ERÖFFNUNG DER STUDIENTAGUNG ANSPRACHE VON KARDINAL TARCISIO BERTONE Aul des Europäischen Institutes der Jagellonen-Universität, Krakau
Herr Kardinal, Ich danke Ihnen, daß Sie mich eingeladen haben, um diese Studientagung zu eröffnen, die sich einem Thema widmet, das nicht nur für die Hauptverantwortlichen des kirchlichen und politischen Lebens, sondern letztendlich für jeden Gläubigen und für alle europäischen Bürger von besonderem Interesse ist. Sehr herzlich grüße ich Herrn Kardinal Stanislaw Dziwisz, den Erzbischof von Krakau, den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Pöttering, Bischof Tadeusz Pieronek, die einsatzbereiten Institutionen und die kirchlichen und zivilen Persönlichkeiten, die sich dafür verwendet haben, diesen siebten Internationalen Kongreß ins Leben zu rufen. Das Thema – »Der religiöse Faktor und die Zukunft Europas« – gibt Ihnen, den Kongreßteilnehmern aus verschiedenen Nationen, Gelegenheit, gemeinsam nachzudenken über die europäische Integration und über den Beitrag, den die christlichen Werte durch das Handeln der Katholiken dazu leisten können. In dem Wunsch, daß Ihre Arbeiten erfolgreich sein mögen, beginne ich meinen Einführungsvortrag mit einem kurzen Überblick über die gegenwärtige soziokulturelle und religiöse Lage in Europa. 1. Der religiöse Faktor im heutigen Europa Tief geprägt von zwei großen historischen Ereignissen – dem Fall der Berliner Mauer im Jahre 1989 und dem Angriff auf die Zwillingstürme in New York im Jahre 2001 – hat der Westen in diesen Jahren in einem kulturellen Klima gelebt, das von einer verbreiteten, wenn auch oft vagen Suche nach dem Heiligen gekennzeichnet war. Dieses Phänomen betrifft besonders Europa, wo die religiöse Dimension der Existenz in eine große Krise gebracht worden war durch die vermassende antireligiöse Propaganda in den Ländern des Ostens und durch die um sich greifende Säkularisierung, die nicht nur die Oberschichten sondern auch die breiten Massen in den Nationen des Westens Europas berührt hat. Hier also hat – wie gesagt – die religiöse Dimension wieder begonnen, immer mehr das Interesse der öffentlichen Meinung zu wecken. Jüngste Statistiken belegen für unseren Kontinent ein Wiedererwachen des Glaubens an Gott und auch des Bekenntnisses der Zugehörigkeit zur christlichen Kultur und der Identifizierung mit ihr – wenn auch unterschieden wird zwischen »believing«, »belonging« und »behaving«, also zwischen Glauben, konfessioneller Zugehörigkeit und ethischem Verhalten. Es sollte sofort gesagt werden, daß einige meinen – in Wirklichkeit handelt es sich dabei um eine Minderheit –, die Religion nehme im öffentlichen Leben zuviel Raum ein. Bei ihnen ruft jeder Hinweis auf die Religion eine Abwehr hervor, die manchmal gewaltsam ist. Jemand hat einmal geschrieben, daß ihre Haltung vergleichbar ist mit der des Stieres, der beim Stierkampf vor dem roten Tuch steht. Der katholischen Kirche Glauben zu schenken, käme für sie einer »Ghettoisierung« in einer überholten und beinahe im Aussterben begriffenen Einrichtung gleich. Dank der großen Resonanz der Massenmedien scheint die Kultur des Säkularismus in Europa vorherrschend zu sein, und einige kämpfen mit allen Mitteln dafür, daß die Religion als reine Privatangelegenheit betrachtet werde, die keinen Einfluß auf das Leben der Gesellschaft besitzt. Bei näherem Hinsehen ist es jedoch durchaus nicht einfach, den geistlichen Bedarf von den Gewissen der Personen und vom gesunden Menschenverstand zu trennen. Darüber hinaus ist der Prozeß der Säkularisierung nicht frei von Hindernissen: Wenn es nämlich wahr ist, daß