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VORSTELLUNG DES BUCHES VON MARTIN GILBERT
"DIE GERECHTEN, DIE UNBEKANNTEN HELDEN DES HOLOCAUST"
(Verl. Città Nuova)

ANSPRACHE VON KARD. TARCISIO BERTONE

Kapitol, Rom
Mittwoch, 24. Januar 2007

 

Herr Bürgermeister,
Eminenzen und Exzellenzen,
meine Herren Botschafter,
sehr geehrte Damen und Herren!

Wie das Zweite Vatikanische Konzil sagt, ist die Kirche ihrem Wesen nach mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich und in ihrem Innersten solidarisch: »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände« (Gaudium et spes, 1).

Aber die Geschichte der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert ist verflochten mit einer noch nie dagewesenen Tragödie wie der planmäßigen Vernichtung von sechs Millionen Juden. Die Ereignisse zu untersuchen und ihre Verkettung zu erörtern ist Aufgabe der Historiker, die sich bereits seit Jahrzehnten mit den Quellen auseinandersetzen, nach immer neuen Quellen suchen und den Schatz unserer Erkenntnisse bereichern.

Die Tragödie des Krieges und die Schoah haben unsere Zivilisation tief geprägt. Das Erbe der Toleranz und der Demokratie wurde auf eine harte Probe gestellt, aber auch Europa und seine religiösen Werte wurden aufs Spiel gesetzt. An diesem Erbe, an diesen Werten haben sich die Menschen guten Willens stets festgehalten, wenn bereits alles verloren schien. »Mein Gott, … du hast alles getan, daß ich nicht an Dich glaube. Ich sterbe aber gerade so, wie ich gelebt habe, als unbeirrbar an Dich Glaubender«. Der Jude Jossel Rakover, von dem Zvi Kolitz erzählt, wendet sich an den Allmächtigen mit diesen Worten, bevor er beim Aufstand im Warschauer Ghetto den Nazis zum Opfer fällt.

Aus diesen Worten liest man wohl auch die Geschichte der Gerechten heraus, die in dem Buch von Sir Martin Gilbert, das wir heute vorstellen, so analytisch beschrieben wird. Es ist eine Geschichte des Guten oder vielmehr einer Strömung des Guten, die die Menschheit durchzieht, ungeachtet der religiösen Unterschiede. Die Christen, darunter viele Katholiken, aber auch die Muslime nahmen es – zum Preis des eigenen Lebens – auf sich, die Juden vor der Schoah zu retten. Manchmal handelten sie, ohne Angst aufkommen zu lassen, manchmal getrieben vom Schrecken vor einem tragischen Schicksal, manchmal zweifelnd, manchmal unentschlossen. Aber sie handelten und führten auf diese Weise einen friedlichen und stillen Krieg zur Rettung vieler Juden, die der Gefahr ausgesetzt waren, in den Lagern zu sterben. Es war ein Krieg, der nicht ausgerufen, nicht erklärt wurde, ein Krieg ohne Theorien und ohne Rhetorik, und diese »Gerechten« führten ihn manchmal gegen die Konventionen und gegen die Vorurteile ihrer eigenen Umgebung.

In diesem Krieg kam der katholischen Kirche, als Institution verstanden, eine ihr eigene Rolle zu. Diese Rolle war spezifisch und bedeutungsvoll – unter Pius XII., und seinen Weisungen folgend versuchte die Kirche, den Einsatz zugunsten der Kriegsopfer zu koordinieren und vor allem den Gläubigen ein Vorbild zu geben. Es ging nicht nur darum, die Vermißtensuche und die Gefangenenhilfe bürokratisch zu organisieren.

Es war vielmehr eine präzise Haltung gegenüber den verfolgten Juden. Ihnen mußte in jeder nur möglichen Weise geholfen werden. Das ist die Voraussetzung, die dem Wirken des Papstes und seiner Mitarbeiter zugrunde lag, wie aus der bestehenden Dokumentation hervorgeht.

Vor kurzem habe ich Schwester Margherita Marchione empfangen, die mir das Werk »Crociata di carità: L’impegno di Pio XII per i prigionieri della seconda guerra mondiale« (Kreuzzug der Nächstenliebe: der Einsatz Pius’ XII. für die Gefangenen des Zweiten Weltkriegs) überreicht hat. Es ist eine beeindruckende Dokumentation.

