JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 3. Dezember 2003
Lesung: Psalm 114,1–4.7–8
1 Ein Lobpreis auf die Befreiung Israels Als Israel aus Ägypten auszog, Jakobs Haus aus dem Volk mit fremder Sprache,
2 da wurde Juda Gottes Heiligtum, Israel das Gebiet seiner Herrschaft.
3 Das Meer sah es und floh, der Jordan wich zurück.
4 Die Berge hüpften wie Widder, die Hügel wie junge Lämmer.
5 Was ist mit dir, Meer, daß du fliehst, und mit dir, Jordan, daß du zurückweichst?
6 Ihr Berge, was hüpft ihr wie Widder, und ihr Hügel, wie junge Lämmer?
7 Vor dem Herrn erbebe, du Erde, vor dem Antlitz des Gottes Jakobs,
8 der den Fels zur Wasserflut wandelt und Kieselgestein zu quellendem Wasser.
Liebe Brüder und Schwestern!
1. Das freudige und triumphale Lied, das wir soeben vorgetragen haben, ruft Israels Auszug aus der Unterdrückung durch die Ägypter in Erinnerung. Psalm 114 gehört zu der Sammlung, die in der jüdischen Tradition das »ägyptische Hallel« genannt wurde. Es sind die Psalmen 113 bis 118, eine Art Gesangbuch, das vor allem in der jüdischen Pascha-Liturgie Verwendung fand.
Das Christentum hat Psalm 114 mit dieser Charakteristik des Pascha übernommen, ihn aber in der Lesart entschlüsselt, die von der Auferstehung Christi herrührt. Der vom Psalm gerühmte Auszug wird deshalb zu einer anderen, noch radikaleren und universaleren Befreiung. Dante legt in der Göttlichen Komödie diesen Hymnus in der lateinischen Version der Vulgata den Seelen im Fegfeuer in den Mund: »In exitu Israel de Aegypto / sangen alle gemeinsam …« (Purgatorio II, 46–47). Das heißt, er sieht in dem Psalm das Lied der Erwartung und Hoffnung derer, die nach der Reinigung von allen Sünden auf das letzte Ziel, die Gemeinschaft mit Gott im Paradies, zugehen.
2. Wir folgen jetzt dem thematischen und spirituellen Gedankengang dieses kurzen Gebets. Zu Beginn (vgl. V. 1–2) wird an Israels Auszug aus der ägyptischen Unterdrückung bis zum Eintritt in das verheißene Land erinnert, das Gottes »Heiligtum« ist, das heißt der Ort seiner Gegenwart unter dem Volk. Ja, Land und Volk sind miteinander verschmolzen. Juda und Israel, Worte, mit denen man sowohl das Heilige Land als auch das auserwählte Volk bezeichnete, werden als Sitz der Gegenwart des Herrn und als sein besonderes Eigentum und Erbe betrachtet (vgl. Ex 19,5–6).
Nach dieser theologischen Beschreibung eines der grundlegenden Glaubenselemente des Alten Testaments, das heißt der Verkündigung der großen Taten Gottes für sein Volk, vertieft der Psalmist geistlich und symbolisch ihre wesentlichen Ereignisse.
3. Das Rote Meer vom Auszug aus Ägypten und der Jordan vom Einzug in das Heilige Land werden in Zeugen und Instrumente verwandelt und personifiziert, die an der vom Herrn gewirkten Befreiung teilnehmen (vgl. Ps 114,3.5).
Am Anfang des Auszugs ist die Rede vom Meer, das flieht, um Israel durchziehen zu lassen; und am Ende des Weges in der Wüste, da ist der Jordan, der in seinem Lauf innehält und sein Bett trocken legt, um die Prozession der Kinder Israels durchziehen zu lassen (vgl. Jos 3–4). Im mittleren Teil wird auf die Erfahrung des Sinai Bezug genommen: Jetzt sind es die Berge, die an der großen göttlichen Offenbarung teilhaben, die sich auf ihren Gipfeln ereignet. Wie lebendige Geschöpfe, wie Widder und wie Lämmer hüpfen sie. Mit einer lebhaften Personifikation befragt der Psalmist dann die Berge und die Hügel nach dem Grund ihrer Erschütterung: »Ihr Berge, was hüpft ihr wie Widder, und ihr Hügel, wie junge Lämmer?« (Ps 114,6). Ihre Antwort wird nicht berichtet, sie wird aber dann indirekt mit Hilfe einer an die Erde gerichteten Aufforderung gegeben, »vor dem Herrn« zu erbeben (vgl. V. 7). Die Erschütterung der Berge und der Hügel war also Zeichen des Erbebens bei der Anbetung vor dem Herrn, dem Gott Israels, ein Akt der ruhmvollen Verherrlichung des transzendenten Gottes und Erlösers.