manche Formen der Entinstitutionalisierung der Religion (believing without belonging) sich in einigen Gebieten Europas ausbreiten, so geschieht andernorts nicht unbedingt dasselbe. Angesichts eines so komplexen Phänomens, das die postmoderne Epoche, in der wir leben, kennzeichnet, darf man sich zu Recht fragen, ob wir dem Ende eines Europa, in dem die christliche Kultur und Spiritualität weit angelegt und tiefgreifend sind, entgegengehen und ob wir uns auf den Triumph des Säkularismus vorbereiten müssen. In diesem Zusammenhang werden Sie auf Ihrem Kongreß auch die Frage untersuchen, was die christlichen Gemeinschaften tun können und in welchem Geist sie handeln sollen. Es stellt sich folgende Frage: »Was sind letztendlich der Inhalt und der ›Mehrwert‹, die die Religion – ich meine damit in erster Linie das Christentum – zum Aufbau des Europa von heute und von morgen beitragen kann?« 2. Die Religion in der jüngsten Geschichte Polens Ich werfe jetzt einen Blick auf eure Nation, die maßgeblich geprägt ist durch den Einfluß des Christentums und durch das Wirken heiliger Männer und Frauen, die ihre Kultur und ihre Entwicklung gestaltet haben. Ich habe nicht die Absicht, die Geschichte des polnischen Volkes darzulegen, auch wenn dies äußerst interessant wäre. Ich möchte mich nur darauf beschränken, liebe Freunde, daran zu erinnern, daß im Laufe der Jahrhunderte Polen seinen Weg unter dem ständigen Schutz der Schwarzen Madonna gegangen ist. Aus ihrer tröstlichen Gegenwart hat es den Mut und die Weisheit geschöpft, die notwendig waren, um schwierige und manchmal sogar dramatische Augenblicke zu überwinden. Der Diener Gottes, der geliebte Papst Johannes Paul II., hat zum Beispiel mehrmals die Brutalität des Nazismus und des Kommunismus hervorgehoben, zweier Formen der gesellschaftlichen Unterdrückung und der Religionsverfolgung, die Sie erfahren haben. Wenn Polen unter diesen beiden totalitären Regimen, die so fern und so verschieden voneinander waren und in gewisser Hinsicht einander dennoch so nahe und so ähnlich, enorm gelitten hat, hat es umgekehrt jedoch die tiefe Erfahrung der unüberwindbaren Kraft des Christentums machen können, die seinem Volk Zusammenhalt gegeben hat und es dem Evangelium treu bleiben ließ. Wer nämlich mit Christus ist, widersteht jedem Angriff. Wer ihn liebt, spürt die Notwendigkeit, den Menschen zu lieben und stets seine Achtung und Würde zu fördern. Er liebt das eigene Volk, dem er sich zugehörig fühlt, und lernt, es zu verteidigen als wäre es seine eigene »Familie«. Ihre Erfahrung bezeugt, daß man nur dann, wenn man dem im Herzen jedes Menschen vorhandenen Streben nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit entgegenkommt, eine wirklich freie und solidarische Nation aufbauen kann – eine Nation, die die menschlichen und geistlichen Werte bewahrt, in deren Inneren Versöhnung und Einheit zwischen allen Menschen herrscht und die offen ist gegenüber den großen Aussichten auf Frieden und ganzheitliche Entwicklung im Dialog mit den anderen Völkern. Wie wichtig ist doch in diesem Zusammenhang das Handeln der Kirche! Hierzu schreibt der Heilige Vater Papst Benedikt XVI. in seiner ersten Enzyklika Deus caritas est: »Die gerechte Gesellschaft kann nicht das Werk der Kirche sein, sondern muß von der Politik geschaffen werden. Aber das Mühen um die Gerechtigkeit durch eine Öffnung von Erkenntnis und Willen für die Erfordernisse des Guten geht sie zutiefst an« (Nr. 28). Es gehört zur Sendung der Kirche, die Gläubigen zu einer inneren Freiheit zu erziehen, die sich jeder Form der Unterdrückung widersetzt; in