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BENEDIKT XVI.

GENERALAUDIENZ

Mittwoch, 14. Dezember 2005

 

Lesung: Psalm 139, 1–12

1 Der Mensch vor dem allwissenden Gott [Für den Chormeister. Ein Psalm Davids.] Herr, du hast mich erforscht und du kennst mich.
2 Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir. Von fern erkennst du meine Gedanken.
3 Ob ich gehe oder ruhe, es ist dir bekannt; du bist vertraut mit all meinen Wegen.
4 Noch liegt mir das Wort nicht auf der Zunge – du, Herr, kennst es bereits.
5 Du umschließt mich von allen Seiten und legst deine Hand auf mich.
6 Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen, zu hoch, ich kann es nicht begreifen.
7 Wohin könnte ich fliehen vor deinem Geist, wohin mich vor deinem Angesicht flüchten?
8 Steige ich hinauf in den Himmel, so bist du dort; bette ich mich in der Unterwelt, bist du zugegen. 9 Nehme ich die Flügel des Morgenrots und lasse mich nieder am äußersten Meer,
10 auch dort wird deine Hand mich ergreifen und deine Rechte mich fassen.
11 Würde ich sagen: »Finsternis soll mich bedecken, statt Licht soll Nacht mich umgeben«,
12 auch die Finsternis wäre für dich nicht finster, die Nacht würde leuchten wie der Tag, die Finsternis wäre wie Licht.

 

Psalm 139, 1-12
Gott sieht alles

Liebe Brüder und Schwestern!

1. In zwei verschiedenen Schritten bietet uns das Stundengebet der Vesper – deren Psalmen und Cantica wir betrachten – die Lesung eines Weisheitshymnus von klarer Schönheit und starker emotionaler Wirkung: den 139. Psalm. Vor uns haben wir heute den ersten Teil dieses Textes (vgl. Verse 1–12), also die ersten beiden Strophen, die die Allwissenheit Gottes (vgl. V. 1–6) und seine Allgegenwart in Raum und Zeit (vgl. V. 7–12) preisen.

Die Kraft der Bilder und Ausdrücke dient dem Lobpreis des Schöpfers: »Wenn die geschaffenen Werke so großartig sind« – erklärt Theodoret von Kyros, christlicher Schriftsteller des 5. Jahrhunderts –, »wie großartig muß dann erst ihr Schöpfer sein!« (Reden über die Vorsehung, 4, in: Collana di Testi Patristici, LXXV, Rom 1988, S. 115). Die Betrachtung des Psalmisten zielt vor allem darauf ab, in das Geheimnis des transzendenten, uns aber dennoch nahen Gottes einzudringen.

2. Die wesentliche Aussage der Botschaft, die er uns bietet, ist eindeutig: Gott weiß alles und ist an der Seite seines Geschöpfes gegenwärtig, das sich ihm nicht entziehen kann. Seine Gegenwart bedeutet jedoch nicht Bedrohung oder Kontrolle; gleichwohl richtet er sicher seinen strengen Blick auf das Böse, dem er nicht gleichgültig gegenübersteht.

Doch das eigentliche Element ist eine heilbringende Gegenwart, die das ganze Sein und die ganze Geschichte zu umfangen vermag. Das ist faktisch das geistliche Szenarium, auf das der hl. Paulus in seiner Rede vor dem Areopag in Athen mit dem Zitat eines griechischen Dichters anspielt: »Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir« (Apg 17,28).

3. Der erste Abschnitt (vgl. Ps 139,1–6) ist, wie gesagt, der Lobpreis auf die göttliche Allwissenheit: In der Tat wiederholen sich hier die Worte, die mit der Erkenntnis in Zusammenhang stehen, wie: »erforschen«, »kennen«, »wissen«, »ergründen«, »begreifen«, »Weisheit«. Die biblische Erkenntnis geht bekanntlich über das bloße verstandesmäßige Lernen und Verstehen hinaus; sie ist so etwas wie eine Gemeinschaft zwischen Erkennendem und Erkanntem: Der Herr ist uns also während unseres Denkens und Handelns in enger Vertrautheit nahe.

Der göttlichen Allgegenwart ist der zweite Abschnitt unseres Psalms gewidmet (vgl. V. 7–12). In ihm wird auf lebendige Weise der illusorische Wille des Menschen beschrieben, sich jener Gegenwart zu entziehen. Das ganze Universum wird durchquert: Da ist zunächst die vertikale Achse »Himmel – Unterwelt« (vgl. V. 8); auf sie folgt dann die horizontale Dimension, die vom Morgenrot, also vom Osten, ausgeht und bis »zum äußersten Meer«, dem Mittelmeer, also dem Westen, reicht (vgl. V. 9). Jeder, selbst der verborgenste Teil des Raumes birgt in sich eine tätige Gegenwart Gottes.

