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KONGRESS DES KRANKENHAUSES "UMBERTO I" ZUM THEMA:

"Die Heilung zwischen Wissenschaft und Gefühl".
40 Jahre Forschung, Strategien, diagnostischen und therapeutischen Entwicklungen.
menschliche, psychologische und geistliche Zeugnisse

BEITRAG VON KARDINAL TARCISIO BERTONE

Aula Magna des Rektorats der Universität "La Sapienza", Rom
Montag, 8. Oktober 2007

 

Herr Kongreßpräsident,
Herr Rektor der Universität »La Sapienza«,
sehr geehrte Obrigkeiten,
verehrte Dozenten und Experten,
meine Damen und Herren!

Nach den freundlichen einleitenden Worten von Herrn Prof. Manuel Castello, Direktor des Fachbereichs für Pädiatrie dieser Universität »La Sapienza« – Rom, schicke ich mich an, zu Beginn Ihres Kongresses hier in der Aula Magna, Schule der Begegnung von hohem wissenschaftlichem Rang, das Wort zu ergreifen. Meine vergangene Erfahrung als Universitätslehrer, Dekan der Fakultät und Rektor der Päpstlichen Universität Salesiana hat mich gewiß an Veranstaltungen dieser Art gewöhnt, aber ich verberge nicht, daß meine Anwesenheit heute bei Ihrer Tagung in mir eine innere Rührung hervorruft, dies sowohl wegen der behandelten Thematik als auch und vor allem deshalb, weil es sich um kranke und leidende Kinder handelt. Ich denke an die Jahre, als ich Direktor des »Istituto Gaslini« in Genua war und ich mit dem Herzen eines Vaters und Bruders den dort behandelten Kindern und ihren Familienangehörigen nahe stand. Heute sind wir alle, Vertreter der Welt der Universität und der Wissenschaft, der Ärzte sowie des Gesundheitspersonals, des politischen und sozialen Bereichs zusammen mit den Familien, den Ordensleuten und den Ehrenamtlichen in dem Ziel vereint, Mittel und Wege zu suchen, um entsprechend der jeweiligen beruflichen Qualifikation und Kompetenz den von Krebs betroffenen Kindern zu Hilfe zu kommen, einer Krankheit, die von nicht wenigen weiterhin als »die Krankheit des Jahrhunderts « bezeichnet wird.

 »Die Heilung zwischen Wissenschaft und Gefühl«: allein die Formulierung des Themas bietet uns sozusagen den einzigartigen »Zuschnitt«, den unsere Überlegung annimmt. Neben der Analyse einer seit vierzig Jahren andauernden Forschung, von erprobten Strategien und diagnostischen sowie therapeutischen Entwicklungen wird es zu einigen Zeugnissen von betroffenen Menschen kommen, die den Beitrag ihrer menschlichen, psychologischen und geistlichen Erfahrung anbieten, was sicherlich von einer großen gefühlsmäßigen Wirkung sein wird. »Maxima debetur puero reverentia«, schreibt Juvenal (vgl. Satiren XIV, 47), dem Kind ist höchste Achtung geschuldet, dies noch mehr, wenn es leidend ist, denn – so Novalis – jedes Kind ist eine sichtbar gewordene Liebe. Und hier durchschreiten wir heute im Geiste vier Jahrzehnte Tätigkeit des Zentrums der pädiatrischen Onkologie. Wie viele Kinder sind in diesen Jahren hier gewesen! Wie viele von ihnen sind der Gewalt des Übels unterlegen und sind nicht mehr unter uns; wie viele hingegen haben dank Gottes Hilfe und der Behandlungen die harte Klippe der Krankheit überwunden und können ihr Zeugnis eines ausgeglichenen Lebens ablegen! Ein Zeugnis, das eine unzweifelhafte Ermutigung für den bildet, der jetzt denselben Leidensweg durchschreitet: Ich denke an die in den verschiedenen pädiatrischen Zentren für Onkologie Roms und überall auf der Erde versorgten Kinder und an ihre Familien, die sie auf diesem nicht leichten Gang durch das Geheimnis des Schmerzes begleiten. Während Ihrer Tagung werden diesbezüglich einige dieser kranken und nunmehr geheilten und wieder in die Gesellschaft eingegliederten »Ex- Kinder« Gehör finden. Es hat mich bewegt, als ich ihre Geschichten las. Ich denke, lieber Prof. Castello, an Angelo, einen Buben, der seinerzeit in ihrer Abteilung behandelt wurde, und mich, als er nach Rom kam, besuchte und euch umarmte. »Ich mußte euch grüßen«, hat er euch gesagt. In diesen Worten liegen die Dankbarkeit und die Freude über die wiedergewonnene Gesundheit, eine Freude, die von dem, der an erster Stelle gekämpft hat, mit dem geteilt wird, der wie Sie – Ärzte, Gesundheitspersonal, Psychologen, Ehrenamtliche, Familienangehörige – in sehr hohem Maß zum Sieg der Gesundheit über die Krankheit, des Lebens über den Tod beigetragen hat.

