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BOTSCHAFT VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE TEILNEHMER AM EUROPATREFFEN DER
"WORLD MEDICAL ASSOCIATION"

 

An den verehrten Bruder Vincenzo Paglia,
Präsident der Päpstlichen Akademie für das Leben

Ihnen und allen Teilnehmern am gemeinsam mit der Päpstlichen Akademie für das Leben im Vatikan organisierten Europatreffen der »World Medical Association«, das sich mit Fragen im Bezug auf das sogenannte »Lebensende« befasst, sende ich meinen herzlichen Gruß. Im Mittelpunkt Ihres Treffens werden Fragen stehen, die das Ende des irdischen Lebens betreffen.

Es handelt sich um Fragen, die sich die Menschheit stets gestellt hat, die aber heute neue Formen annehmen aufgrund des Wissensfortschritts und der Entwicklung technischer Mittel, die die menschliche Erfindungsgabe zur Verfügung gestellt hat. Die Medizin hat in der Tat immer mehr therapeutische Möglichkeiten entwickelt, durch die viele Krankheiten besiegt, die Gesundheit verbessert und die Lebenszeit verlängert werden konnten. Sie hat demnach eine sehr positive Rolle gespielt. Auf der anderen Seite ist es heute auch möglich, das Leben unter Bedingungen zu erhalten, die früher unvorstellbar waren. Die Eingriffe am menschlichen Körper werden immer wirksamer, aber sie stellen nicht immer eine Lösung dar: Sie können biologische Funktionen unterstützen, die unzureichend geworden sind, oder sie sogar ersetzen, aber das ist nicht gleichbedeutend mit der Förderung der Gesundheit. Es ist demnach zusätzliche Weisheit notwendig, weil heute die heikle Versuchung stärker ist, mit Behandlungen fortzufahren, die zwar starke Wirkungen auf den Körper haben, aber zuweilen nicht dem ganzheitlichen Wohl des Menschen dienen.

Papst Pius XII. hat vor 60 Jahren in einer denkwürdigen Ansprache an das in Anästhesie und Reanimation tätige Personal unterstrichen, dass es keine Pflicht gebe, immer alle potentiell zur Verfügung stehenden therapeutischen Mittel anzuwenden und dass es in genau festgelegten Fällen legitim sei, davon abzusehen (vgl. Acta Apostolicae Sedis XLIX [1957], 1027-1033). Es ist also moralisch gerechtfertigt, auf den Einsatz therapeutischer Mittel zu verzichten oder sie einzustellen, wenn ihr Einsatz nicht dem ethischen und humanen Kriterium entspricht, das später als »das richtige Maß in der Verwendung therapeutischer Mittel« bezeichnet wurde (vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung zur Euthanasie, 5. Mai 1980, IV: Acta Apostolicae Sedis LXXII [1980], 542-552).

Der besondere Aspekt dieses Kriteriums besteht darin, dass es die Resultate einbezieht, »die man unter Berücksichtigung des Zustandes des Kranken sowie seiner körperlichen und seelischen Kräfte erwarten kann« (ebd.). Es erlaubt demnach, zu einer Entscheidung zu gelangen, die ethisch gekennzeichnet ist durch den Verzicht auf »übertriebene medizinische Maßnahmen zur Lebensverlängerung« (»Übertherapie«).

Es handelt sich dabei um eine Entscheidung, die in verantwortlicher Weise die Grenze der menschlichen Sterblichkeit akzeptiert, wenn man feststellt, dass dem nicht entgegenwirkt werden kann. »Man will dadurch den Tod nicht herbeiführen, sondern nimmt nur hin, ihn nicht verhindern zu können«, wie der Katechismus der Katholischen Kirche ausführt (Nr. 2278). Dieser Perspektivenwechsel gibt der Begleitung der Sterbenden die Menschlichkeit zurück, ohne Rechtfertigungen für die Auslöschung von Leben zu liefern.

Wir sehen ganz klar, dass zum erhofften Ergebnis in keinem Verhältnis stehende Mittel nicht einzusetzen oder deren Einsatz zu beenden bedeutet, eine »Übertherapie« zu vermeiden, das heißt etwas zu tun, was in seiner ethischen Bedeutung etwas vollkommen anderes ist als Euthanasie, die stets unerlaubt bleibt, weil sie die Absicht hat, Leben zu beenden, indem sie den Tod herbeiführt.

Wendet man sich den konkreten dramatischen Umständen und der klinischen Praxis zu, sind die ins Spiel kommenden Faktoren oft schwer zu bewerten. Um zu bestimmen, ob ein klinisch angemessener medizinischer Eingriff wirklich verhältnismäßig ist, ist es nicht ausreichend, eine allgemeine Regel automatisch anzuwenden. Eine aufmerksame Unterscheidung ist notwendig, die das moralische Objekt, die Umstände und die Intention der beteiligten Subjekte in Betracht ziehen. Die persönliche und relationale Dimension des Lebens – und des Sterbens, das doch immer ein äußerster Moment des Lebens ist – muss in Behandlung und Begleitung des Kranken einen der Menschenwürde entsprechenden Raum einnehmen. In diesem  Prozess kommt dem Kranken die Hauptrolle zu. Das sagt der Katechismus der Katholischen Kirche ganz klar: »Die Entscheidungen sind vom Patienten selbst zu treffen, falls er dazu fähig und imstande ist« (ebd.). Vor allem ihm kommt es zu, natürlich im Dialog mit den Ärzten, die Behandlungen abzuwägen, die ihm vorgeschlagen werden und über ihre effektive Verhältnismäßigkeit in der konkreten Situation zu urteilen, was zum Verzicht auf sie verpflichtet, wenn das Nichtvorhandensein dieser Verhältnismäßigkeit erkannt wird. Das ist eine nicht einfache Bewertung angesichts der ärztlichen Tätigkeit, in der die therapeutische Beziehung immer fragmentarischer wird und das ärztliche Handeln vielfältige Vermittlungen berücksichtigen muss, die vom technischen und organisatorischen Kontext her verlangt werden.

