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ERÖFFNUNG DES AKADEMISCHEN JAHRES 2009-2010
DER EUROPÄISCHEN UNIVERSITÄT ROM

ANSPRACHE VON KARD. TARCISIO BERTONE,
STAATSSEKRETÄR

Dienstag, 24. November 2009

 

GESCHICHTLICHER ÜBERBLICK ÜBER DIE WIRTSCHAFTSPROBLEMATIKEN IN EUROPA

DIE ENZYKLIKA CARITAS IN VERITATE IM HINBLICK
AUF EINEN NEUEN HUMANISMUS

 

Liebe – Wahrheit – Gerechtigkeit

Die an lehramtlichen und pastoralen Inhalten reiche Enzyklika Caritas in veritate erleuchtet und interpretiert die komplexe wirtschaftliche und soziale Situation des dritten Jahrtausends. Sie stellt den Menschen wieder in den Mittelpunkt eines neuen Humanismus, dessen Werte die Liebe und die Wahrheit sind. Es besteht kein Zweifel, daß gerade diese Begriffe heute Mißtrauen hervorrufen (vor allem der Begriff der Wahrheit) oder Mißverständnissen unterworfen sind (das gilt vor allem für den Begriff der Liebe). Daher muß unbedingt geklärt werden, von welcher Wahrheit und von welcher Liebe in der jüngsten Enzyklika die Rede ist. Der Heilige Vater gibt uns zu verstehen, daß diese beiden grundlegenden Realitäten nicht außerhalb des Menschen angesiedelt sind oder ihm sogar aufgezwungen werden im Namen einer wie auch immer gearteten Ideologie, sondern daß sie tief in der Person selbst verwurzelt sind. »Liebe und Wahrheit«, so schreibt der Heilige Vater, »sind die Berufung, die Gott ins Herz und in den Geist eines jeden Menschen gelegt hat«, (Nr. 1)jenes Menschen, der gemäß der Heiligen Schrift »nach dem Bild und Gleichnis« seines Schöpfers geschaffen ist, des biblischen Gottes, »der zugleich ›Agape‹ und ›Logos‹ ist: Caritas und Wahrheit, Liebe und Wort« (Nr. 3).

In diesem Sinne verbinden sich Liebe und Wahrheit und stehen zueinander spiegelbildlich an der Basis der Soziallehre der Kirche.

Wenn nämlich die Liebe das Prinzip nicht nur der Mikro-, sondern auch der Makro-Beziehungen ist (von der Familie bis hin zu sozialen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen), gibt die Wahrheit den Menschen die Möglichkeit, individuelle Meinungen und Empfindungen herauszukristallisieren, kulturelle und geschichtliche Festlegungen zu überwinden und »in der Beurteilung von Wert und Wesen der Dinge einander zu begegnen«. In diesem Sinne ist der Mensch als Person – deren Verhaltensweisen nicht von einem Subjektivismus geleitet werden, der durch ein hedonistisches Kalkül zum Egoismus tendiert, sondern von einem auf dem Gemeinwohl gründenden Solidarismus inspiriert sind – die trait-d’union zwischen einem konsolidierten Humanismus, der in der Lehre des Thomismus seinen Ursprung hat und im merkantilen Kapitalismus seine Wirtschaftspraxis ausübt, und seiner Erneuerung, die durch den Globalisierungsprozeß und die aktuelle Finanzkrise unabdingbar geworden ist.

Das Gemeinwohl ist – wie Benedikt XVI. schreibt –, »ein Erfordernis von Gerechtigkeit und Liebe«. »Sich für das Gemeinwohl einzusetzen bedeutet« – wie der Papst weiter schreibt – »die Gesamtheit der Institutionen, die das soziale Leben rechtlich, zivil, politisch und kulturell strukturieren, einerseits zu schützen und andererseits sich ihrer zu bedienen«. In der Zeit der Globalisierung »müssen das Gemeinwohl und der Einsatz dafür unweigerlich die Dimensionen der gesamten Menschheitsfamilie, also der Gemeinschaft der Völker und der Nationen annehmen, so daß sie der Stadt des Menschen die Gestalt der Einheit und des Friedens verleihen und sie gewissermaßen zu einer vorausdeutenden Antizipation der grenzenlosen Stadt Gottes machen« (vgl. Nr. 7).