Der Psalmist führt im weiteren auch die andere Wirklichkeit an, in der wir uns befinden: die Zeit; sie wird durch symbolhafte Bilder der Nacht und des Lichts, der Finsternis und des Tages dargestellt (vgl. V. 11–12). Selbst die Dunkelheit, in der man nur mühsam vorankommt und einem das Sehen schwerfällt, wird vom Blick und von der Epiphanie des Herrn des Seins und der Zeit durchdrungen. Seine Hand ist immer bereit, die unsere zu ergreifen, um uns auf unserem irdischen Weg zu führen (vgl. V. 10). Deshalb bedeutet seine Nähe nicht Verurteilung, die Schrecken einflößt, sondern Hilfe und Befreiung. So können wir verstehen, was letztlich der wesentliche Inhalt dieses Psalms ist: Er ist ein Hymnus vertrauensvoller Zuversicht. Gott ist immer bei uns. Selbst in den dunkelsten Nächten unseres Lebens verläßt er uns nicht. Sogar in den schwierigsten Augenblicken ist er zugegen. Und auch in der letzten Nacht, in der äußersten Einsamkeit, in der uns niemand begleiten kann, in der Nacht des Todes, verläßt uns der Herr nicht. Er begleitet uns auch in dieser äußersten Einsamkeit der Todesnacht. Deshalb können wir Christen Vertrauen haben: Wir werden niemals allein gelassen. Die Güte Gottes steht uns immer zur Seite.

4. Wir haben mit einem Zitat des christlichen Schriftstellers Theodoret von Kyros begonnen. Zum Abschluß vertrauen wir uns noch einmal ihm und seiner IV. Rede über die göttliche Vorsehung an, denn das ist ja letzten Endes das Thema des Psalms. Er verweilt bei Vers 6, in dem der Beter ausruft: »Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen, zu hoch, ich kann es nicht begreifen.« Theodoret kommentiert diese Stelle, indem er auf die Innerlichkeit des Gewissens und der persönlichen Erfahrung eingeht. Er sagt: »Nachdem ich den Blick auf mich selbst gerichtet hatte, mir selbst eng vertraut geworden war und mich vom äußeren Lärm entfernt hatte, wollte ich mich in die Betrachtung meiner Natur versenken … Während ich über diese Dinge nachsinne und an den harmonischen Einklang zwischen der sterblichen und der unsterblichen Natur denke, fühle ich mich überwältigt von diesem großen Wunder und, da ich dieses Geheimnis nicht zu durchschauen vermag, gebe ich meine Niederlage zu. Mehr noch: Während ich den Sieg der Weisheit des Schöpfers verkünde und ihm Lobeshymnen singe, rufe ich aus: ›Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen, zu hoch, ich kann es nicht begreifen.‹« (a.a.O., S. 116.117).


Vor dem geistigen Auge des Beters von Psalm 139 steht das Geheimnis des transzendenten und zugleich nahen Gottes. Der Herr ist allwissend und allgegenwärtig. Der Schöpfer pflegt einen vertrauten Umgang mit seiner Schöpfung. Sein göttliches Wissen begleitet das Denken und Handeln der Menschen. Gottes Kommen in diese Welt erleuchtet und verwandelt unsere Existenz. Seine Hand hält uns und geleitet uns auf den rechten Weg zum Leben und zur wahren Freiheit.

„Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen, zu hoch, ich kann es nicht begreifen“ (V. 10), so ruft der Psalmist in heiliger Ehrfurcht. Gott ist dem Menschen zuinnerst nahe. Diese Erfahrung führt den Beter dazu, sich von allzu äußerem Tun abzuwenden und vor dem Wunder niederzuknien, das Gott vollbringt, der in der Menschwerdung seines eingeborenen Sohns die sterbliche Natur mit seiner Unsterblichkeit versöhnt.

***

Sehr herzlich heiße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache willkommen. Der Advent ist eine Gnadenzeit, die uns ermahnt und ermutigt, in unserem Leben die Wege Gottes zu bereiten. Seid allezeit frohe Zeugen und Mitarbeiter der Liebe des Herrn zu den Menschen. Der Heilige Geist leite euer Denken, Reden und Handeln! Euch allen gesegnete adventliche Tage in Rom!

 

 



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