Außerdem muss auf die Tatsache hingewiesen werden, dass diese Bewertungsprozesse der Beeinflussung durch wachsende Unterschiede bezüglich der Zweckmäßigkeit unterworfen sind, begünstigt durch die Kombination von technisch-wissenschaftlicher Möglichkeit und wirtschaftlichen Interessen. Immer kompliziertere, kostenintensivere Behandlungen sind nur immer begrenzteren privilegierten Personenkreisen oder Bevölkerungsgruppen zugänglich und stellen damit ernsthafte Fragen in Bezug auf die Nachhaltigkeit des Gesundheitswesens. Eine sozusagen systemische Tendenz zur wachsenden therapeutischen Ungleichheit. Sie ist auf globaler Ebene sehr gut erkennbar, vor allem bei einem Vergleich der verschiedenen Kontinente. Aber sie ist auch in den reicheren Ländern vorhanden, wo das Risiko besteht, dass der Zugang zur medizinischen Behandlung mehr von der Wirtschaftskraft der Menschen abhängt als von der effektiven Notwendigkeit einer Behandlung. In der vom Einfluss dieser verschiedenen Faktoren auf die klinische Praxis – aber auch auf die Kultur der Medizin allgemein – bestimmten Komplexität ist das oberste Gebot der verantwortungsvollen Nähe nachdrücklich hervorzuheben, wie es im Gleichnis vom barmherzigen Samariter im Evangelium deutlich wird (vgl. Lk 10,25-37).

Man könnte sagen, dass der kategorische Imperativ darin besteht, den Kranken niemals im Stich zu lassen. Die Angst vor der Situation, die uns an die Schwelle der äußersten Grenze des Menschen führt, und die zu treffenden schwierigen Entscheidungen setzen uns der Versuchung aus, der Beziehung auszuweichen. Aber das ist der Ort, an dem mehr als alles andere Liebe und Nähe unsererseits gefragt sind, indem wir die Grenze akzeptieren, die uns allen gemeinsam ist und die uns gerade dort solidarisch macht. Jeder möge in der ihm eigenen Art und Weise Liebe schenken: als Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter, Bruder oder Schwester, Arzt oder Krankenpfleger.

Aber er soll sie schenken! Auch wenn wir wissen, dass wir die Heilung von einer Krankheit niemals garantieren können, so können und müssen wir uns doch des lebenden Menschen stets annehmen: ohne dass wir selbst sein Leben abkürzen, aber auch ohne uns sinnlos gegen seinen Tod zu wehren. Auf dieser Linie bewegt sich die Palliativmedizin. Sie ist von großer Bedeutung auch auf kultureller Ebene, da sie sich dafür einsetzt, all das zu bekämpfen, was das Sterben angst- und leidvoller macht, das heißt Schmerz und Einsamkeit.

In den demokratischen Gesellschaften müssen heikle Themen wie diese mit Besonnenheit angegangen werden: ernsthaft, besonnen und mit der Bereitschaft, weitestmöglich gemeinsam getragene – auch normative – Lösungen zu finden. Denn auf der einen Seite ist in einer Atmosphäre gegenseitigen Zuhörens und Annehmens die Unterschiedlichkeit der Weltanschauungen, der ethischen Überzeugungen und der religiösen Zugehörigkeit zu berücksichtigen. Auf der anderen Seite kann der Staat nicht auf den Schutz der betroffenen Personen verzichten: Er muss die grundlegende Gleichheit verteidigen, aufgrund derer jeder vom Recht als Mensch anerkannt wird, der gemeinsam mit anderen in Gesellschaft lebt. Eine besondere Aufmerksamkeit muss dabei den Schwächsten gelten, die ihre Interessen nicht allein zur Geltung bringen können. Wenn dieser Kern der für das Zusammenleben wesentlichen Werte fehlt, dann schwindet auch die Möglichkeit, sich über eine Anerkennung des anderen zu verständigen, die Voraussetzung für jeden Dialog und das Leben in Gemeinschaft ist. Auch die Gesetzgebung im Bereich von Medizin und Gesundheitswesen fordert diese umfassende Sichtweise und diesen weiten Blick auf das, was das Gemeinwohl in konkreten Situationen am besten fördert.

In der Hoffnung, dass diese Reflexionen Ihnen eine Hilfe sein können, wünsche ich Ihnen von Herzen, dass Ihre Begegnung in zuversichtlicher und konstruktiver Atmosphäre stattfinden kann. Mögen Sie die angemessensten Wege finden, um diese heiklen Fragen zu behandeln im Hinblick auf das Wohl all jener, denen Sie begegnen und mit denen Sie in ihrem anspruchsvollen Beruf zusammenarbeiten. Der Herr segne sie und die Gottesmutter behüte Sie.

Aus dem Vatikan, 7. November 2017

Franziskus

 



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