 trug er sich mit dem Gedanken, eine »Italienische katholische Gesellschaft für wissenschaftliche Studien « ins Leben zu rufen. Mit diesen Initiativen bewies er, daß nach seiner Überzeugung die soziale Botschaft des Evangeliums der wissenschaftlichen Forschung nicht fremd sei, sondern danach verlange, ihr in ihrer Autonomie zu begegnen, um sie zu beleben und ihr Orientierung zu geben.

Es kann niemandem entgehen, daß die hier von uns im Zusammenhang mit dem Engagement Toniolos angeführten Daten alle um das Jahr 1891 kreisen, das Jahr der Veröffentlichung der Enzyklika Rerum novarum Leos XIII. Das soziale Lehramt brauchte die wissenschaftliche Forschung, damit das Evangelium der historischen Problemlage, in der die Menschen lebten, begegnen konnte. Gleichzeitig gab das soziale Lehramt der wissenschaftlichen Forschung Orientierung, indem es sie der übernatürlichen Dimension öffnete, von der sie unterschieden, aber nicht getrennt ist.

Die Enzyklika Aeterni patris muß in diesem komplexen und durchgliederten Rahmen einer Kirche angesiedelt werden, die den christlichen Glauben als Ursprung von Kultur und zugleich als Seele des konkreten Handelns im Dienst am Wohl des Menschen, als Liebe zur Kultur und als Kultur der Liebe vorstellen will.

Leo XIII. beschränkte sich nicht darauf, die sozialen Probleme seiner Zeit nach den herkömmlichen kanonistischen Bestimmungen anzugehen. Er gründete die moderne Soziallehre der Kirche. Er fügte sie in einen organischen und komplexen Rahmen christlicher Philosophie und Kultur ein. Er wollte sie mit den Sozialwissenschaften verbinden, deren Studium er unter christlichem Gesichtspunkt förderte. Seinem Verständnis nach war sie im Evangelium und in der Tradition verwurzelt, aber zugleich wach für die Zeichen der Zeit, zu denen er das Auflodern der sozialen Frage zählte.

Er verstand die Soziallehre der Kirche schon damals als Evangelisierung, da er sich bewußt war, sich kraft seines apostolischen Auftrags mit diesen Fragen beschäftigen zu müssen.

 

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