Bedeutungsvoll ist in diesem Sinne das Kapitel von Caritas in veritate über die Zusammenarbeit der Menschheitsfamilie, in dem herausgestellt wird, daß »die Entwicklung der Völker vor allem davon abhängt, sich als eine einzige Familie zu erkennen«, weshalb »ein solches Denken auch zu einer kritischen und beurteilenden Vertiefung der Kategorie der Beziehung verpflichtet«. Weiter heißt es dort: »Das Thema der Entwicklung der Völker fällt mit dem der Einbeziehung aller Personen und Völker in die eine Gemeinschaft der Menschheitsfamilie zusammen, die auf der Basis der Grundwerte der Gerechtigkeit und des Friedens in Solidarität gebildet wird« (Nr. 53–54).

Der erste Humanismus und seine Verflechtung mit den Wirtschaftsstrukturen

Im 14. Jahrhundert, und dann noch verstärkt im 15. Jahrhundert, kam es zu einer weite Kreise ziehenden europäischen Kulturbewegung, die den Menschen wiederentdeckte und ihn in den Mittelpunkt der Welt stellte, das heißt in den Mittelpunkt aller moralischen und spirituellen Interessen. Das ebnete der Moderne den Weg und führte zuerst zum Humanismus und dann zur Renaissance. Der Mensch stand nun also im Mittelpunkt der Welt.

An dieser Stelle soll auch daran erinnert werden, daß sich die Welt an diesem epochalen Übergang kompakt und verbunden zeigte: die Geschäfte florierten von England bis zu den Oasen der Sahara, von Portugal bis nach China. Nie zuvor hatte es ein größeres Wirtschaftsimperium gegeben.

Die Wiederentdeckung des Menschen muß daher korrekterweise vor dem Hintergrund des beachtlichen Aufschwungs angesiedelt werden, den die Wirtschaft ab dem Frühmittelalter bis zum 11. Jahrhundert erlebte. Ein Aufschwung, der nicht nur einen der Wendepunkte in der Geschichte der europäischen Kultur darstellte, sondern – nach der neolithischen und vor der industriellen – die größte Revolution darstellte, die Europa erlebt hat.

Die positiven Auswirkungen des demographischen und technologischen Aufschwungs zeigten sich vor allem in einem weitreichenden Umlauf des Geldes und der Schuldscheine; im Bereich des Handels, vor allem des Seehandels, der ebenfalls eine Renaissance erlebte; wie auch in der Rolle, die den Städten zukam, besonders den beiden Zentren im Süden und Norden Europas, bzw. Venedig und Brügge – und natürlich Genua.

Auf ihrem Weg über den Kontinent kreuzte sich die vom Norden ausgehende Bewegung mit der aus dem Süden. Schauplatz war bekanntlich die Ebene der Champagne, wo die berühmten Jahrmärkte und Warenmessen stattfanden: der von Troyes, Lagny, Provins und Bar-sur-Aube. Märkte, die bis zum Ende des 13. Jahrhunderts jene Funktion erfüllten, die heute die Börse und die Clearing-Houses haben. Wechsel, Kredite, Ratenverkauf: die Finanz florierte.

Nicht umsonst befaßte sich auch Nikolaus von Oresme (1320–1382), Bischof von Lisieux, dem wir einen berühmten Traktat über Geldabwertungen [De Mutatione Monetarum Tractatus] und einen Fürstenspiegel zu verdanken haben, intensiv mit dem Thema des Handels bzw. des merkantilen Kapitalismus. Oresme war der namhafte Zeuge einer neuen, sich entfaltenden Welt, in der die Märkte – und die Geldpolitik – einen festen Platz einnahmen.