271 Briefe haben Sie anläßlich dieses Kongresses an die Familien der kleinen Kranken gesandt, die in Ihrer Abteilung behandelt worden sind. Ebenso viele Antworten sind eingegangen, so scheint es mir, die es alle verdienen, gelesen, mehr noch: aufmerksam meditiert zu werden: ihnen wohnt eine positive Botschaft hinsichtlich des Lebens, der Gesellschaft, der ganzen Menschheit inne. Sie vermitteln aufbauende Gefühle, Gefühle der Annahme der Wirklichkeit und des Vertrauens in die Wissenschaft, des Glaubens an Gott, Gefühle der Liebe, die für die Familienangehörigen aufbauend sind, und den Wunsch, sich den anderen zu widmen, sich der Welt zu öffnen und sich nie in sich selbst zu verschließen. Ich würde gerne alle ganz durchgehen; ich beschränke mich jedoch auf einige kurze Andeutungen. Lorella, heute achtzehnjährig, schreibt: »Diese Erfahrung hat mich gelehrt, die Menschen nach dem zu beurteilen, was sie in ihrem Innern sind, und nicht nach dem, was sie scheinen.« Schön auch der Gedanke von Gemma, 18 Jahre alt: »Dieses Leben ist das Leben, das Gott mir hat geben wollen, das Leben, in dem ich mich nie langweilen will.«

In den Briefen kommen immer wieder Ausdrücke vor wie »ich wollte so sehr leben«, »ich spürte die Zuneigung der Ärzte und der Familienangehörigen«, »ich bin ein Mädchen, das Glück hat«, »der Glaube hat mich nie verlassen«, »man muß Glaube und Hoffnung haben«. »Der Krebs«, schreibt Daniela, heute 28 Jahre, »läßt dich mit vier Jahren erwachsen werden, und mit zwanzig macht er offenbar, wir groß das Bedürfnis danach ist, wieder zum Kind zu werden, um jene Kindheit nachzuholen, die ionisierende Bestrahlungen und Cisplatininfusionen zusammen mit deinen kranken Zellen verbrannt haben.« Dann sind da Briefe von Eltern, die zur Hoffnung einladen, wie die Mutter von Nicola schreibt: »Mit diesem Zeugnis will ich mich an alle wenden, die sich in dieser Situation befinden: verliert nicht den Glauben, sowohl mit Hilfe der Medizin als auch mit der des Herrn. Nur Mut: die Sonne wird wieder scheinen.« Und der Vater von Edoardo bekennt: »Uns hat geholfen: nicht den Kopf zu verlieren, hartnäckig nach Antworten zu suchen, kritisch auch die Meinung von Spezialisten abzuwägen. Vor allem hat uns das Engagement der Ärzte, der Chirurgen, des Krankenpersonals eine Stütze gegeben, die nicht an Professionalität und, was ebenso wichtig ist, an tiefer Menschlichkeit gespart haben.

Ich wollte, daß meine Überlegungen mit diesen Zeugnissen beginnen – in Wirklichkeit hätte ich viele andere ebenso interessante und bewegende anführen können –, weil aus jeder Zeile dieser Briefe deutlich hervorgeht, daß die enge Synergie zwischen Ärzten, Familienangehörigen, Sozialarbeitern und Zeugen des Glaubens der Weg ist, der zu oft unerhofften Ergebnissen geführt hat, zu wahren – so könnten wir sagen – »Wundern« der Wissenschaft und der Liebe. Wunder vor allem der Liebe Gottes, der nie seine Kinder verläßt, noch weniger, wenn sie sich in Situationen äußerster Gebrechlichkeit befinden. Und was wäre gebrechlicher und berührender als ein unschuldiges Kind, das von der Krankheit angegriffen wird! Die Erfahrung des Leidens ist ein Trauma, das die Existenz erschüttert; gleichzeitig aber kann sie zu einer tiefen menschlichen Erfahrung werden, die hilft, den Sinn und den Wert des Lebens zu verstehen. Man muß lernen, »in Würde zu leiden«: das ist die Herausforderung, die uns alle angeht.