ihnen eine Liebe zu wecken und zu nähren, die den Haß und die Intoleranz besiegt; sie zu unterweisen, um sie fähig zu machen, ein konsequentes Zeugnis von den menschlichen und geistlichen Werten zu geben, die für jede Person und für jedes Volk grundlegend sind. In Anlehnung an die christlichen Grundsätze, die in Polen sehr stark verankert sind, haben die derzeitigen Verantwortungsträger der Regierung Ihres Landes mit Nachdruck richtig gefordert, daß die Europäische Union keine Angst haben soll, ihr spezifisch christliches Erbe anzuerkennen. Europa besitzt eine unauslöschliche christliche Prägung, auch wenn viele seiner Einwohner, heute mehr als in der Vergangenheit, aufgrund des großen und anhaltenden Phänomens der Immigration anderen Religionen angehören. Auch dies, ich meine damit die gleichzeitige Anwesenheit mehrerer Religionen auf dem alten Kontinent, ist eine Tatsache, der große Beachtung geschenkt werden muß. 3. Die Religion als Schutz der Ethik Ich nehme jetzt die anfangs gestellte Frage wieder auf: Was ist der »Mehrwert«, den das Christentum zum Aufbau eines Volkes, zur Verwirklichung des Europa von heute und von morgen beitragen kann? Deutlich und erhellend ist in diesem Zusammenhang die Lehre der Kirche, wie sie in ihrer Soziallehre dargelegt ist. Indem die Jünger Christi ohne Zweideutigkeiten die grundlegenden Kriterien der Gerechtigkeit bewahren und bekräftigen, bemühen sie sich, diese der Willkür despotischer Herrschaft zu entreißen. Indem sie die Liebe zur Wahrheit und damit zur Freiheit lebendig erhalten sowie den Mut, ihrem Gewissen zu folgen, tragen sie auf qualifizierte Weise dazu bei, daß die Wahrheit nicht untergeht. Sie bemühen sich, in der Gesellschaft und in der öffentlichen Meinung jene Überzeugungen hervorzubringen, die geeignet sind, eine feste Grundlage für die Zivilisation zu bilden, auf der der Rechtsstaat aufgebaut und infolgedessen der Frieden gewährleistet werden kann. Bereits vor einigen Jahren schrieb der damalige Kardinal Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI.: »Wo Gott und die von ihm gesetzte Grundform menschlicher Existenz aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängt und ins Private, bloß Subjektive abgeschoben wird, löst sich der Rechtsbegriff auf und damit das Fundament des Friedens« (J. Ratzinger, Wendezeit für Europa? Diagnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt, Johannes Verlag Einsiedeln, Freiburg 1991, S. 39). Der Staat kann aus sich heraus keine Moral erzeugen: Die Geschichte ist durchzogen mit Dramen, die von Versuchen hervorgerufen wurden, das zu tun, und Gott verhüte, daß sie sich wiederholen mögen! Die Religionen – und an erster Stelle das Christentum – müssen daher dazu beitragen, jenen gemeinsamen und miteinander geteilten Ethos zu schaffen, der für das Leben jeglicher zivilen und politischen Gemeinschaft unverzichtbar ist. Gerade weil die Legalität letztendlich in der Moralität des Menschen verwurzelt ist, ist die wesentliche Voraussetzung für eine Entwicklung des Bewußtseins für die Legalität das Vorhandensein eines lebendigen Bewußtseins für die Ethik als grundlegende und unverzichtbare Dimension des Menschen. Die ethische Auffassung ihrerseits muß, um vollkommen menschlich zu sein, die Botschaft achten, die aus der Natur des Menschen kommt, weil in dieser auch ihr »Sein sollen« eingeschrieben ist. In der Tat ist das Naturrecht gleichzeitig moralisches Gesetz. Wenn es in Übereinstimmung mit dem Naturrecht steht, dann achtet das Handeln des Individuums und der Gemeinschaft die Würde des Menschen und die grundlegenden Rechte der