Die Revolution des Handels war der Hintergrund, vor dem das christliche Europa jenen Humanismus entwickeln konnte, der den Menschen in den Mittelpunkt der Welt stellte.

Christliche Charismen und Marktwirtschaft

Durch die gesamte Menschheitsgeschichte ziehen sich zivile und wirtschaftliche Erfahrungen, die bei spirituellen Strömungen und Charismen ihren Ausgang genommen haben. So wäre beispielsweise auch Europa – unter einem sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkt – nicht das, was wir heute kennen, wenn es die benediktinische oder franziskanische Bewegung nicht gegeben hätte. Bewegungen, von denen auch grundlegende Erneuerungen für die spätere Marktwirtschaft ausgegangen sind. Die »reduciones« der Jesuiten in Südamerika sind noch heute ein leuchtendes Beispiel für Zivilisation. Die sozialen Charismen vieler Ordensgründer im 18. und 19. Jahrhundert, denen wir Krankenhäuser, Schulen und Wohltätigkeitswerke zu verdanken haben, legten den Grundstein für die Entstehung und Entwicklung des modernen Sozialstaats (»welfare state«). Zwar standen hinter all diesen Erfahrungen ideelle und spirituelle Motive, man kann aber doch sagen, daß sie in gewisser Weise die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Länder unserer Erde begünstigt haben.

In Anbetracht unseres Themas ist es naheliegend, vom Ende des 11. Jahrhunderts auszugehen, als sich der Zisterzienserorden konsolidieren und in ganz Europa verbreiten konnte. Eine wichtige Rolle spielte hierbei Bernhard von Clairvaux, dem wir die Verbreitung der Benediktiner-Abteien zu verdanken haben. Die rasche Entwicklung der Abteien zunächst in Dijon und dann im restlichen Europa ließ schon bald Probleme typisch wirtschaftlicher Natur erwachsen, die Bernhard rasch als neues Phänomen erkannte.

Eines davon hatte mit den Beschränkungen zu tun, die man den Wirtschaftsaktivitäten der Abtei – und folglich dem Abt – auferlegen mußte, wenn man die Gefahr einer unproduktiven Anhäufung von Boden und Reichtümern vermeiden wollte. Die Gefahr dessen, was man sehr viel später als »Unveräußerlichkeit« bezeichnen sollte, hat schon Bernhard erkannt. Ein zweites Problem betraf die Arbeitsorganisation in der Abtei: sollte man eine Autarkie anstreben, gemäß der die Abteien sozusagen »Selbstversorger« sein sollten, oder sollte man eher auf Spezialisierung setzen? In letzterem Fall mußte sich jede Abtei auf gewisse Arbeiten spezialisieren und konnte dann durch Austausch in den Genuß der Produkte kommen, die andere Abteien herstellten. Ein drittes Problem ergab sich zum Teil aus dem vorherigen und betraf die Art der Beziehung, die man zwischen dem Mutterhaus und den »Zweigstellen « wünschte: sollten es Beziehungen der Zusammenarbeit oder des Wettbewerbs sein? Oder, wie man es in der modernen Wirtschaftssprache sagen könnte: sollten die Beziehungen zwischen den Abteien sein wie die zwischen einzelnen Unternehmensgruppen oder ganzen Unternehmensnetzen?

