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EUCHARISTIEFEIER AM FEST DER KREUZERHÖHUNG
PREDIGT VON KARDINAL TARCISIO BERTONE Krakau - Freitag, 14. September 2007
Verehrte Brüder im Bischofsamt! Werte Autoritäten des öffentlichen Lebens! Liebe Gläubige! »Unterwegs aber verlor das Volk den Mut, es lehnte sich gegen Gott und gegen Mose auf und sagte: Warum habt ihr uns aus Ägypten heraufgeführt? Etwa damit wir in der Wüste sterben? Es gibt weder Brot noch Wasser. Dieser elenden Nahrung sind wir überdrüssig« (Num 21,4–5). Die Wanderung des Volkes Israel durch die Wüste, auf die sich die erste Lesung, die kurz zuvor vorgetragen wurde, bezieht, kann in gewissem Sinn als Metapher für die heutige Situation Europas gesehen werden. Denn auch heute beklagen sich die Bürger über die doch notwendige Modernisierung der Ordnung der sozialen Sicherheit und lehnen sich dagegen auf, sie fürchten die Einwanderung und fragen sich, wie der eigene Wohlstand bewahrt werden kann. Wie die alten Israeliten gehen sie manchmal so weit, sich über Gott zu erzürnen, als ob ER, seine Kirche oder die christlichen Grundsätze für die heutigen Krisen mitverantwortlich wären und nicht vielmehr wesentlicher und unverzichtbarer Teil ihrer Lösung. Die Kirche anzugreifen und sie in Zeitungen, in politischen Diskussionen und im öffentlichen Leben zu verhöhnen, ist nicht selten zum Schlüssel zum medialen Erfolg geworden; in gewissen Situationen scheint es »politisch korrekt« zu sein, antichristliche Vorurteile zu nähren und diese allein als annehmbar darzustellen. Die Anfechtung des christlichen Gutes ist ein Kunstgriff, den man oft benutzt, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den vielschichtigen Problemen abzulenken, die verantwortlicher und mutiger Lösungen bedürften. Wie schon im Volk des Alten Bundes gibt es auch in Europa solche, die Wohlstand erlangen möchten, ohne sich abzumühen, und die eine Freiheit suchen, die von der Wahrheit, vom Gehorsam gegenüber Gott und vom natürlichen Sittengesetz losgelöst ist. Angesichts einer solchen Situation gewinnt die Botschaft des heutigen Festes der Kreuzerhöhung noch mehr an Aktualität und hat uns noch mehr zu sagen. Auch heute ragt das Kreuz Christi über der Erde empor. Gegenüber dem Geheimnis eines Gottes, der sich aus Liebe zu uns am Kreuz geopfert hat, tritt das »Drama« der Menschheit noch klarer zutage. Wieviel Undank, wieviel Bosheit, wieviel Schwäche und Unzuverlässigkeit wohnen im Herzen der Menschen! Gleichzeitig aber bezeugt das Kreuz Christi weiter still die andauernde Liebe Gottes, der mit seiner Macht der Barmherzigkeit und der Vergebung die Anmaßung des Hasses und des Bösen besiegt und uns versichert, daß ER allein fähig ist, uns von unseren Widersprüchlichkeiten zu befreien und von der Knechtschaft der Sünde und des Todes zu erlösen. Diese wichtige Wahrheit des christlichen Glaubens unterstreicht die Stelle des heutigen Evangeliums, in der einige kurze Abschnitte des Gespräches Jesu mit Nikodemus wiedergegeben werden: »Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat« (Joh 3,16). Wenn wir auf den gekreuzigten Christus schauen, d.h. wenn wir an ihn glauben und uns ihm überantworten, »haben wir das ewige Leben«. Das irdische Dasein wird folglich lebenswert und, mehr noch, unsere Pilgerschaft auf dieser Erde bietet uns die Gelegenheit, zur Umgestaltung der Welt, in der wir leben, beizutragen, um sie mehr mit dem ursprünglichen Plan Gottes übereinstimmen zu lassen. Das Christentum steht in der Tat für Entwicklung und Wachstum. Die Geschichte bezeugt, daß Europa das Beste von sich zum Ausdruck zu bringen vermochte und die Zivilisation und den Fortschritt in der ganzen Welt voranbrachte, nur wenn und weil es fest in den dem christlichen Glauben entliehenen Werten verankert blieb, die integrierender Bestandteil seiner Identität sind. Umgekehrt, wenn Europa nicht mehr diesem geistlichen, vom Christentum empfangenen Gut treu bleiben wollte und