Person. So können all jene Instrumentalisierungen vermieden werden, die den Menschen »erbarmungslos zum Sklaven des Stärkeren machen«, wie Johannes Paul II. im Apostolischen Schreiben Christifideles laici (Nr. 5) schrieb. Und er fuhr fort: »Dieses Stärkere kann verschiedene Namen tragen: Ideologie, wirtschaftliche Macht, unmenschliche politische Systeme, wissenschaftliche Technokratie, Überflutung durch die Massenmedien« (ebd.). Daher kann nur unter Beachtung gewisser Voraussetzungen der Wunsch nach Gerechtigkeit und Frieden, der sich im Herzen jedes Menschen befindet, Erfüllung finden und können die Menschen von »Untertanen« zu wahren »Bürgern« werden. In dieser Hinsicht besitzt folgender Satz des französischen Dichters Charles Péguy immer noch Gültigkeit: »Die Demokratie ist entweder moralisch oder sie ist keine Demokratie«. 4. Der Einsatz der Kirche Die Kirche, die von Christus die Sendung erhalten hat, allen Völkern das Evangelium zu verkünden, bietet ihren Beitrag zur Lösung der vielen Probleme an, denen die menschliche Gemeinschaft gegenübersteht. Sie ist vollkommen davon überzeugt, daß es bei der Gerechtigkeit, der Legalität und der Moralität nicht nur um das Leben der Personen und um ihr friedliches Zusammenleben geht, sondern um die Auffassung vom Menschen selbst. Das meinte Johannes Paul II., als er sagte: »Eine wahre Demokratie ist nur in einem Rechtsstaat und auf der Grundlage einer richtigen Auffassung vom Menschen möglich« (Enzyklika Centesimus annus, 46). In Gesellschaften wie der unseren, in denen der Imperativ des Wandels herrscht – so merkte die belgische Soziologin Danièle Hervieu-Léger an – und in denen keine Tradition mehr als »Sinncode« fungiert, der Individuen und Gruppen auferlegt ist, bietet die Kirche mit ihrer Soziallehre ein System von Bedeutungen, in dem die menschlichen Grundwerte, die Rechte und die Pflichten – auch in ihrer zusammenhängenden historischen Entwicklung (denken wir nur an die Bürgerrechte) – die unverzichtbaren Bezugspunkte sind, um die persönlichen und gesellschaftlichen Verhaltensregeln zu erarbeiten. Eine der Prioritäten im heutigen Europa ist die Notwendigkeit, daß die Kirche, um ein nunmehr berühmtes Wort von Papst Benedikt XVI. aufzugreifen, jene »nicht verhandelbaren Werte« verteidigt und fördert, die mit der Würde des Menschen verbunden sind. Dadurch werden die Gewissen auf die unverzichtbaren Erfordernisse der Wahrheit und somit der Gerechtigkeit hin gebildet. Darauf zielen die häufigen Eingriffe der Kirche zum Schutz des menschlichen Lebens ab, von seiner Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende, und auch die Förderung der auf der unauflöslichen Ehe zwischen einem Mann und einer Frau gründenden Familie. Wie Papst Johannes Paul II. am 3. Oktober 1997 in Rio de Janeiro anläßlich des II. Welttreffens der Familien hervorgehoben hat, findet heute um das Leben und um die Familie der grundlegende Kampf um die Würde des Menschen statt. Die ständigen Verletzungen dieser Werte machen die Sendung der Kirche äußerst aktuell, verbindlich und notwendig. Sie ist oft dazu aufgerufen, eine Stellvertreterfunktion auszuüben gegenüber den öffentlichen Einrichtungen. Es handelt sich hierbei gewiß um eine wesentliche, aber unpopuläre Aufgabe. Die Kirche jedoch sucht nicht den Beifall und die Popularität, da sie sich bewußt ist, daß Christus sie nicht in die Welt sendet, um »sich dienen zu lassen«, sondern »um zu dienen«. Die Kirche will nicht »um jeden Preis gewinnen«. Sie will vielmehr die Gläubigen und alle Menschen guten Willens von den Gefahren, denen der Mensch ausgesetzt ist, wenn