In der Carta Caritatis von 1098, einer authentischen Weiterführung und Aktualisierung der früheren Regula Sancti Benedicti, finden wir einen ersten Lösungsversuch für die oben angesprochenen Probleme. Zwei Prinzipien werden klar und deutlich herausgestellt. Auf der einen Seite wird bekräftigt, daß es nicht recht ist, »Wohlstand dadurch zu erlangen, daß man sich auf Kosten anderer bereichert«. Das bedeutet, daß das Spiel der Wirtschaft ein Positivsummenspiel sein muß, also alle Beteiligten Vorteile daraus ziehen können müssen, wenn auch nicht unbedingt im selben Ausmaß. Die Konzeption, nach der das wirtschaftliche Handeln nicht zu einem Nullsummenspiel werden darf – bei dem also das, was der eine Teil gewinnt, von dem wieder aufgewogen wird, was der andere verliert –, hat vor allem die Folge, daß im Produktionsprozeß ein Überschuß geschaffen werden muß. Nur so können nämlich alle, die an diesem Prozeß beteiligt sind, auch wirklich Vorteile daraus ziehen. Andererseits wird in der Carta der Begriff Almosen mit »beneficentia«, »Gutes tun« ersetzt. Welche praktischen Folgen ergeben sich daraus? Zunächst einmal die, daß im Falle der Wohltätigkeit die Bedürftigkeit dessen, der um Hilfe bittet, überprüft werden muß. Der Wohltäter soll also versuchen, zu verstehen, warum der Arme arm ist. Zweitens darf die Wohltätigkeit den Bedürftigen nicht bequem werden lassen, ihn also nicht daran hindern, aus eigenen Kräften einen Ausweg aus seiner Lage zu suchen, was wir heute mit dem Begriff »Armutsfalle« umschreiben. Anders verhält es sich mit dem Almosen: hier ist die Identität des Bedürftigen dem Wohltäter oft unbekannt.

Es ist wirklich überraschend, wie sehr diese beiden, in der Carta enthaltenen Prinzipien, an einen sehr viel älteren Gedanken erinnern, der sich schon bei Aristoteles findet. In der Nikomachischen Ethik schreibt er: »Nun gehört aber offenbar das Geben auf die Seite des richtigen Handelns und der Vollbringung des Guten. Man muß wissen, wem und wieviel man geben muß, und welcher Zeitpunkt der beste dafür ist. Auf diese Weise erweist man dem anderen den größtmöglichen Dienst« (IV,I).

Erinnerungswürdig ist auch, wie Werk und Denken der Zisterzienser wenige Jahrhunderte später, sozusagen als Nebenfluß, in den großen Strom der franziskanischen Tradition miteinfließen konnten. Jener ersten wahren Schule des Wirtschaftsdenkens, in der die Ideen für die Schaffung der typischen Finanzwerkzeuge einer modernen Marktwirtschaft entstehen sollten: Kreditkarte; Unternehmensbuchführung (man denke nur an den Franziskaner Luca Pacioli, der 1494 der doppelten Buchführung zum Durchbruch verhalf); Wechsel; Handelsgerichte; Börse; und vor allem Leihhäuser.

Diese »Monti di Pietà«, die fast alle von Persönlichkeiten wie Bernhardin von Feltre gegründet wurden und von den Predigten in der Volkssprache (1427) des hl. Bernhardin von Siena inspiriert waren, fungierten sozusagen als Modell für unsere heutigen Banken. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, zu welchem Zweck die »Monti di Pietà« gegründet worden waren: auf der einen Seite wollte man Armen einen Kredit gewähren, damit sie ihre Lage verbessern konnten; auf der anderen sollten Menschen mit Geschäftssinn, die ein unternehmerisches Potential darstellen, unterstützt werden, um einen sozialen Mehrwert zu schaffen, wie man es heute formulieren würde. Von diesen Kriterien war die Aktivität des Finanzsektors, besonders der Banken, zum Zeitpunkt ihres Entstehens geleitet: Ohne eine adäquate, gut funktionierende Finanzstruktur ließ sich der Wucher – die wahre soziale Geißel jener Zeit – nicht wirksam bekämpfen; und ohne besagte Struktur kann man auch keine dauerhafte Entwicklung gewährleisten (vgl. S. Zamagni, L’etica nell’attività finanziaria, discorso alla Fondazione Gabriele Berionne, Dezember 2006; T. Bertone, L’etica del bene comune nella dottrina sociale della Chiesa, LEV 2007).

