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ANSPRACHE VON BENEDIKT XVI.
AN DEN GERICHTSHOF DER RÖMISCHEN ROTA
ANLÄSSLICH DER ERÖFFNUNG DES GERICHTSJAHRES

Samstag, 26. Januar 2008

 

 

Liebe Richter, Offiziale und Mitarbeiter
des Gerichtshofes der Römischen Rota!

An den hundertsten Jahrestag der vom hl. Pius X. im Jahr 1908 mit der Apostolischen Konstitution Sapienti consilio angeordneten Wiederherstellung des Apostolischen Gerichtes der Römischen Rota, hat euer Dekan, Bischof Antoni Stankiewicz, soeben mit seinen freundlichen Worten erinnert. Dieser Umstand erhöht meine Gefühle der Wertschätzung und Dankbarkeit, mit denen ich euch nun schon zum dritten Mal begegne. An alle und an jeden einzelnen von euch ergeht mein herzlicher Gruß. In euch, liebe Richter, sowie in allen die auf verschiedene Weise an der Tätigkeit dieses Gerichtes teilhaben, sehe ich eine Institution des Apostolischen Stuhls verkörpert, deren Verwurzelung in der kanonischen Tradition sich als Quelle steter Lebendigkeit erweist. Es ist eure Aufgabe, diese Tradition in der Überzeugung, einen allzeit aktuellen Dienst an der Rechtspflege in der Kirche zu leisten, lebendig zu erhalten.

Dieses hundertjährige Gedenken stellt eine günstige Gelegenheit dar, um über einen grundlegenden Aspekt der Tätigkeit der Rota, nämlich über den Wert der Rechtsprechung der Rota im Bereich der kirchlichen Rechtspflege, nachzudenken. Diesen Aspekt hat bereits die Apostolische Konstitution Pastor bonus in der Beschreibung der Rota hervorgehoben: »Dieses Gericht, das gewöhnlich als höhere Instanz im Fall der Berufung an den Apostolischen Stuhl tätig wird, um die Rechte der Kirche zu schützen, sorgt für die Einheitlichkeit der Rechtsprechung und hilft durch die eigenen Urteile den untergeordneten Gerichten« (Art. 126). Meine geliebten Vorgänger sprachen oft in ihren jährlichen Ansprachen mit Wertschätzung und Vertrauen von der Rechtsprechung der Römischen Rota, sowohl im allgemeinen als auch in bezug auf konkrete, besonders die Ehe betreffende Argumente.

Wenn es richtig und angebracht ist, an die von der Rota über viele Jahrhunderte, besonders in den letzten hundert Jahren, ausgeübte Gerichtsbarkeit zu erinnern, so ist es ebenso angemessen, anläßlich dieses hundertjährigen Gedenkens, zu versuchen, den Sinn einer solchen Tätigkeit zu vertiefen, von der die jährlichen Bände der Decisiones ein Zeugnis ablegen und zugleich eine wertvolle Arbeitshilfe darstellen. Im besondern ist die Frage berechtigt, warum die Rotaurteile eine rechtliche Bedeutung haben, die den unmittelbaren Bereich der Verfahren, in denen sie erlassen werden, überschreitet. Abgesehen vom formalen Wert, den jede Rechtsordnung den gerichtlichen Präzedenzfällen zuweisen kann, ist es unbezweifelbar, daß die einzelnen »Decisiones« in gewisser Weise für die gesamte Gesellschaft von Interesse sind. In der Tat bestimmen sie das, was alle von den Gerichten erwarten können, was gewiß auf den Verlauf des sozialen Lebens Einfluß nimmt. Jede Gerichtsordnung muß danach streben, Lösungen anzubieten, in denen zusammen mit der Entscheidung der einzelnen Fälle in ihrer unwiederholbaren Konkretheit, dieselben Prinzipien und allgemeinen Rechtsnormen angewandt werden. Nur auf diese Weise wird ein Klima des Vertrauens in die Tätigkeit der Gerichte geschaffen und die Willkürlichkeit subjektiver Kriterien vermieden. Darüber hinaus besteht im Inneren einer jeden Gerichtsorganisation eine Hierarchie unter den verschiedenen Gerichten, so daß die Möglichkeit, an höhere Gerichte zu appellieren, bereits ein Mittel zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung darstellt.