er sich von Gott abwendet, »überzeugen« oder sie wenigstens »warnen«. Die Ereignisse des letzten Jahrhunderts und auch diejenigen dieser Monate lassen uns darüber nachdenken, welche Art von Gesellschaft die Menschen aufbauen, wenn sie sich anmaßen, allein und unabhängig von Gott die Glückseligkeit zu erlangen. Wiederholt und sehr häufig wird auf den sogenannten modernen Werten bestanden, den individuellen Rechten und einer Gesamtvision der Gesellschaft, die im Gegensatz steht zu den ethischen, moralischen und geistlichen Grundsätzen, die die tausendjährige Geschichte und Tradition Europas beseelt und es in der Welt zum »Leuchtfeuer der Zivilisation« gemacht haben. Eben um vor der realen Gefahr zu warnen, der Europa heute ausgesetzt ist – dieser besonderen Berufung in der Völkergemeinschaft nicht mehr nachzukommen –, greift die katholische Kirche ein und macht sich zur »Stimme« derjenigen, die nicht den trügerischen Verlockungen des ethischen Relativismus und eines konkreten und materialistischen Atheismus nachgeben wollen, der den Menschen als Schöpfer des eigenen Schicksals betrachtet. Die ständige Bezugnahme in der heutigen Tagespolitik auf die modernen »Rechte« und ihre große Tragweite erklärt die Häufigkeit, mit der die Hirten gezwungen sind, in dieser Sache einzuschreiten. Die Hirten der Kirche greifen also nicht aus »Hobby« oder aus Engstirnigkeit gegenüber der Modernität so oft in immer wieder auftretende moralische Fragen ein, die auf der legislativen Tagesordnung Europas stehen. Sie werden vielmehr getrieben vom Bewußtsein um ihre ernste Pflicht, die Würde und letztendlich das Wohl des Menschen und der Gesellschaft vor Manipulierungen zu schützen, die einfach als Befreiungen dargestellt werden. Wenn sie in diesem Sinne handeln, dann werden die Glieder der Kirche, und vor allem die Hierarchie, sich immer stärker der Bedeutung ihrer Sendung bewußt. Sie führen keine Nachhutgefechte, sondern stehen an der Front; sie führen grundlegende ethische Kämpfe, durch die sie die gläubigen Laien unterstützen, die im sozialen und politischen Bereich engagiert sind. Es handelt sich daher nicht um eine ungebührliche Einmischung der Kirche in einen Bereich, der ihr nicht zusteht, sondern um eine Hilfe, die den Christen gegeben wird, damit in ihnen ein aufrechtes und erhelltes und eben daher freieres und verantwortungsbewußtes Gewissen heranreifen kann. 5. Die politisch engagierten Christen Ich frage mich jetzt, welche konkrete Aufgabe heute in Europa den Christen im Bereich der Politik zukommt. Kann der Christ sich damit zufriedengeben, Ideale zu formulieren und allgemeine Grundsätze aufzustellen, oder muß er in die Geschichte eintreten und sich ihr in ihrer Vielschichtigkeit stellen, indem er nach Möglichkeit die Verwirklichung aller evangeliumsgemäßen und menschlichen Werte in einem einheitlichen und konsequenten Rahmen der Freiheit und der Gerechtigkeit fördert? Es steht außer Zweifel, daß er als Bürger und Angehöriger eines Volkes und einer Nation sich zum »Weggefährten« derer machen muß, die nach Kräften für die Verwirklichung des Gemeinwohls arbeiten. Insbesondere ist jeder gläubige Laie aufgerufen, eigenverantwortlich zum Aufbau der »Stadt der Menschen« mit seinem Fachwissen, mit seinem Zeugnis und mit seiner engagierten Teilnahme beizutragen und so mitzuhelfen, eine angemessene Gesetzgebung zu schaffen und in ihrer treuen Befolgung ein Vorbild zu sein. In der derzeitigen kulturellen Debatte um den Aufbau der Europäischen Union muß man sich deutlich bewußt sein, daß es »Schwellen« des Respekts vor der Würde des Menschen gibt – die