Diese und andere Erfahrungen lehren uns, daß der Mensch in der langen Zeit der Geschichte gerufen ist, seine irdische Sendung würdevoll und in Freiheit zu erfüllen. Wenn wir auf die humanistischen Wurzeln der modernen europäischen Zivilisation zurückblicken, müssen wir zugeben, daß es wohl kein Zufall ist, wenn der Humanist Giovanni Pico della Mirandola gerade im Florenz des 15. Jahrhunderts, dem Florenz der mächtigen Bankiers- und Kaufmannsfamilien, eine Oratio de hominis dignitate [Rede über die Würde des Menschen] verfaßte. Darin spricht Gott zu Adam, also zum Menschen: »Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener eigenverantwortlicher und ehrenwerter Bildner und Gestalter dich selbst in jener Form entwirfst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigen, zum Tierischen degenerieren, du kannst aber auch durch Entschluß deiner Seele zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden […] Dem Menschen hat bei der Geburt der Vater Samen jedweder Art und Keime zu jeder Form von Leben mitgegeben. Die, die jeder pflegt, werden sich entwickeln und ihre Früchte an ihm tragen«.

Der neue Humanismus und seine Verflechtung mit den Wirtschaftsstrukturen

Wir stehen heute vor einem radikalen, epochalen Übergang, einem neuen Wendepunkt der Zivilisation. Und das betrifft nicht länger allein Europa, sondern die gesamte Menschheitsfamilie. Globalisierung, Liberalisierung, Finanzialisierung, neue Technologien, globale Migration, soziale Unterschiede, Identitätskonflikte, Umweltprobleme sind nur einige der Prozesse, die zeigen, daß die Zivilisation ein immer komplexeres Phänomen zu werden beginnt.

Kann es in diesem Kontext überhaupt einen neuen Humanismus geben? Wir glauben ja, weil die Finanzkrise diese Frage nur noch dringlicher macht, wenngleich die Antwort nun auch artikulierter, ja in einem gewissen Sinne schwieriger sein muß.

Auslöser der Finanzkrise waren nicht nur die anhaltenden strukturellen Ungleichgewichte in der Weltwirtschaft, sondern auch der Umstand, daß man es versäumt hat, der ethischen Dimension der Finanz Rechnung zu tragen. Oder anders gesagt: man hat vergessen, daß ihre wahre Natur eigentlich die eines edlen und positiven Mittels ist, das die Nutzung der erwirtschafteten Ressourcen dorthin lenkt, wo sie der Realwirtschaft zugute kommen, dem Wohlstand und dem Fortschritt aller Menschen.

Werfen wir einen kurzen Blick auf die Faktoren der eklatantesten Krisen, um deren tiefere, wenn auch nicht unmittelbare Ursachen zu verstehen.

Der erste Faktor betrifft den radikalen Wandel in der Beziehung zwischen Finanz, Güterproduktion und Dienstleistung, der sich in den letzten dreißig Jahren vollzogen hat. Seit Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts haben verschiedene westliche Länder ihre Rentenzusagen an Investitionen gekoppelt, die von der nachhaltigen Profitfähigkeit der neuen Finanzmittel abhingen. So wurde die Realwirtschaft den Wechselfällen der Finanz ausgesetzt und die wachsende Notwendigkeit erzeugt, zusätzliche Quoten zur Vergütung der in diese Finanzmittel investierten Ersparnisse zur Verfügung zu stellen. Der Druck auf die Unternehmen von seiten der Börsen und der »Private-Equity-Fonds« hat sich in mehrere Richtungen ausgewirkt: Auf die Manager, die zu einer immer besseren Performance ihres Managements veranlaßt wurden, um immer mehr Aktienoptionen zu erhalten; auf die Verbraucher, die überzeugt werden mußten, immer mehr zu kaufen, auch ohne die nötige Kaufkraft; auf die Wirtschaftsunternehmen, die zu einer Wertsteigerung für die Aktionäre gebracht werden mußten. So hat sich das ständige Drängen auf immer bessere finanzielle Ergebnisse auf das ganze Wirtschaftssystem ausgewirkt und ist schließlich zu einem echten Kulturmodell geworden.