nicht mehr beabsichtigte, den eigenen Glauben an Gott zu bezeugen, der uns in Christus die Wahrheit und die Liebe geoffenbart hat, dann würde es unerbittlich seine Ungläubigkeit übermitteln, d.h. die Überzeugung, daß Wahrheit und Gerechtigkeit nicht existieren, daß es kein absolutes Gutes gibt, sondern daß alles relativ ist und von den willkürlichen Entscheidungen des Menschen abhängt, der sich zu seinem eigenen Gott erklärt. Auf diese Weise läuft Europa Gefahr, eine bloße »geographische Bezeichnung« zu bleiben, bar jener Ideale, die es ausgezeichnet haben; in diesem Fall würde es sich vielmehr – es ist angebracht, dies deutlich zu sagen – auf den Weg machen, der Kontinent der »Leugnung des Menschen« zu werden. Gestatten Sie mir nun, daß ich das 21. Kapitel des Buches Numeri umschreibe und dabei manche nützliche Betrachtung für uns anfüge, die wir – auch wenn wir in verschiedenen Bereichen tätig sind und mit unterschiedlichen Aufträgen ausgestattet sind – doch an vorderster Front an den »Arbeiten des Bauplatzes Europa« mitarbeiten. Im Bewußtsein, daß die Völker Europas sich wie das Volk Gottes, von dem die Heilige Schrift spricht, von den »Bissen der Schlangen«, das heißt von der Macht der Ideologien und der Logik des Kompromisses bedroht sehen, müssen wir, wenn wir zu ihrer Rettung beitragen wollen, als erste den Blick fest auf Christus am Kreuz gerichtet halten und tatsächlich glauben, daß letztlich in ihm allein das Heil liegt. Denn nur von Christus können die Antworten auf die Herausforderungen und die Erwartungen des gegenwärtigen Augenblicks kommen, die uns erlauben, geeignete Lösungen im Dienst der Zukunft des Kontinents zu erarbeiten. Wir berühren hier ein grundlegendes Thema: Im politischen Leben hat die demokratische Rolle der Mehrheit eine Bedeutung, aber noch notwendiger ist es, die Achtung vor der Gerechtigkeit und der Wahrheit, die ihr Fundament in Gott haben, zu pflegen. Es braucht Menschen, die den Schmeicheleien des Nützlichen und Nächstliegenden widerstehen und nicht in den leichten Pragmatismus fallen, der systematisch den Kompromiß hinsichtlich der wesentlichen menschlichen Werte als unausweichliche Annahme des kleineren Übels rechtfertigt. Es braucht Menschen, die mit allen erlaubten Mitteln versuchen, daß die Mehrheiten mit den Werten der Wahrheit und der Gerechtigkeit übereinstimmen, anstatt sich diesen Mehrheiten anzuschließen, so wie sie sind. Wir wissen wohl, daß dies Mühe, sogar harte Mühe, mit sich bringt, aber wenn die politische Tätigkeit das Kreuz meidet und die Erfordernisse der Wahrheit und der Gerechtigkeit nicht achtet, ist sie kein Dienst mehr an der Gemeinschaft und am Gemeinwohl, sondern sinkt in die Suche der eigenen Interessen oder in die Befriedigung der Erwartungen bloß einiger Sondergruppen ab. Es scheint daher offensichtlich, daß einer, der einen echten Dienst im Bereich der Politik leisten will, am Ende unvermeidlich gegen den Strom schwimmen muß. In diesem Fall wird das politische Handeln eine anspruchsvolle Form der Nächstenliebe und gerade deswegen gerät jeder, der es uneigennützig ausüben will, am Ende mit Logiken der Parteilichkeit und der Eigeninteressen aneinander. Er kann sich daher nicht falsche Hoffnungen machen, das Kreuz, d.h. Unannehmlichkeiten, Hindernisse und Mißerfolge, zu meiden. Der heilige Thomas Morus, ein leuchtendes Beispiel eines gottesfürchtigen und die Wahrheit respektierenden Staatsmannes, gibt uns diesbezüglich ein strahlendes Zeugnis. Wie ich kurz zuvor erwähnt habe, verstehen wir Christen durch das Geheimnis des Kreuzes auch die Wahrheit über den Menschen. Der »Menschensohn«, der am Kreuz hängt, hat unsere Natur selbst angenommen, um uns verstehen zu helfen, was die wahre Liebe mit sich bringt, und um uns die Kraft zu erlangen, dies ins Leben zu übersetzen. Diesen Weg treu zu gehen, ist nicht bloß den Heiligen vorbehalten, sondern ein an einen jeden von uns gerichteter sinnstiftender Vorschlag, weil eben jeder