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BOTSCHAFT VON BENEDIKT XVI.
AN DEN PRÄSIDENTEN DER
ITALIENISCHEN BISCHOFSKONFERENZ ANLÄSSLICH
DER SOZIALEN WOCHE DER ITALIENISCHEN KATHOLIKEN

 

An den verehrten Bruder
Erzbischof ANGELO BAGNASCO
Präsident der Italienischen Bischofskonferenz

In dieses Jahr fällt der 100. Jahrestag der ersten »Sozialen Woche der italienischen Katholiken«, die vom 23. bis 28. September 1907 in Pistoia stattfand, auf Initiative vor allem von Prof. Giuseppe Toniolo – leuchtende Gestalt eines katholischen Laien, Wissenschaftlers und Apostels des Sozialen, Protagonist der katholischen Bewegung am Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Zu diesem bedeutsamen Jubiläum sende ich gern meinen herzlichen Gruß an Sie, verehrter Bruder, an den Bischof von Ivrea und Präsidenten des Wissenschaftlichen Organisationskomitees der Sozialen Wochen, Arrigo Miglio, an die Mitarbeiter und alle Teilnehmer der 45. »Woche«, die vom 18. bis 21. Oktober dieses Jahres in Pistoia und in Pisa stattfinden wird. Das gewählte Thema – »Das Gemeinwohl heute: eine Verpflichtung mit langer Geschichte« – ist, obgleich es in der Vergangenheit im Rahmen dieser Wochen bereits einige Male behandelt wurde, stets von unverminderter Aktualität. Ja, es ist sogar sehr angebracht, es gerade jetzt zu vertiefen und genauer zu erläutern, um einen vagen und manchmal unkorrekten Gebrauch des Begriffs »Gemeinwohl« zu vermeiden.

Das Kompendium der Soziallehre der Kirche, das Bezug nimmt auf die Lehre des Zweiten Ökumenischen Vatikanischen Konzils (vgl. Gaudium et spes, 26), führt aus: »Das Gemeinwohl besteht nicht in der einfachen Summe der Einzelgüter eines jeden Subjekts im sozialen Gefüge. Als Wohl aller und jedes Einzelnen ist und bleibt es gemeinsam, weil es unteilbar ist und nur gemeinsam erreicht, gesteigert und auch im Hinblick auf die Zukunft bewahrt werden kann« (Nr. 164). Bereits der Theologe Francisco Suárez erkannte ein »bonum commune omnium nationum«, verstanden als »Gemeinwohl des Menschengeschlechts«. Wie in der Vergangenheit, so muß gleichermaßen und noch mehr heute im Zeitalter der Globalisierung das Gemeinwohl daher auch im Kontext der internationalen Beziehungen bedacht und gefördert werden. Und es ist klar, daß gerade aufgrund der sozialen Basis der menschlichen Existenz das Wohl jeder einzelnen Person und das Wohl der ganzen Menschheit natürlich miteinander verbunden sind. Der geliebte Diener Gottes Johannes Paul II. sagte in diesem Zusammenhang in der Enzyklika Sollicitudo rei socialis: »Die Tatsache der gegenseitigen Abhängigkeit wird als entscheidendes System von Beziehungen in der heutigen Welt mit seinen wirtschaftlichen, kulturellen, politischen und religiösen Faktoren verstanden und als moralische Kategorie angenommen« (38). Und er fügte hinzu: »Wenn die gegenseitige Abhängigkeit in diesem Sinne anerkannt wird, ist die ihr entsprechende Antwort als moralisches und soziales Verhalten, als ›Tugend‹ also, die Solidarität. Diese ist nicht ein Gefühl vagen Mitleids oder oberflächlicher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen nah oder fern. Im Gegenteil, sie ist die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das ›Gemeinwohl‹ einzusetzen, das heißt, für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind« (ebd.).