Der zweite Faktor, durch den die Krise verursacht wurde, ist die Verbreitung des Ethos der Effizienz auf der Ebene der populären Kultur als letztes Kriterium zur Beurteilung und Rechtfertigung der wirtschaftlichen Realität (vgl. Ansprache von Kardinal Tarcisio Bertone vor dem Senat der Italienischen Republik, 28. Juli 2009).

Das Mittel ist zum Zweck geworden: Gewiß kein neues Phänomen! Schon Aristoteles hatte eine Erklärung dafür. Sein Gedankengang war folgender: Reichtum ist Teil eines »guten Lebens«, eines der Wahrheit entsprechenden Lebens. Schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich ist es dagegen, das Ziel eines »guten Lebens« zu erreichen, wenn man im Elend lebt. »Gutes Leben« für den einzelnen ist das, was wir »Ethik« nennen; »gutes Leben« für den Staat nennen wir »Politik«.

Das einmal vorausgeschickt, beschreibt Aristoteles die Umkehrung von Mittel und Zweck. Am Anfang bemüht man sich darum, reich zu werden, um ein ziviles Zusammenleben zu ermöglichen, in dem das Leiden, ausgelöst vom Mangel an den zum Überleben notwendigen Mitteln, nicht über die Grenzen hinausgeht, die für Aristoteles »natürlich« sind. Kurzum: Man strebt nach einem »an materiellen Gütern reichen Leben«, um letztendlich ein »gutes Leben« zu haben. Das hat keine »sentimentale« Bedeutung, sondern muß als ein Handeln verstanden werden, das sich an die Ordnung der Welt anpaßt, die uns die Philosophie enthüllt hat.

Dann kehrt sich auf einmal alles um. Man beginnt, reich zu sein, um noch reicher zu werden, und an diesem Punkt beginnt sich eine unbegrenzte Profitgier abzuzeichnen. Wir haben es nun mit der destruktiven Logik des Grenzenlosen zu tun, das keine Grenzen kennt und keinen Sinn hat.

Nicht umsonst sind die Schäden, auch moralischer Art, der derzeitigen Finanzkrise gerade auf die Unhaltbarkeit dieser Verhaltensweisen zurückzuführen, die die Gleichgewichte zerstören, von denen der Zusammenhalt der Gesellschaft und deren Entwicklungsmöglichkeiten abhängen. Diese Unhaltbarkeit ist nicht das Ergebnis einer Erkrankung des Systems, sondern zeigt vielmehr, daß ihre Logik bis zum äußersten getrieben wurde. Die Logik des Kapitalismus ist die der Akkumulation, die von Natur aus unbegrenzt, um nicht zu sagen (und das wäre korrekter) grenzenlos ist. Und gerade diese Logik der Grenzenlosigkeit ist die Wurzel der Finanzkrisen.

Kann man dieser törichten Logik vom Grenzenlosen eine Ethik der Grenzen entgegenhalten? Läßt sich die vermeintliche »Kreativität« der Finanzaktivitäten eindämmen? Kann man die spekulativen Geldbewegungen verringern? Können politische Maßnahmen ergriffen werden, die Arbeit und Produktivität wieder ins richtige Verhältnis setzen? Lassen sich dem hemmungslosen Streben nach Managergehältern moralische Zügel anlegen?

All diese Fragen zeigen, wie dringend hier ein Ausweg (»exit strategy«) gefunden, vor allem aber ein »moral reentry« stattfinden muß: eine Rückkehr zur Moral. Und das bedeutet vor allem Verantwortung der Person – mehr noch als die Verantwortung der Regierungen – den anderen und deren Würde gegenüber.

