ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II.
AN DEN BOTSCHAFTER DER REPUBLIK ÖSTERREICH
BEIM HEILIGEN STUHL ANLÄßLICH DER ÜBERGABE
DER BEGLAUBIGUNGSSCHREIBEN*
13. Februar 2001
S
ehr geehrter Herr Botschafter!1. Nehmen sie meinen aufrichtigen Dank entgegen für die Worte anläßlich der Überreichung Ihres Beglaubigungsschreibens als neuer außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Republik Österreich beim Heiligen Stuhl. Zu Ihrem Amtsantritt heiße ich Sie herzlich willkommen und beglückwünsche Sie zu dieser ehrenvollen und bedeutsamen Aufgabe. Gleichzeitig darf ich Sie bitten, dem verehrten Herrn Bundespräsidenten meine besten Grüße zu bestellen.
2. Wenn ich an Österreich denke, dann kommen mir unweigerlich die drei unvergeßlichen Pastoralreisen in den Sinn, die mich in meinem bisherigen Pontifikat in Ihr geschätztes Land geführt haben. Neben den persönlichen Begegnungen mit zahlreichen Vertretern des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens ist in mir besonders die kulturelle Landschaft lebendig geblieben, die die Alpenrepublik auszeichnet; ist sie doch so reich an Schätzen, die das Christentum hervorgebracht hat und die es im soeben begonnenen neuen Jahrhundert zu bewahren und zu pflegen gilt.
Dieser Auftrag stellt sich umso dringlicher, je mehr man Österreich in die Geographie Europas eingebettet sieht. Was Sie in Ihrer Ansprache haben anklingen lassen, möchte ich an dieser Stelle unterstreichen: Der Fall des Eisernen Vorhangs war auch eine Wende für die Rolle, die Ihrem Land nun zukommt. Aus dem Grenzland ist ein Brückenland geworden. Die Trennungslinie zweier Welten ist gefallen und hat einem offenen Areopag Platz gemacht, an dem sich der Westen und der Osten Europas friedvoll begegnen können.
Mit Zufriedenheit stelle ich fest, daß sich Österreich seiner Verantwortung als ein Land im Herzen Europas immer bewußter wird und seinen Möglichkeiten entsprechend die Erweiterung der Europäischen Union im Sinne einer Europäisierung des gesamten Kontinentes tatkräftig unterstützt. Das ist auch im Sinn des Heiligen Stuhls, der bei seinen Bemühungen nicht müde wird, in dieser historischen Stunde eine "kulturelle Wende" anzumahnen, um die Würde des Menschen zu schützen und zu fördern (vgl. Evangelium vitae, 95).
3. Wer auf Österreich schaut, kommt also nicht umhin, den Blick zugleich auf den Kontinent zu weiten. Die europäische Kultur ist ein Geflecht, das aus vielen Wurzeln erwachsen ist: Da ist der Geist, der das alte Griechenland beseelte, ebenso zu nennen wie das Imperium Romanum mit seinen lateinischen, slawischen, germanischen und ugrofinnischen Völkern. Als der christliche Glaube in Rom angekommen war, wurde das Römische Reich zur Grundlage dafür, daß er sich in die einzelnen Völker inkulturieren und sich auf diese Weise wirkungsvoll ausbreiten konnte. Das Corpus Christianorum bildete sich immer mehr als eine geistige Staatenfamilie heraus, die aus römisch-germanisch-slawischen Gliedern zusammengesetzt und ohne die christlichen Werte undenkbar war. So hat es das Antlitz Europas wesentlich geprägt und das abendländische Erbe mitbestimmt, das lebendig zu halten uns aufgetragen ist.
Gerade zu einer Zeit, da das Christentum auf zweitausend Jahre seiner Existenz zurückblicken kann, sind wir vor die hohe Pflicht gestellt, nicht nur Verwalter der Vergangenheit, sondern Gestalter einer Zukunft zu sein, die für den Menschen Hoffnung weckt. Das Projekt "Europa" als Ganzes und die einzelnen Länder, die darin ihren Platz finden sollen, stehen heute vor einem Scheideweg: Entweder wird daraus ein blühender Garten oder ein absterbender Tümpel. So möchte ich diese feierliche Gelegenheit zum Anlaß nehmen, um auf einige Bereiche hinzuweisen, in denen der Heilige Stuhl und Österreich ihre bewährte Zusammenarbeit fortsetzen und vertiefen können, um einem blühenden Garten den Weg zu bereiten.