In der Enzyklika Deus caritas est habe ich daran erinnert, daß »der Aufbau gerechter Strukturen nicht unmittelbar Auftrag der Kirche ist, sondern der Ordnung der Politik — dem Bereich der selbstverantwortlichen Vernunft — zugehört« (29). Weiter sagte ich: »Die Kirche hat dabei eine mittelbare Aufgabe insofern, als ihr zukommt, zur Reinigung der Vernunft und zur Weckung der sittlichen Kräfte beizutragen, ohne die rechte Strukturen weder gebaut werden, noch auf Dauer wirksam sein können« (ebd.). Welcher Anlaß wäre geeigneter als dieser, um noch einmal zu bekräftigen, daß das Wirken für eine gerechte Ordnung in der Gesellschaft eine Aufgabe ist, die unmittelbar den Laien zukommt? Als Staatsbürger obliegt es ihnen, persönlich am öffentlichen Leben teilzunehmen und, unter Achtung der legitimen Autonomien, an einer rechten Gestaltung des Soziallebens mitzuarbeiten, gemeinsam mit allen anderen Bürgern gemäß den Zuständigkeiten eines jeden und in eigener autonomer Verantwortung. In meiner Ansprache an den Nationalen Kongreß der katholischen Kirche in Italien im letzten Jahr in Verona habe ich bekräftigt, daß das Handeln im politischen Bereich zum Aufbau einer gerechten Ordnung in der italienischen Gesellschaft nicht unmittelbar der Kirche als solcher zukommt, sondern den Laien. Dieser äußerst wichtigen Aufgabe müssen sie sich mit Großherzigkeit und Mut widmen, erleuchtet durch den Glauben und durch das Lehramt der Kirche und beseelt von der Liebe Christi. Dafür wurden mit weiser Umsicht die Sozialen Wochen der italienischen Katholiken eingerichtet, und diese weitsichtige Initiative wird auch in Zukunft einen entscheidenden Beitrag zur Bildung und Belebung der christlich orientierten Bürger leisten können.

Die täglichen Nachrichten zeigen, daß die Gesellschaft unserer Zeit mit vielfältigen ethischen und sozialen Notlagen konfrontiert ist, die ihre Stabilität untergraben und ihre Zukunft ernsthaft gefährden können. Besonders aktuell ist die anthropologische Frage, die die Achtung des menschlichen Lebens ebenso einschließt wie die Aufmerksamkeit, die den Erfordernissen der auf die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau gegründeten Familie entgegengebracht werden muß. Wie bereits mehrmals hervorgehoben wurde, handelt es sich dabei nicht um nur »katholische« Werte und Prinzipien, sondern um allgemeine menschliche Werte, die verteidigt und geschützt werden müssen, wie die Gerechtigkeit, der Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Und was soll man dann im Zusammenhang mit der Familie und den jungen Menschen zu den Problemen sagen, die mit der Arbeit verbunden sind? Wenn die unsichere Arbeitssituation es jungen Menschen nicht erlaubt, eine eigene Familie aufzubauen, dann ist die wahre und vollständige Entwicklung der Gesellschaft ernsthaft gefährdet. Ich greife hier die Einladung noch einmal auf, die ich in Verona auf dem Kongreß der Kirche Italiens an die italienischen Katholiken gerichtet habe: Sie mögen bewußt die große Chance ergreifen, die diese Herausforderungen bieten, und nicht mit einem verzichtenden Rückzug in sich selbst reagieren, sondern im Gegenteil mit erneuerter Dynamik, indem sie sich vertrauensvoll zu neuen Beziehungen hin öffnen und keine der Kräfte ungenutzt lassen, die zum kulturellen und moralischen Wachstum Italiens beitragen können.

Abschließend möchte ich einen besonderen Bereich erwähnen, der auch in Italien die Katholiken anspornt, sich Fragen zu stellen: das Verhältnis zwischen Religion und Politik. Die wesentliche Neuheit, die Jesus gebracht hat, ist die, daß er den Weg zu einer menschlicheren und freieren Welt geöffnet hat, in voller Achtung der Unterscheidung und der Unabhängigkeit zwischen dem, was dem Kaiser gehört, und dem, was Gott gehört (vgl. Mt 22,21). Wenn die Kirche also einerseits anerkennt, daß sie kein politischer Akteur ist, so kann sie sich andererseits jedoch nicht der Aufgabe entziehen, Sorge zu tragen für das Wohl der ganzen zivilen Gemeinschaft, in der sie lebt und wirkt. Sie bietet ihr einen besonderen Beitrag, indem sie in den politischen und unternehmerischen Schichten einen echten Geist der Wahrheit und der Rechtschaffenheit herausbildet, der auf die Suche nach dem Gemeinwohl und nicht nach persönlichem Profit ausgerichtet ist.

Diesen äußerst aktuellen Themen wird die bevorstehende Soziale Woche der italienischen Katholiken ihre Aufmerksamkeit widmen. Diejenigen, die an ihr teilnehmen, versichere ich meines besonderen Gebetsgedenkens. Indem ich eine fruchtbare und ertragreiche Arbeit zum Wohl der Kirche und des ganzen italienischen Volkes wünsche, sende ich allen von Herzen einen besonderen Apostolischen Segen.

Aus dem Vatikan, 12. Oktober 2007

 

BENEDICTUS PP. XVI

 

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