Getaufte berufen ist, heilig zu werden. Es handelt sich gewiß um einen beschwerlichen Weg: Es ist nicht meine Absicht, die Schwierigkeiten zu verniedlichen. Ich weiß, daß der Mensch mit seinen Kräften allein eine solche Mission nicht zu Ende führen könnte. Genau deswegen muß jeder in der Politik und in der Verwaltung des Gemeingutes tätige Gläubige sich durch das Gebet und durch ein eifriges sakramentales Leben geistlich nähren und in seinen Entscheidungen sich beständig auf das Evangelium und auf die Grundsätze der kirchlichen Soziallehre beziehen. In einem Wort, der in der Politik tätige Christ muß sich von Christus inspirieren lassen, der nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen; er muß auf das Kreuz blicken als den eigenen Anker zum Festhalten an der Wahrheit und am Guten. Andernfalls erweist es sich als ein hartes, um nicht zu sagen unmögliches Unterfangen, den christlichen Grundsätzen gegenüber kohärent zu bleiben, während sich die Widersprüche ausbreiten, während die illusorischen Trugbilder funkeln und man von anhaltenden Versuchungen verlockt wird! An dieser Stelle könnten wir uns fragen: Wie viele von uns werden in 30, 40, 50 Jahren leben? Wie viele Mythen werden einstürzen! Weh also der Suche nach einem sofortigen Erfolg, der auf dem Treibsand der schnellen Popularität gegründet wird. Bemühen wir uns vielmehr darum, das Gebäude unserer Existenz nicht auf den Sand des Kurzlebigen und Vorübergehenden, sondern fest auf den Felsen zu setzen, der nicht von zeitlicher Abnutzung ins Wanken gebracht wird. Auf den Felsen von Golgotha, wo das Kreuz Christi emporragt, das Banner des Sieges und Zeichen sicherer Hoffnung. Es ist natürlich, daß die Sprache des Kreuzes hart erscheint und zuweilen Angst macht, aber die Erfahrung der Heiligen bestätigt uns, daß die Umarmung mit dem gekreuzigten Christus Quelle des Lichtes und des Friedens ist. Wenn wir ihn als den Leidenden und Verlassenen betrachten, fühlen wir uns wie von der unendlichen Liebe Gottes umfangen und ermutigt, den Weg einer echten Bekehrung zu gehen. Bedeutungsvoll ist in diesem Sinn eine Betrachtung des Origenes, der bei der Auslegung des Buches Numeri schreibt: »Genau der Eingeborene, der Sohn Gottes, sage ich, hilft. Er verteidigt, er behütet, er zieht uns an sich … Und es genügt ihm nicht, mit uns zu sein, sondern er tut uns in gewissem Sinn Gewalt an, um uns an das Heil zu ziehen; er sagt nämlich an einer anderen Stelle: Wenn ich [über die Erde] erhöht bin, werde ich alle an mich ziehen« (Origenes, Homilien zu Numeri XX, 3). Liebe Brüder und Schwestern, das Kreuz zeigt uns also einen Gott, der die Leiden der Menschen teilt; einen Gott, der uns liebt, der nicht gleichmütig und fern von uns geblieben ist, sondern in unsere Mitte gekommen ist und sich selbst für unsere Erlösung geopfert hat. Wir hängen instinktiv am Leben und wollen es nie verlieren. Christus lehrt uns, daß es nur eine Weise gibt, es nicht zu verlieren: Man rettet das Leben, indem man es hingibt. Denn er sagt: »Wer an seinem Leben hängt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben« (Joh 12,25). »Seht, das Holz unseres Heils«, wiederholt uns die heutige Liturgie. Halten wir uns an diesem heiligen »Holz« fest, um im Meer dieser Welt, die von Gleichgültigkeit, Egoismus, Gewalt, vom Verlust des Sündenbewußtseins und von der Angst vor dem Tod gezeichnet ist, nicht Schiffbruch zu erleiden, und es wird uns in den Hafen des Heils bringen. Schmerzhafte Jungfrau Maria, in der Stunde des Kreuzes bist du die Mutter der Glaubenden geworden, lehre uns, deinem gekreuzigten und auferstandenen Sohn zu folgen; wir wollen uns in unserem Leben von der Logik des Kreuzes führen lassen, um den Glauben in ein kohärentes Zeugnis für das Evangelium in allen Bereichen der Gesellschaft zu übersetzen. Mutter der Kirche, hilf uns, »Sauerteig« und »Same« der Liebe und des Friedens unter unseren Zeitgenossen und insbesondere unter den Leidenden zu sein. Amen! |