4. Damit ein Garten überhaupt zur Blüte kommen kann, muß er ein Raum sein, der das Leben begünstigt. Deshalb sollte in unseren Gesellschaften die Förderung der "Kultur des Lebens" ganz oben stehen. Wer zu Recht behauptet, die Personwürde sei unzerstörbares Eigentum eines jeden Menschen, für den darf gleichzeitig kein Zweifel daran bestehen, daß diese personale Würde ihren ersten und grundlegenden Ausdruck in der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens findet. Wenn das Recht auf Leben nicht mit Entschiedenheit als Bedingung für alle anderen Rechte der Person verteidigt wird, bleiben weitere Hinweise auf die Menschenrechte - etwa auf Gesundheit, Wohnung, Arbeit, Gründung einer Familie - trügerisch und illusorisch.
Angesichts der vielfältigen Verletzungen, die dem Menschen im Hinblick auf sein Lebensrecht zugefügt werden, darf man nicht resignieren. Deshalb unterstützt die Kirche alle Bemühungen von seiten der Politik, die sich an dem Grundsatz ausrichten, den ich in meiner ersten Weihnachtsbotschaft formuliert habe und der als Richtschnur heute gültiger ist denn je: "Für und vor Gott ist der Mensch immer einmalig und unwiederholbar; jemand, der von Ewigkeit her vorgesehen und erwählt ist; jemand, der bei seinem Namen gerufen und benannt wird" (Urbi et Orbi, 25. 12. 1978).
5. Daher hat der Mensch ein Lebensrecht in allen Phasen seiner Existenz, von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod. Er bleibt Träger dieses Rechtes auch in jeder Situation, die ihm widerfahren kann: in Gesundheit oder Krankheit, Vollkommenheit oder Behinderung, Reichtum oder Armut. Die Zulassung des Schwangerschaftsabbruchs während der Frist der ersten drei Monate, die wie in vielen anderen europäischen Ländern auch in Österreich gilt, bleibt daher eine blutende Wunde in meinem Herzen.
Was für den Anfang zutrifft, wirkt sich auch auf das Ende des menschlichen Lebens aus: Leider scheint es, als würde in der Diskussion, die sich um die Euthanasie ausbreitet, die Annahme immer weniger geteilt, daß der Mensch sein Leben als Geschenk empfangen hat. So wird es zunehmend schwieriger, das Recht zu verteidigen, daß der Mensch in Würde sterben kann, wann Gott es will. Doch auch das Sterben ist ein Teil des Lebens. Wer einem Menschen am Ende seiner irdischen Existenz das Lebensrecht nehmen will, nimmt ihm letztlich das Leben, auch wenn er das Verbrechen der Euthanasie in das Gewand des "humanen Sterbens" zu kleiden versucht.
Mit tiefer Sorge möchte ich schließlich die Verantwortung nicht verschweigen, die sich durch die rasant fortschreitenden biologischen und medizinischen Wissenschaften und die damit zusammenhängenden gewaltigen technologischen Möglichkeiten stellt: Der Mensch ist mittlerweile in der Lage, das menschliche Leben in seinem Anfang und in den ersten Stadien seiner Entwicklung nicht nur zu "beobachten", sondern auch zu "manipulieren" und zu "klonen".
Vor dem Hintergrund dieser gewaltigen Herausforderungen ermutige ich zu "konzertierten Aktionen" mit dem Ziel, "die Kultur zurückzuführen auf die Prinzipien eines wahren Humanismus, damit die Förderung und die Verteidigung der Menschenrechte in ihrem eigenen Wesen einen sicheren und dynamischen Grund finden" (Christifideles laici, 38).
6. Ein Garten steht erst dann in Blüte, wenn viele Blumen miteinander blühen. Dieses Bild läßt sich auch auf den Menschen im Garten der Gesellschaft übertragen. Die Gesellschaft ist ein Zeichen dafür, daß der Mensch zur Gemeinschaft berufen ist. Diese soziale Dimension des Menschseins findet ihren ersten und ursprünglichen Ausdruck in Ehe und Familie. Als Wiege des Lebens, in die der Mensch gleichsam hineingeboren wird und in der er aufwachsen darf, stellt die Familie die Grundzelle der Gesellschaft dar.
Daher macht sich die Kirche durch ihre pastoralen Initiativen gern zum Bundesgenossen all jener, die sich durch politische Entscheidungen, gesetzgeberische Maßnahmen oder die Bereitstellung finanzieller Mittel für Ehe und Familie als bevorzugte Orte der "Humanisierung" der Person und der Gesellschaft einsetzen. Das Ziel, durch die Stärkung von Ehe und Familie neben der "Kultur des Lebens" eine "Zivilisation der Liebe" aufzubauen, muß umso dringlicher verfolgt werden, da die Angriffe gegen die Stabilität und Fruchtbarkeit der Ehe sowie die Versuche, den Stellenwert dieser ersten Zelle der Gesellschaft auch rechtlich zu relativieren, immer mehr um sich greifen.