4. Dieses Thema gehört zum letzten Teil von Psalm 114 (vgl. V. 7–8), der ein zusätzliches bedeutsames Ereignis von Israels Durchzug durch die Wüste einleitet: das Ereignis des Wassers, das aus dem Felsen von Meriba sprudelt (vgl. Ex 17,1–7; Num 20,1–13). Gott verwandelt den Felsen in eine Wasserquelle, die zum See wird: Diesem Wunder liegt seine väterliche Sorge für das Volk zugrunde.
Die Geste hat also eine symbolische Bedeutung: Sie ist das Zeichen der heilbringenden Liebe des Herrn, der die Menschheit beim Durchzug durch die Wüste der Geschichte stützt und erneuert.
Der Apostel Paulus hat bekanntlich dieses Bild wieder aufgenommen und liest, ausgehend von einer jüdischen Tradition, der zufolge Israel auf dem Zug durch die Wüste vom Felsen begleitet wurde, das Ereignis unter einem christologischen Aspekt: »Alle tranken den gleichen gottgeschenkten Trank, denn sie tranken aus dem lebenspendenden Felsen, der mit ihnen zog. Und dieser Fels war Christus« (1 Kor 10,4).
5. Auf der gleichen Linie kommentiert ein großer christlicher Lehrer, Origines, den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten und denkt an den neuen Exodus, den die Christen vollbracht haben. Er schreibt: »Glaubt nicht, daß Mose nur damals das Volk aus Ägypten herausgeführt hat. Auch jetzt will der Mose, den wir bei uns haben …, das heißt Gottes Gesetz, aus Ägypten herausführen; wenn du darauf hörst, wird er dich vom Pharao befreien … Er will nicht, daß du in den dunklen Handlungen des Fleisches stehen bleibst, sondern daß du in die Wüste hinausgehst, daß du an den Ort gelangst, wo es keine zeitlichen Störungen und Schwankungen gibt; er will, daß du zur Ruhe kommst und still wirst … Wenn du diesen Ruheort erreicht hast, dann kannst du dem Herrn opfern, dann kannst du Gottes Gesetz und die Macht der göttlichen Stimme erkennen« (Omelie sull’Esodo, Roma 1981, S. 71–72).
Indem er an das paulinische Bild anknüpft, das den Durchzug durch das Meer in Erinnerung ruft, setzt Origines seinen Kommentar fort: »Der Apostel nennt das eine Taufe, vollbracht durch Mose in der Wolke und im Meer, damit auch du, der du in Christus, im Wasser und im Heiligen Geist getauft wurdest, weißt, daß dich die Ägypter verfolgen und wieder in ihren Dienst stellen wollen, das heißt in den Dienst der Herrscher dieser Welt und der bösen Geister, deren Sklave du zuvor warst. Sie werden dich gewiß verfolgen, aber du steige in das Wasser hinunter und entrinne, und nachdem du die Flecken der Sünden abgewaschen hast, steige empor als neuer Mensch, bereit, das neue Lied zu singen« (ebd., S. 107).
Immer wieder entzündet sich Israels Danklied an der Erfahrung seiner Befreiung. Der Auszug aus Ägypten offenbart Gottes mächtige Gegenwart. Eine neue Beziehung entsteht: „Da wurde Juda Gottes Heiligtum" (Ps 114, 2). Gott bahnt seinem pilgernden Volk Wege des Heils.
In der Wüste labte der Herr die Israeliten mit Wasser aus dem Felsen (vgl. Ps 114, 8). Dem Volk des neuen Bundes sprudelt in der Taufe die Quelle der Erlösung. Durch die Sakramente der Kirche gestärkt und erneuert folgen wir Christus, unserem lebensspendenden Fels (vgl. 1 Kor 10, 4).
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Einen glaubensfrohen Gruß richte ich an die Pilger und Besucher deutscher Sprache. Gott ist der Befreier seines Volkes und macht es zu seinem Heiligtum. Gebt allen ein Zeugnis der Hoffnung, denn eure Erlösung ist nahe! Die Gnade des Herrn sei mit euch!
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