Schwellen der bereits erwähnten »nicht verhandelbaren Werte« –, die nicht unterschritten werden können und sollen. Wenn dies geschehen sollte, dann wäre ein politisch engagierter Christ – oder jeder, der die Würde des Menschen in den Mittelpunkt seines politischen und gesellschaftlichen Handelns stellt – dazu angehalten, Maßnahmen, die der Würde des Menschen abträglich sind, nicht zu unterstützen, um diese nicht über die Würde des Menschen selbst zu stellen. In demokratischen Verhältnissen ist es richtig, andere Meinungen zu respektieren; es ist jedoch ein Zeichen der Schwäche und des Gegenzeugnisses gegenüber der Würde der Person, sich Entscheidungen zu eigen zu machen oder zu unterstützen, die mit der menschlichen Natur unvereinbar sind. Europa ist das »Vaterland« der Werte, und es wäre widersinnig, es heute auf das reiche geistliche Erbe verzichten zu sehen, das seine tausendjährige Geschichte geprägt und es fähig gemacht hat, diese Werte herauszubilden. In der Politik muß man häufig den möglichen Weg anstelle des besten Weges wählen; man muß jedoch den Mut haben, nicht jeden Pfad einzuschlagen, nur weil er theoretisch gangbar ist. Der große Papst Johannes Paul II., der mit der Stadt Krakau so sehr verbunden war, bemerkte, daß der Wert der Demokratie mit jenen Werten steht und fällt, die sie verkörpert und fördert, und daß die Grundlage dieser Werte nicht vorläufige und wechselnde »Mehrheits«-meinungen bilden können, sondern nur die Anerkennung eines objektiven Sittengesetzes, das als dem Menschen ins Herz eingeschriebenes »Naturrecht« normgebender Bezugspunkt eben dieses staatlichen Gesetzes ist (vgl. Evangelium vitae, 70). Ich möchte daher die Wertschätzung des Heiligen Stuhls zum Ausdruck bringen für das, was die polnische Regierung – den Massenmedien zufolge – auf dem letzten europäischen Gipfeltreffen erklärt hat, um die eigene öffentliche Moral und seine Gesetzgebung vor möglichen Auslegungen einiger Verfügungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu schützen, die die oben erwähnten nicht verhandelbaren Werte verletzen würden. 6. Multikulturalität und religiöse Pluralität Bevor ich schließe, möchte ich hervorheben, daß der heutige gesellschaftliche Kontext in Europa vom Zusammenleben verschiedener Völker und Kulturen geprägt ist. Dieses Phänomen wird sich vermutlich weiter verstärken. Durch die Globalisierung ist nämlich die Welt zu einem »Dorf« geworden, in dem die Menschen sich immer mehr miteinander vermischen. Dabei darf man nicht vergessen, daß die Begegnung zum Zusammenstoß wird, wenn sie die Grundprinzipien der Identität des Gastgebers in Gefahr bringt, indem sie die ethischen und rechtlichen Grundlagen der Staatsordnung beeinflußt. Die Kultur der Immigranten muß zweifellos Wertschätzung erfahren. Sie darf jedoch gleichzeitig nicht die ortsansässige Bevölkerung zwingen, auf die eigene Identität zu verzichten. Auch in diesem Zusammenhang bietet die Soziallehre der Kirche nützliche Hinweise. Sie lädt nämlich die Gläubigen ein, sich an der Heiligsten Dreifaltigkeit zu orientieren, dem höchsten Geheimnis des Christentums, Geheimnis der Einheit und der Gemeinschaft. Indem sie sich von der dreifaltigen Liebe verwandeln lassen, lernen die Christen, Erbauer einer Gesellschaft zu sein, in der die Unterschiede und das Anderssein nicht zu Trennung und Verwirrung führen, sondern zur Harmonie im gegenseitigen Verständnis und in der Solidarität gelangen. Ich greife noch einmal auf, was ich bereits anmerken konnte, und es ist hilfreich, nochmals zu betonen, daß die Religion nicht in die Privatsphäre verbannt werden