Die Erfahrung zeigt, daß die Festigkeit der Völker vor allem dadurch begünstigt wird, daß die Familien blühen. Mehr noch: "Die Zukunft der ganzen Menschheit geht über die Familie" (Familiaris consortio, 85). Deshalb verlangt die Familie von den öffentlichen Autoritäten Ehrfurcht und besonderen Schutz. Der Garten unserer Gesellschaft wird dann gedeihen, wenn die Familien wieder blühen.
7. Die Familie ist zudem ein wichtiger Lernort. Sie ist nicht nur das "Heiligtum des Lebens" (Evangelium vitae, 94), sondern auch eine Schule der "sozialen Liebe" im kleinen (Centesimus annus, 10), die im großen "Solidarität" heißt. Diese ist "nicht ein Gefühl vagen Mitleids oder oberflächlicher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen nah oder fern. Im Gegenteil, sie ist die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das 'Gemeinwohl' einzusetzen, das heißt für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind" (Sollicitudo rei socialis, 38). In diesem Zusammenhang möchte ich an ein Prinzip erinnern, das jeder gesunden politischen Ordnung zugrundeliegt: Je schutzloser Menschen in einer Gesellschaft sind, umso mehr hängen sie von der Anteilnahme und Sorge der anderen und insbesondere vom Eingreifen der staatlichen Autorität ab.
So begrüße ich alle Initiativen zugunsten einer Familien- und Sozialpolitik, die sich durch die Gewährung entsprechender Hilfen und wirksamer Formen der Unterstützung der Kinder sowie durch die Sorge um die alten Menschen auszeichnet, um deren Abschiebung aus dem engeren Familienverband zu vermeiden und auf diese Art die Beziehungen zwischen den Generationen zu stärken. Außerdem drücke ich meine Anerkennung für alle Bemühungen aus, die in Ihrem Land unternommen werden, um über die Familie hinaus möglichst engmaschige Solidaritätsnetze zu knüpfen. Wo immer es möglich ist, wird die Kirche mit ihren caritativen Verbänden dabei gern zur Seite stehen.
Es sei in diesem Zusammenhang nicht verschwiegen, daß manche Nöte des Menschen eine nicht nur materielle Linderung erfordern; vielmehr kommt es darauf an, die tiefere innere Anfrage herauszuhören. Man denke auch an die Situation der Einwanderer und Flüchtlinge, der Behinderten und aller notleidenden Menschen, denen nur dann wirksam geholfen ist, wenn man ihnen über die äußeren Maßnahmen hinaus aufrichtige brüderliche Hilfe zukommen läßt. So bin ich fest davon überzeugt, daß Österreich auch in Zukunft seine großzügige Solidarität und tätige Nächstenliebe anderen Menschen, die in Not sind, nicht versagen wird.
Dieser Wunsch macht an den Grenzen eines Landes nicht halt. Er bezieht den ganzen Kontinent ein, so daß sich das zusammenwachsende Europa auch daran messen lassen muß, ob die Solidarität zwischen reicheren und ärmeren Ländern immer mehr aufzublühen vermag.
8. Ich kann meine Überlegungen nicht schließen, ohne meiner festen Zuversicht Ausdruck zu geben, daß sich die freundschaftlichen Beziehungen zwischen der Republik Österreich und dem Heiligen Stuhl, die Sie in Ihrer Ansprache zu Recht betont haben, weiter fruchtbar entwickeln.
Im heutigen gesellschaftlichen Kontext, der von einem dramatischen Kampf zwischen der "Kultur des Lebens" und der "Kultur des Todes" gekennzeichnet ist, verbindet uns das gemeinsame Ziel, nach der politischen Wende vor mehr als zehn Jahren nun auch eine kulturelle Wende herbeizuführen, die auf einer allgemeinen Mobilisierung der Gewissen fußt und um des Menschen willen neue Prioritäten setzt: den Vorrang des Seins vor dem Haben und der Person vor den Dingen (vgl. Evangelium vitae, 98). Es ist der Mensch, an dessen Wohl dem Staat und der Kirche gemeinsam gelegen sein muß, indem sie durch partnerschaftliches Zusammenwirken die hohen Werte und Ideale fördern.
Indem ich Ihnen, Herr Botschafter, von Herzen einen glücklichen Einstand in Rom wünsche, erteile ich Ihnen, Ihren geschätzten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Botschaft und nicht zuletzt Ihrer werten Familie gern den Apostolischen Segen.
*Insegnamenti di Giovanni Paolo II, vol. XXIV, 1 p.531-356.
L'Osservatore Romano14.2. 2001 p.5
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