Dieselbe Überlegung – also die zur Umkehrung von Mittel und Zweck – kann auch für die Debatte über die durchaus vertretbare Möglichkeit gelten, neue Regeln für die Finanzaktivität einzuführen. Eine Debatte, die man oft führt, ohne das Verhalten derer in Frage zu stellen, die sie regeln und kontrollieren. Regeln und Kontrollen sind nämlich kein Selbstzweck, und es geht folglich auch nicht darum, nur deren bloße Existenz zu sichern. Diese Mittel liegen in der Hand des Menschen. Und die Mittel können, wie Benedikt XVI. in Caritas in veritate im Zusammenhang mit dem Markt meinte, zwar gut oder schadenbringend sein: die Verantwortung des Menschen ist es aber, sie in den Dienst der Gerechtigkeit zu stellen.

Einem neuen Humanismus entgegen

Die Enzyklika Caritas in veritate zeigt uns, wie wichtig es ist, daß sich der Mensch zum Verbündeten seines Mitmenschen macht, sein Schicksal und seine Geschichte mit ihm teilt. Verbündet mit dem Menschen und mit der Erde, im Rahmen seiner Horizonte und im Rahmen eines Humanismus, der gerufen ist, sich den Anforderungen der Zukunft zu stellen.

Wenn die Globalisierung die Neubildung der Wirtschaftssysteme durch die Bekräftigung und Verbreitung der Theorie und Praxis des Marktes ist – jener Theorie, die die geowirtschaftliche Zusammensetzung der globalen Wirtschaftssysteme durch die Wechselbeziehungen zwischen dem Einzelnen, der Gesellschaft, den Institutionen und den Staaten verändert hat –, dann ist es notwendig, daß die Staaten dort einschreiten, wo die Entartung des Marktes am deutlichsten zutage tritt. Dort nämlich, wo im Rahmen eines neuen Wirtschaftsdenkens periphere geographische Zonen, sozial schwache Klassen und wenig wettbewerbsfähige Wirtschaftsbranchen ausgegrenzt werden.

Das bedeutet, daß man weitergehen bzw. mit neuen Paradigmen die Theorie vom Markt und die traditionelle Unternehmenstheorie in der globalisierten Wirtschaft ausweiten muß. Sie muß immer mehr auf die Ethik und weniger auf den Profit ausgerichtet sein. Mit anderen Worten: Es geht darum, die empirische Evidenz der Globalisierung an neue Regeln anzupassen, die der Mensch für den Menschen gemacht hat, für seine Werte, für die moralische und materielle Verbesserung der gesamten Gemeinschaft.

Caritas in veritate weist uns nachdrücklich darauf hin, daß »in diesen letzten Jahrzehnten ein großer Zwischenbereich zwischen den beiden Unternehmenstypologien entstanden ist [gewinnorientierten (»profit«) Unternehmen und nicht gewinnorientierten (»non profit«) Organisationen]. Er besteht aus traditionellen Unternehmen, die allerdings Hilfsabkommen für rückständige Länder unterzeichneten; aus Unternehmensgruppen, die Ziele mit sozialem Nutzen verfolgen; aus der bunten Welt der Vertreter der sogenannten öffentlichen und Gemeinschaftswirtschaft. Es handelt sich nicht nur um einen ›dritten Sektor‹, sondern um eine neue umfangreiche zusammengesetzte Wirklichkeit, die das Private und das Öffentliche einbezieht und den Gewinn nicht ausschließt, ihn aber als Mittel für die Verwirklichung humaner und sozialer Ziele betrachtet« (Nr. 46).

Fragen wir uns noch einmal: Ist ein neuer Humanismus heute möglich: ein Humanismus, der den Menschen, seine Würde und seine Verantwortung wieder in den Mittelpunkt stellt?

