PASTORALBESUCH IN DER BUNDESREPUBLIK
DEUTSCHLAND (21.-23. JUNI 1996)
ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.
AN DIE VERTRETER DER EVANGELISCHEN KIRCHE
UND DER ARBEITSGEMEINSCHAFT CHRISTLICHER KIRCHEN
IN DEUTSCHLAND
«Collegio Leoninum», Paderborn
Samstag, 22. Juni 1996
Seht geehrter Herr Ratsvorsitzender,
verehrte Mitglieder des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland,
verehrte Vorstandsmitglieder der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland.
1. Es freut mich sehr, Sie hier in Paderborn, an einem Ort kontinuierlicher Arbeit zur Förderung der Verständigung zwischen den Kirchen und christlichen Gemeinschaften, begrüßen zu können. Hier ist der Sitz des weit bekannten Johann Adam Möhler Instituts, und Paderborn war der Bischofssitz eines der größten Förderer der Ökumene, nämlich von Lorenz Kardinal Jaeger. Wir sind hier zusammengekommen im Namen des Vaters, der uns aus Liebe den Sohn gesandt hat (vgl. 1 Joh 4,10), im Namen des Sohnes, der für uns gestorben ist (vgl. Röm 5,8), und im Namen des Heiligen Geistes, der uns beisteht (vgl. Joh 16,7) und uns zum Guten antreibt (vgl. Gal 5,22ff.).
2. Ich danke Ihnen herzlich, daß Sie der Einladung zu dieser Begegnung gefolgt sind. Wir begehen in diesem Jahr die 450. Wiederkehr des Todestages Martin Luthers. Das Gedenken an ihn läßt uns heute nach Jahrhunderten leidvoller Entfremdung und Auseinandersetzung deutlicher den hohen Stellenwert seiner Forderung nach einer schriftnahen Theologie und seines Willens zu einer geistlichen Erneuerung der Kirche erkennen. Seine außerordentliche Leistung zur deutschen Sprachentwicklung sowie sein kulturelles Erbe stehen außer Frage. Seine Aufmerksamkeit für das Wort Gottes wie auch seine Entschiedenheit, den als richtig erkannten Weg des Glaubens zu gehen, lassen gewiß nicht seine persönlichen Grenzen übersehen und ebensowenig die Tatsache, daß grundsätzliche Probleme im Verhältnis von Glaube, Schrift Überlieferung und Kirche, wie sie Luther gesehen hat, bis heute noch nicht ausreichend geklärt sind.
3. Ihnen, Herr Ratsvorsitzender, danke ich für Ihre Worte und Ihre Ausführungen über den Rezeptionsprozeß des Studiendokumentes »Lehrverurteilungen - kirchentrennend?« innerhalb der Mitgliedskirchen der EKD. Gern erinnere ich mich an unsere erste Begegnung, als Sie im Dezember 1994 in Begleitung ihrer engsten Mitarbeiter nach Rom gekommen sind, um mir die »Gemeinsame evangelische Stellungnahme« zum Dokument »Lehrverurteilungen - kirchentrennend?« zu überreichen.
Viele Synodale haben sich mit den Ergebnissen dieses Studiendokuments intensiv auseinandergesetzt. Ich hin dankbar für alle Klärungen, die durch die Synoden erfolgt sind. Dabei nehme ich auch zur Kenntnis, daß polemische und ungebührliche Ausdrucksweisen der Vergangenheit zurückgenommen und dem geschichtlichen Vergessen anheim gegeben wurden.
An dieser Stelle möchte ich es nicht versäumen, den Mitgliedern der »Gemeinsamen Ökumenischen Kommission« zu danken, die im Anschluß an meinen ersten Besuch in Deutschland im Herbst 1980 angeregt haben, die Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts der katholischen Kirche und der evangelischen Bekenntnisschriften im ökumenischen Dialog historisch und systematisch zu behandeln. Besonders danke ich den Mitgliedern des »Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen«, die diese Untersuchung durch ihren persönlichen Einsatz verwirklicht haben.