Die soeben gemachten Überlegungen sind ohne weiteres auch auf die kirchlichen Gerichte anwendbar. Mehr noch, weil die kanonischen Prozesse die rechtlichen Aspekte der Heilsgüter oder anderer zeitlicher, der Sendung der Kirche dienender Güter betreffen, werden das Erfordernis der Einheit in den wesentlichen Kriterien der Rechtspflege und die Notwendigkeit, den Sinn der gerichtlichen Entscheidungen vernünftigerweise vorhersehen zu können, zu einem öffentlichen kirchlichen Gut von besonderer Bedeutung für das gesamte Leben des Volkes Gottes und sein institutionelles Zeugnis in der Welt. Außer dem intrinsischen Wert der Plausibilität, die dem Wirken eines Gerichtes innewohnt, das die Rechtssachen gewöhnlich in letzter Instanz entscheidet, ist es klar, daß der Wert der Rechtsprechung der Römischen Rota davon abhängt, daß sie die höchste Instanz im Appellationsverfahren beim Heiligen Stuhl darstellt. Die gesetzlichen Bestimmungen, die einen solchen Wert anerkennen (vgl. Can. 19 CIC; Ap. Konst. Pastor bonus, Art. 126), schaffen diesen Wert nicht, sondern stellen ihn lediglich fest. Er entspringt letztlich der Notwendigkeit, die Rechtspflege nach gleichen Grundsätzen in all dem, was eben in sich wesentlich gleich ist, auszuüben.

Folglich ist der Wert der Rechtsprechung der Rota keine faktische Frage soziologischer Art, sondern rein rechtlicher Natur, insofern sie sich in den Dienst der substantiellen Rechtspflege stellt. Daher wäre es unangebracht, eine Gegensätzlichkeit zwischen der Rechtsprechung der Rota und den Entscheidungen der Lokalgerichte zu sehen, die dazu berufen sind, eine unverzichtbare Funktion dadurch zu erfüllen, daß sie die Rechtspflege unmittelbar zugänglich machen und die Fälle in ihrer manchmal an die Kultur und Mentalität der Völker gebundenen Konkretheit untersuchen und lösen. Jedenfalls müssen alle Urteile immer auf den Prinzipien und den allgemeinen Normen der Justiz gegründet sein. Ein solches Bedürfnis, das jeder Rechtsordnung anhaftet, nimmt in der Kirche im Hinblick auf die Erfordernisse der Gemeinschaft, eine besondere Bedeutung an, die den Schutz dessen einbezieht, was der Gesamtkirche gemein ist und in besonderer Weise der Höchsten Autorität und den Organen anvertraut ist, die »ad normam iuris« an ihrer »potestas sacra« teilhaben.

Im Bereich der Ehe hat die Rechtsprechung der Rota in diesen hundert Jahren eine beträchtliche Arbeit geleistet. Im einzelnen hat sie wichtige Beiträge geliefert, die in die geltende Gesetzgebung eingemündet sind. Somit kann nicht angenommen werden, daß die Bedeutung der rechtsprechenden Interpretation des Rechtes durch die Rota abgenommen hat. In der Tat erfordert gerade die Anwendung des geltenden kanonischen Rechts, daß dessen wahrer Sinn der Gerechtigkeit wahrgenommen wird, der vor allem an das Wesen selbst der Ehe gebunden ist. Die Römische Rota ist ständig dazu berufen, eine schwierige Aufgabe zu erfüllen, die auf die Arbeit aller Gerichte einen großen Einfluß hat: die mehr oder minder vorhandene Existenz der ehelichen Wirklichkeit zu erfassen, die ihrem innersten Wesen nach anthropologisch, theologisch und juridisch ist. Um die Rolle der Rechtsprechung besser zu verstehen, möchte ich darauf bestehen, was ich euch im letzten Jahr über die der Ehe innewohnende rechtliche Dimension gesagt habe (vgl. Ansprache vom 27. Januar 2007, in: AAS 99 [2007], S. 86–91). Das Recht darf nicht auf eine reine Ansammlung von positiven Normen reduziert werden, die die Gerichte anzuwenden haben. Die einzige Weise, um die rechtsprechende Arbeit sicher zu gründen, besteht darin, sie als echte Ausübung der »prudentia iuris« aufzufassen, einer Kenntnis, die alles andere als Willkür oder Relativismus ist, weil sie es gestattet, in den Ereignissen das Vorhandensein oder die Abwesenheit des speziellen Bezugs zur Gerechtigkeit zu lesen, den die Ehe in ihrer menschlichen und erlösenden Wirklichkeit darstellt. Nur auf diese Weise erlangen die rechtsprechenden Maximen ihren wahren Wert und werden nicht zu einer Ansammlung von abstrakten und wiederholbaren Regeln, die der Gefahr subjektiver und willkürlicher Interpretationen ausgesetzt sind.