Gestatten Sie es mir diesbezüglich, daß ich auf einen berühmten Text von Viktor E. Frankl Bezug nehme, der den Titel trägt: »Homo patiens«, zum ersten Mal veröffentlicht in Wien im Jahr 1950. Dieser große Psychiater, der 25 Jahre lang die neurologische Poliklinik von Wien leitete, machte die tragische Erfahrung der nationalsozialistischen Lager und starb am 2. September 1997. Vor zehn Jahren also, und gerade dieser Tage sind auch hier in Rom an der Päpstlichen Universität Salesiana Gedenkveranstaltungen geplant, vor allem auf die Initiative von Don Eugenio Fizzotti, Salesianer wie ich, der Frankls geistliches Erbe gesammelt und viele seiner Werke auf italienisch übersetzt hat. Im Buch, auf das ich mich beziehe, setzt sich Viktor E. Frankl auf zutiefst menschliche und faszinierende Weise mit dem Thema der menschlichen Freiheit in enger Verbindung mit der tragischen, aber dennoch stets im Innersten gelebten Wirklichkeit des Leidens auseinander. »Leiden heißt«, so schreibt er, »leisten und heißt wachsen. Aber es heißt auch reifen. Denn der Mensch, der über sich hinauswächst, reift zu sich selbst heran. Ja, die eigentliche Leistung des Leidens ist nichts anderes als ein Reifungsprozeß. Die Reifung beruht darauf, daß der Mensch zu innerer Freiheit gelangt – trotz äußerer Abhängigkeit «. Und er fügt hinzu: »Extreme Situationen machen also nicht nur, daß der Mensch zu innerer Freiheit gelangt, sondern sie lassen ihn auch die innere Reife erlangen. Solche Situationen werden zu einer Reifeprüfung, zum Experimentum crucis« (Der leidende Mensch, Bern 1984: Homo patiens [Versuch einer Pathodizee], S. 207). Leiden bedeutet für Frankl wachsen, reifen, immer reicher an Menschsein zu werden, denn: »Der Mensch, der (…) leidend zu sich selbst heranreift – er reift der Wahrheit entgegen. Das Leiden hat nicht nur ethische Dignität – es hat auch metaphysische Relevanz. Das Leiden macht den Menschen hellsichtig und die Welt durchsichtig. Das Sein wird transparent hinein in eine metaphysische Dimensionalität« (ebd. S. 208). Und dieser große, vom Glauben an Gott beseelte Gelehrte der menschlichen Psyche merkt an: »Dem biologistischen Menschenbild halten wir ein noologisches entgegen. Dem Homo sapiens setzen wir den Homo patiens entgegen. Dem Imperativ ›sapere aude‹ stellen wir einen anderen entgegen: pati aude – wage es, zu leiden« (ebd., S. 209).

Ich komme nun zum Schluß, und während ich zu Ihnen spreche, sehe ich im Geist jene oft im Fernsehen gezeigten Bilder des geliebten Papstes Johannes Pauls II. wieder, während er in der Poliklinik Gemelli ist. Sein Zimmer befand sich gerade neben der Abteilung für pädiatrische Onkologie, und er reiste nie ab, ohne diese kleinen und wie er von der Erfahrung der Krankheit hart geprüften Patienten zu grüßen. Er, der Papst, Hirt der universalen Kirche und höchste, von der ganzen Welt anerkannte moralische Autorität, vom Schmerz geschwächt, ans Bett gefesselt; in geringer Entfernung die kleinen Unschuldigen, Leben, die sich der Hoffnung öffnen, jäh mit der Absurdität des Leidens konfrontiert. Der eine wie die anderen ernsthaft vom Geheimnis des Todes angesprochen. Leid, Krankheit, Tod: den menschlichen Überlegungen gelingt es nicht, das Geheimnis dieses Geheimnisses zu erfassen. Der Glaube, nur der Glaube an Gott, hilft uns, diesen Schleier zu durchreißen, um nicht so sehr und nicht nur die körperliche Genesung zu suchen, als vielmehr um zu verstehen, was das menschliche Leben wirklich ist, innerhalb dessen auch das Leiden einen Sinn und einen Wert hat.

Mit Sicherheit entsteht aus der persönlichen Erfahrung des Schmerzens, die Johannes Paul II. auf dramatische Weise seit jenem tragischen und von der Vorsehung bestimmten 13. Mai 1981 mit zahlreichen weiteren, jenem ersten folgenden Krankenhausaufenthalten lebte, das Vorhaben, zwei Jahre später das Apostolische Schreiben Salvifici doloris zu veröffentlichen, das den Gläubigen hilft, in den heilbringenden Sinn des Leides einzudringen, indem sie feststellen, daß das Leiden »anscheinend fast untrennbar mit der irdischen Existenz des Menschen verbunden« ist (ebd., 3).

Alle, so erinnert uns der hl. Paulus, sind wir berufen, mit unserem eigenen Leiden das zu vervollständigen, was in uns an den Leiden Christi fehlt, die der Welt Heil bringen. Das Evangelium des Leidens wird so Evangelium der Hoffnung, Evangelium der Liebe. Johannes Paul II. schreibt weiter: »Christus hat zugleich den Menschen gelehrt, durch das Leiden Gutes zu wirken und dem Gutes zu tun, der leidet. In diesem doppelten Aspekt hat er den Sinn des Leidens bis zum letzten enthüllt« (ebd., 30). Dieser Sinn ist gleichzeitig übernatürlich, »weil er im göttlichen Geheimnis der Erlösung der Welt wurzelt, und ist andererseits zutiefst menschlich, weil der Mensch in ihm sich selbst, sein Menschsein, seine Würde, seine Sendung wiederfindet« (ebd., 31). Von Herzen bringe ich den Wunsch zum Ausdruck, daß dieser Kongreß dank erfahrener Beiträge und dank der Zeugnisse, die vorgestellt werden, helfen möge, den Wert der des Leidens zu erfassen und immer mehr dazu antreibe, das menschliche Leben zu lieben, wertvolles Geschenk Gottes, das in jeder seiner Phasen verteidigt, geschützt und gefördert werden muß, vom Anfang bis zu seinem natürlichen Ende.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit und alles Gute für einen vollen Erfolg der Arbeiten Ihres Kongresses.

 

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