4. Viele Kontroversen des 16. Jahrhunderts erscheinen heute dank der vorliegenden Studie in einem neuen Licht. Gräben wurden überbrückt, die frühere Generationen für unüberbrückbar hielten. Dieser Fortschritt ist möglich geworden, weil methodisch sorgsam darauf geachtet wurde, zwischen dem Glaubensgut selbst und der Formulierung, in der es ausgedrückt wird, zu unterscheiden (vgl. Ut unum sint, 81; Mysterium Ecclesiae, 5 § 6). Eine solche Unterscheidung ist in der Tat eines der wichtigen Elemente für die ökumenische Verständigung. Wie das Zweite Vatikanische Konzil lehrt, ist es »zur Wiederherstellung oder Erhaltung der Gemeinschaft und Einheit notwendig, "keine Lasten aufzuerlegen, die über das Notwendige hinausgehen" (Act 15,28)« (Unitatis redintegratio, 18). Die Einheit, die wir anstreben, erfordert eine echte Übereinstimmung im Glaubensgut selbst. Sie will damit in keiner Weise die Verbindlichkeit der kirchlichen Lehre antasten; andererseits zwingt sie jedoch auch nicht dazu, »die reiche Vielfalt der Spiritualität, der Ordnung, der liturgischen Riten und der theologischen Darstellung der geoffenbarten Wahrheit, die unter den Christen gewachsen ist, aufzugeben, sofern diese Verschiedenheit der apostolischen Tradition treu bleibt« (vgl. Directorium Oecumenicum, 20).
Angesichts des Umfangs und der Qualität der Studie »Lehrverurteilungen - kirchentrennend?« war es nicht nur angebracht, so abdingbar, die "Tragfähigkeit ihrer Ergebnisse gewissenhaft und gründlich zu überprüfen. Den intensiven Prozeß auf evangelischer Seite haben Sie, Herr Ratsvorsitzender, soeben skizziert. Im gleichen Zeitraum ist auch auf katholischer Seite ein Auswertungsprozeß erfolgt, an dem verschiedene Gremien auf verschiedenen Ebenen beteiligt waren. Im Jahre 1992 nahm der Päpstliche Rat zur Förderung der Einheit der Christen in einem sorgsam erarbeiteten Gutachten zu der Studie des »Ökumenischen Arbeitskreises« Stellung. Im Juni 1994 legte die Deutsche Bischofskonferenz ihre Stellungnahme vor. Beide Stellungnahmen bekunden Übereinstimmung mit den in der Studie erarbeiteten Ergebnissen, weisen zugleich aber auch auf Fragen und Probleme hin, die einer weiteren Erörterung bedürfen.
Mit seinen Studien hat der »Ökumenische Arbeitskreis« zu einem vertieften Verständnis der Lehraussagen des Konzils von Trient beigetragen. Das Konzil von Trient war darauf ausgerichtet, die Identität des katholischen Glaubens zu schützen, und hat damit einen bleibenden Wert für die Lehrentwicklung innerhalb der katholischen Kirche. Seither hat uns eine erneute Besinnung auf die geoffenbarte Wahrheit im Gehorsam gegenüber dem Geist Gottes und in einer Haltung des gegenseitigen Zuhörens einander näher gebracht. Es ist ein Verdienst der Studie »Lehrverurteilungen - kirchentrennend?«, eine Vielzahl von Übereinstimmungen und Annäherungen in wesentlichen Glaubensfragen herausgearbeitet zu haben. In der Rechtfertigungslehre wurde eine weitreichende Annäherung erzielt. Wenn man die verschiedenen Konsensdokumente zur Rechtfertigungslehre insgesamt betrachtet, wird der Eindruck immer stärker, daß man in den tragenden Grundfragen des Verständnisses der Rechtfertigungsbotschaft zu einer fundamentalen Übereinstimmung kommt. Damit sind nicht alle Unterschiede aufgehoben, aber wir können nun genauer fragen, welches Gewicht die verbleibenden Unterschiede haben. Auch wenn die theologische Verbindung lutherischer Rechtfertigungsvorstellung mit der katholischen Tauf- und Kirchenlehre noch weiterer Gespräche bedarf, so ist doch zu hoffen, daß wir zur Obereinstimmung finden in jener Frage, die zu den Kernpunkten der theologischen Kontroversen des 16. Jahrhunderts gehörte. Jede erzielte Verständigung muß von einer erneuten Hinwendung zum biblischen Zeugnis getragen sein. Eine Verständigung zwischen Lutheranern und Katholiken in dieser wichtigen Frage ist ihrem Wesen nach dafür offen, auch mit evangelischen Landeskirchen nicht-lutherischer Prägung zu ähnlichen Klärungen zu gelangen.
In anderen Bereichen und Einzelfragen, in denen noch keine volle Übereinstimmung erzielt wurde, hat die Studie den Weg für vielversprechende weitere Gespräche geebnet. In der Sakramentenlehre und in der Amtsfrage konnten gemeinsame Elemente aufgezeigt werden, die jedoch noch einer weiteren Vertiefung bedürfen. Nun gilt es, die noch ungelösten Fragen anzugehen, und dazu möchte ich Sie nachdrücklich ermutigen.