Die Geschichte der katholischen »Gerechten« ist also mit dem Wirken Pius’ XII. eng verbunden. Sie ist vor allem eine Geschichte des Verständnisses und des Dialogs in der Liebe, so wie es in den zahlreichen Zeugnissen festgehalten ist, die Gilbert anführt. Es ist eine Geschichte, die Katholiken und Juden gemeinsam bemüht sah (man denke an die Rolle, die Erzbischof Roncalli in Istanbul hatte), eine Geschichte voller Einsatz, voller Hoffnungen und voller Dankbarkeit der Israeliten gegenüber der Kirche und dem Papst. Aber es ist vor allem eine Geschichte, die den immer wiederkehrenden Beschuldigungen in bezug auf eine »Kollaboration« des Papstes und auf einen katholischen Antisemitismus jede Daseinsberechtigung nimmt. Denn unabhängig von den verwerflichen Vorurteilen einiger Gruppen von Christen bleibt die Tatsache bestehen, daß der Antisemitismus schon längst vom Vatikan verurteilt worden war.

Das ist der Hintergrund, auf dem die Geschichte der »Gerechten« sich entfaltet, die noch wertvoller wird durch die Tatsache, daß sie von einem berühmten und angesehenen jüdischen Gelehrten stammt, dessen Werk in Italien von einem katholischen Verlag veröffentlicht wird. Aber die Geschichte, die in diesem Buch von Martin Gilbert zu lesen ist, verdiente es auch aus einem anderen Grund, bekannt zu werden: Sie ist nicht nur die Geschichte jener »Gerechten«, die vor den Augen der Welt zu solchen erklärt wurden, sondern sie ist auch die Geschichte jener vielen »impliziten Gerechten«, die nicht geehrt werden konnten, weil die historische Erinnerung an sie verlorengegangen ist.

Es war Aufgabe des Autors, diese Erinnerung zurückzugewinnen. Er hat sein Vorhaben hervorragend ausgeführt und bietet uns eine Fülle von Kenntnissen, die vor allem den jungen Generationen übermittelt werden müssen, damit diese lernen, die Schoah und den Wert der Erinnerung an das Gute, die mit dieser verbunden ist, nicht zu vergessen.

Ich möchte an dieser Stelle die Gerechten eines aus gegensätzlichen Gründen sehr leidgeprüften Landes erwähnen, und zwar Polens. Nach dem polnischen Historiker Jan Z . aryn, einem Mitglied des Instituts für Nationale Erinnerung, waren an den verschiedenen Formen der Hilfe für die Juden etwa eine Million Polen beteiligt: eine Million Polen, die in jedem Augenblick der Gefahr des sofortigen Todes durch die Hand der deutschen Besatzer ausgesetzt waren (jene Gefahr breitete sich oft auf die ganze Familie der Hilfe gewährenden Person aus). Oft vergißt man, daß Polen das einzige Land war, in dem auf Hilfeleistung gegenüber Juden die Todesstrafe stand. Ein jüdischer Aktivist, Adolf Barman, erinnerte an diese sehr wichtige Tatsache im Verlauf der Konferenz zum Thema der Hilfe gegenüber den Juden während des Weltkriegs, die 1974 in Jerusalem stattfand (siehe »Rescue Attempts during the Holocaust«, Yad Vashem, Jerusalem 1977, S. 453). Daher starben Tausende Polen, um ihren jüdischen Landsleuten zu helfen. Einige von ihnen haben die Medaille der »Gerechten unter den Völkern« erhalten, andere werden als Vorbilder für christliche Tugenden betrachtet, vor allem für die Nächstenliebe. Im August 2003 hat im Bistum Przemysl der Diözesanprozeß für eine ganze Familie begonnen: für Josef Ulma, seine Ehefrau Viktoria, sechs Kinder und ein weiteres ungeborenes Kind (Viktoria war in den letzten Monaten der Schwangerschaft). Sie wurden am 24. März 1944 von den deutschen Gendarmen im Dorf Markowa ermordet, weil sie in ihrem Haus acht Juden versteckt hatten.

Abschließend möchte ich die Ansprache zitieren, die Benedikt XVI. an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der Römischen Kurie beim Weihnachtsempfang hielt und in der er seine Empfindungen während der Apostolischen Reisen, darunter die Reise nach Polen, zusammenfassend zum Ausdruck gebracht hat. Er sagte: »Bei meinen Wegen durch Polen konnte der Besuch in Auschwitz-Birkenau nicht fehlen, an der Stätte der grausamsten Unmenschlichkeit – des Versuchs, das Volk Israel auszulöschen und so auch die Erwählung Gottes zuschanden zu machen, Gott selbst aus der Geschichte zu verbannen. Es war für mich ein großer Trost, als am Himmel ein Regenbogen erschien, während ich in der Gebärde des Ijob zu Gott rief angesichts des Grauens dieser Stätte, im Schrecken über die scheinbare Abwesenheit Gottes und zugleich in der Gewißheit, daß er auch in seinem Schweigen nicht aufhört, bei uns zu sein und zu bleiben. Der Regenbogen war wie eine Antwort: Ja, ich bin da, und die Worte der Verheißung, des Bundes, die ich nach der Sintflut gesprochen habe, gelten auch heute (vgl. Gen 9,12–17)«.

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