Deshalb stellt die objektive, im Licht des Lehramtes und des kirchlichen Rechtes erfolgte Bewertung der Tatsachen einen äußerst wichtigen Aspekt der Tätigkeit der Römischen Rota dar und übt einen großen Einfluß auf die Arbeit der Rechtspfleger in den lokalen Gerichten aus. Die Rechtsprechung der Rota ist als beispielhaftes Werk juridischer Weisheit anzusehen, das mit der Autorität des Gerichtes vollbracht wird, das der Nachfolger Petri dauernd zum Wohl der Gesamtkirche errichtet hat. Dank dieses Werkes wird in den Ehenichtigkeitsverfahren der konkrete Sachverhalt objektiv im Licht jener Kriterien beurteilt, die beständig die Wirklichkeit der unauflöslichen Ehe bekräftigen, die jedem Mann und jeder Frau entsprechend dem Plan Gottes, des Schöpfers und Heilands, offen steht. Dies erfordert eine ständige Anstrengung, um jene Einheit der Kriterien der Gerechtigkeit zu erreichen, die wesentlich den Begriff der Rechtsprechung ausmacht und die grundlegende Voraussetzung für ihre Tätigkeit bildet. In der Kirche besteht gerade aufgrund ihrer Universalität und der Unterschiedlichkeit der rechtlichen Kulturen, in denen zu wirken sie berufen ist, die Gefahr, daß sich »sensim sine sensu« »lokale Rechtsprechungen« bilden, die sich immer mehr von der gemeinsamen Interpretation der positiven Gesetze und sogar von der Lehre der Kirche über die Ehe entfernen. Ich wünsche, daß angemessene Mittel gefunden werden, um die Rechtsprechung der Rota auf immer offensichtlichere Weise einheitlich zu gestalten und tatsächlich allen Rechtspflegern zugänglich zu machen, so daß sie in allen kirchlichen Gerichten eine gleichförmige Anwendung findet.

In dieser realistischen Sichtweise ist auch der Wert der Interventionen des kirchlichen Lehramtes zu Fragen des kirchlichen Eherechtes zu verstehen, einschließlich der Ansprachen des Papstes an die Römische Rota. Diese stellen geradezu eine Richtschnur für die Tätigkeit aller kirchlichen Gerichte dar, insofern sie mit Autorität all das lehren, was zum Wesen der Ehe gehört. Mein verehrter Vorgänger Johannes Paul II. warnte in seiner letzten Ansprache an die Rota vor dem positivistischen Verständnis des Rechtes, das dazu neigt, die Gesetze und die in der Rechtsprechung geltenden Richtlinien von der Lehre der Kirche zu trennen. Er sagte: »In Wirklichkeit hat die authentische Auslegung des Wortes Gottes, die vom Lehramt der Kirche vorgenommen wird, rechtliche Bedeutung in dem Maß, in dem sie den Rechtsbereich betrifft, und sie benötigt keinen weiteren formellen Übergang, um rechtlich und moralisch bindend zu werden. Für eine gesunde rechtliche Hermeneutik ist es zudem unerläßlich, die Gesamtheit der Weisungen der Kirche zu erfassen und jede Aussage organisch in die Tradition einzubinden. Auf diese Weise werden selektive und verzerrte Auslegungen sowie unfruchtbare Kritiken an einzelnen Passagen vermieden« (AAS 97 [2005], S. 166, Nr. 6).

Das jetzige hundertjährige Jubiläum ist dazu bestimmt, über eine formale Gedenkfeier hinauszugehen. Es gibt Anlaß zu einer Überlegung, die euren Einsatz stärken und ihn mit einem immer tieferen kirchlichen Sinn der Gerichtsbarkeit beleben soll, der wahrer Dienst an der heilbringenden Gemeinschaft ist. Ich ermutige euch, täglich für die Römische Rota und alle jene zu beten, die im Bereich der kirchlichen Rechtspflege tätig sind sowie um die mütterliche Fürsprache der seligen Jungfrau Maria, »Speculum iustitiae«, zu bitten. Diese Aufforderung könnte als nur zur Frömmigkeit gehörig und in bezug auf euer Amt eher als außenstehend angesehen werden: wir dürfen hingegen nicht vergessen, daß in der Kirche alles durch die Kraft des Gebets verwirklicht wird, das unser ganzes Dasein verwandelt und uns mit der von Jesus verheißenen Hoffnung erfüllt. Dieses Gebet, das vom alltäglichen ernsthaften und kompetenten Einsatz nicht zu trennen ist, wird Licht und Kraft, Treue und echte Erneuerung in das Leben dieser ehrwürdigen Institution bringen, durch die der Bischof von Rom »ad normam iuris« seine primatiale Sorge für die Rechtspflege im ganzen Volk Gottes ausübt. Mein heutiger Segen möchte daher voll Zuneigung und Dankbarkeit sowohl euch, die ihr anwesend seid, als auch alle jene umfassen, die der Kirche und den Gläubigen auf der ganzen Welt in diesem Bereich dienen.

 



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