Richter Giuseppe Anzani, Mitglied der Kommission Gerechtigkeit und Frieden der italienischen Bischofskonferenz, schrieb 1998, zwei Jahre vor dem Ende des zweiten Jahrtausends, für die Zeitung Avvenire folgende hoffnungsvolle Analyse: »Richten wir den Blick auf den rein menschlichen Horizont. Auf den Humanismus dieses ausklingenden Jahrhunderts. Versuchen wir, ihn als eine Art Glauben an den Menschen zu verstehen, an die an seinem Anbruch so vielgelobten ›herrlichen Schicksale‹, an den Enthusiasmus über die verheißenen Revolutionen. Blicken wir auf seine Siege und seine Niederlagen zurück. Blicken wir auf den Menschen, Herr über die Erde, über das Atom, über die kosmischen Lebensräume, der inzwischen – wie wir gesehen haben – in der Lage ist, die Erde zu zerstören, den Himmel mit den Garnisonen des Kriegs der Sterne zu brandmarken, die Dörfer der Menschen mit ›befreienden‹ Ideologien moderner Sklaverei zu revolutionieren. Lassen wir dieses Jahrhundert der extremen Modernität Revue passieren, mit all seinen Holocausts und seinen Gemetzeln. Betrachten wir das, was wissenschaftlich und was verschwommen ist: von der unaufhaltsam voranschreitenden Technologie bis zur eingestandenen Verwirrung der Gedanken. Von den Intuitionen der Gerechtigkeit [siehe Allgemeine Erklärung der Menschenrechte] zu den Widersprüchen, bei denen Luxus und Misere, Überschuß und Verzweiflung dicht nebeneinander liegen. Denken wir an das plötzliche Aufkommen des Umweltdenkens angesichts der Desertifikation und der Entwaldung. Oder einfach nur an die zur Normalität gewordene Zerstörung des menschlichen, materiellen und spirituellen Ambientes: an das, was die tragische Diskrepanz zwischen Vorsätzen und Resultaten übriggelassen hat.

Ein besiegter Humanismus? Nein, sagt der Papst weitblickend [und bezieht sich dabei auf Johannes Paul II., in vollkommener Kontinuität gilt das aber auch für Benedikt XVI.] und macht uns Mut. Ein unverbesserlicher Optimist? Wer weiß, warum es zum Fall der Berliner Mauer gekommen ist! Wer weiß, warum die Hoffnung immer in den Zwischenräumen der Geschichte erblüht! Optimismus ist ein armseliges Wort, Hoffnung eine theologale Tugend …« (aus Avvenire, Donnerstag, 19. November 1998).

Abschließend möchte ich einen Text vorlesen, der Giovanni Battista Montini, dem späteren Papst Paul VI., zugeschrieben wird und sich gut in diese Rede einfügt: »Ebenso wie die Kirche zur Zeit der heidnischen hellenistisch-römischen Kultur all jenes, was es darin an Götzendienerischem und Unmenschlichem gab, entschieden ablehnte, die Schätze der Kultur und der klassischen Kunst aber bewahrte, reinigte und assimilierte; ebenso wie sich die Kirche zur Zeit des Feudalismus entschieden gegen alles stellte, was an jenem historischen Ausdruck der neuen Völker barbarisch und grausam war, die Kräfte des mittelalterlichen Menschen aber annahm, korrigierte und adelte; ebenso wie die Kirche zur Zeit der Renaissance den Taumel des aufkommenden heidnischen Humanismus eindämmte, sich die künstlerischen Tugenden jener Zeit aber zueigen machte und ihnen zu nie gekannter Größe verhalf; so wird die Kirche auch weiter jede Art von Materialismus anprangern, vor allem den unserer Zeit. Die immense und herrliche Kultur der Wissenschaft, der Industrie, der Technik, des international gewordenen Lebens unserer Zeit wird sie aber nicht verdammen, sondern sie wird vielmehr versuchen, sie ›anzunehmen‹, das heißt ihr an der Basis jene starken und guten Prinzipien zu geben, die sie noch nicht hat, und ihr an der Spitze Horizonte der spirituellen Wahrheit, des Gebets und der Erlösung zu eröffnen, die nur die Kirche allein wirklich geben kann.

Die Kirche wird versuchen, heute das zu vollbringen, was sie seit Jahrhunderten vollbringt: den Menschen Frieden und Brüderlichkeit zu schenken, damit sie in Christus Kinder Gottes werden. Sie wird versuchen, der Welt eine christliche Seele zu geben, wie sie es immer getan hat.«

 

 

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