kann, sondern vielmehr ihre spezifische und wichtige Rolle innerhalb der Gesellschaft spielen muß. Es lohnt sich hervorzuheben, daß gerade die nichteuropäischen Kulturen, die nunmehr in beachtlichem Ausmaß in Europa vertreten sind, dazu beitragen, die Auffassung von der Religionsfreiheit als Privatangelegenheit, wie sie von einer gewissen säkularisierten Kultur lange Zeit gefördert wurde, zunichte machen. Für den Islam und andere Religionen, die heute auf unserem Kontinent stark vertreten sind, ist die Religion ihrem Wesen nach ein öffentlicher Faktor. Im Übrigen hat jede echte religiöse Tradition den Wunsch, die eigene Identität zu zeigen statt sie zu verstecken oder zu tarnen. Wenn also Europa auf gesunde Weise laikal sein will, dann muß es das Erbe der Spiritualität und des Humanismus jeder Religion annehmen und gleichzeitig das ablehnen, was in ihnen im Gegensatz zur Würde des Menschen stehen sollte. Wie seltsam ist doch die widersprüchliche Haltung, die einige heute einnehmen: Sie fordern die Sichtbarkeit der Symbole und der Glaubenspraxis der Minderheitenreligionen, aber die Symbole und die Glaubenspraxis des Christentums, das die traditionelle Religion der Mehrheit ist, wollen sie abschaffen und verstecken. Nur die echte Religionsfreiheit ist Gewährleistung des Friedens und Voraussetzung für eine solidarische Entwicklung. Nur so kann der gefürchtete Konflikt der Zivilisationen vermieden werden, indem man durch den Dialog der unfruchtbaren Logik des gewaltsamen Zusammenstoßes die Kraft nimmt. 7. Schluß Abschließend möchte ich hervorheben, daß das Christentum in tiefer Übereinstimmung mit einigen der wichtigsten Merkmale des Menschen unserer Zeit steht: Man denke nur an die Bedeutung, die heute den »Wünschen« und der »Freiheit« zugemessen wird. Jesus knüpft wiederholt beim Wunsch nach Sinn und Vollkommenheit sowie beim Verlangen nach Freiheit an, um sein Evangelium darzulegen. Könnte die derzeitige europäische Zivilisation, die von Wünschen, die oft unklar und maßlos sind, und von einer krampfhaften Suche nach Freiheit geprägt ist, nicht gerade in Christus die tiefste und erfüllende Antwort auf ihre Erwartungen finden? Gewiß kann man Europa nicht mit der Christenheit gleichsetzen und auch nicht die Christenheit auf Europa reduzieren, aber es steht außer Zweifel, daß das Christentum nicht nur eine der »Zutaten« des europäischen »Cocktails« ist. Wie könnte dieser Kontinent das Christentum also aufgeben und verlassen wie einen Reisegefährten, der einem fremd geworden ist? Wie könnte Europa die Werte verraten, die vom Christentum geformt wurden, ohne dabei Gefahr zu laufen, in eine dramatische Krise zu geraten, wie sie ein Mensch erlebt, der das, was ihm Leben und Hoffnung gibt, zurückweist? Das Christentum ist nicht in erster Linie eine Verbindung von Wahrheiten, die man glauben, und von Normen, denen man folgen muß: Es ist eine Person, Jesus Christus! Ihm zu begegnen und sein Freund zu werden, macht unsere Identität als Christen aus. Wir fordern, dieses Angebot eines Sinnes, einer vollen Selbstverwirklichung und einer Zivilisation unseren Zeitgenossen in freier und einfacher Weise anbieten zu können. Christus, nur er – das wiederholte Johannes Paul II. sehr gerne – kennt wirklich das Herz des Menschen. Jesus ist der wahre Freund des Menschen, der Erlöser des Menschen! Es ist zu wünschen, daß auch der moderne Mensch ihn erkennen und daraus die angebrachten Konsequenzen ziehen möge, sowohl für sein persönliches Leben als auch für das Leben der Gemeinschaften und der Völker.
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