6. Auch wenn die Ökumene der Begegnung mit den reformatorischen Kirchen in Deutschland einen besonderen Vorrang hat, so richtet sich unser Blick doch zugleich auf die Kirchen des Ostens. Denn viele Mitglieder der orthodoxen und der altorientalischen Kirchen leben zum Teil schon seit Jahrzehnten in Ihrem Land und pflegen dabei die kirchliche Gemeinschaft mit ihrer Heimat. Ihnen allen sage ich ein herzliches Wort des Grußes. Für sie haben sich gute ökumenische Beziehungen zu den Kirchen in diesen Land gebildet. Sie arbeiten aktiv mit in den ökumenischen Gremien, so besonders in der »Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland« (ACK). Manche hilfreiche Anregung für die Gestaltung kirchlicher Gemeinschaft gelangt so auch nach Deutschland. Auch im privaten Leben haben die Christen aus den Ostkirchen die Nachbarschaft anderer Christen, aber auch von Nichtchristen und Nichtglaubenden kennengelernt und sich darauf eingestellt. Ich möchte Sie ermutigen, Ihre Traditionen zu bewahren und sie in guter Nachbarschaft mit anderen zu leben. So wächst das Verständnis füreinander, und zugleich stärken sie das Bewußtsein von einer gemeinsamen Grundlage unseres christlichen Glaubens in der Mannigfaltigkeit der geschichtlich gewachsenen Formen,
7. Zusammen mit den evangelischen und orthodoxen Christen möchte ich in diesem Wort der Begrüßung und des Segenswunsches auch die Brüder und Schwestern der evangelischen Freikirchen ansprechen, die ebenso an der Arbeit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen beteiligt sind. Ihr Augenmerk ist dabei besonders auf die Dimension des gelebten Glaubens in den Gemeinden gerichtet. Es waren wohl auch besonders Christen aus Ihren Reihen, die die Bekehrung zum Gotteswort der Heiligen Schrift gefördert haben. Hieraus entwickelte sich dann auch die Idee eines »Jahres mit der Bibel«, das 1992 in Deutschland mit großem Erfolg durchgeführt worden ist.
8. Die Einheit, die wir anstreben, muß schrittweise wachsen. Wir müssen Mut und Phantasie entwickeln, heute jene Schritte zu tun, die möglich sind, im festen Vertrauen auf die Führung des Heiligen Geistes, der uns anleitet und vorbereitet auf jene Schritte, die morgen möglich sein werden. Ich bin mir bewußt, daß viele Menschen unter der Trennung leiden. Deshalb ist es unsere Pflicht, Barrieren abzubauen und ein größeres Maß an Gemeinschaft zu erstreben im festen Vertrauen darauf, daß der Herr uns zu »jenem segensreichen Tag« führt, »an dem die volle Einheit im Glauben erreicht sein wird und wir einträchtig miteinander die heilige Eucharistie des Herrn werden feiern können« (Ut unum sint, 77).
Hinter unserer Sehnsucht nach Einheit stehen der Wille Christi und sein Gebet im Abendmahlssaal. Von ihm kommt uns auch unsere zentrale Verpflichtung, im theologischen Suchen und Forschen in konfessionsübergreifenden Aktionen und Stellungnahmen der Gesellschaft und im brüderlichen Gespräch sowie im gemeinsamen Gebet den schon gewährten Raum des gemeinsamen Tuns voll auszuschreiten. Deswegen bitte ich Sie, nicht nachzulassen, den Dialog der Verständigung weiterzuführen Eine zukunftsträchtige Ökumene kann es nur geben, wenn wir uns der Frage nach der Wahrheit selbstlos stellen und wenn wir einander geduldig anhören und einander auch mit unseren eigenen Lasten tragen (vgl. Gal 6,2). Die ökumenische Bewegung wird so zu einem geistlichen Prozeß persönlicher Bekehrung zur vollen Wahrheit, nämlich in dem Vertrauen, daß er, »der Geist der Wahrheit, euch in die ganze Wahrheit führen wird« (Joh 16,13). Nachdrücklich wollen wir auf Christus setzen in einer Zeit, die leicht alle verfolgten Ziele vorwiegend unserem menschlichen Vermögen anvertraut. Deshalb ist es gut, daß wir uns im Anschluß an unser Treffen ihm, dem Herrn der Kirche, im herrlichen Paderborner Dom lobend, betend und fürbittend zuwenden.
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