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INTERNATIONALE THEOLOGISCHE KOMMISSION

AUF DER SUCHE NACH EINER UNIVERSALEN ETHIK.
EIN NEUER BLICK AUF DAS NATÜRLICHE SITTENGESETZ *

 

ÜBERSICHT

 

Einführung (1–11)

Kapitel 1: Konvergenzen

1.1.    Weisheitstraditionen und Religionen der Welt (12–17)
1.2.    Die griechisch-römischen Quellen des natürlichen Sittengesetzes (18–21)
1.3.    Die Lehre der Heiligen Schrift (22–25)
1.4.    Entwicklungen der christlichen Tradition (26–27)
1.5.    Weitere Entwicklungen (28–33)
1.6.    Das Lehramt der Kirche und das natürlichen Sittengesetzes (34–35)

Kapitel 2: Die Wahrnehmung der gemeinsamen sittlichen Werte (ab 36)

2.1.    Die Rolle der Gesellschaft und der Kultur (38)
2.2.   Die sittliche Erfahrung: „Das Gute ist zu tun“ (39–43)
2.3.   Die Entdeckung der Vorschriften des natürlichen Sittengesetzes: Die Universalität des   natürlichen Sittengesetzes (44–47)
2.4.   Die Vorschriften des natürlichen Sittengesetzes (48–52)
2.5.   Die Anwendung der gemeinsamen Vorschriften: Die Geschichtlichkeit des natürlichen Sittengesetzes (53–54)
2.6.   Die sittlichen Dispositionen der Person und ihr konkretes Handeln (55–59)

Kapitel 3: Die Fundamente des natürlichen Sittengesetzes

3.1.    Von der Erfahrung zu den Theorien (60–63)
3.2.   Natur, Person und Freiheit (64–68)
3.3.   Natur, Mensch und Gott: Von der Harmonie zum Konflikt (69–75)
3.4.   Wege zur Versöhnung (76–82)

Kapitel 4: natürliches Sittengesetz und Gemeinwesen

4.1.    Person und Gemeinwohl (83–85)
4.2.   Das natürliche Sittengesetz, Maßstab der politischen Ordnung (86–87)
4.3.   Vom natürlichen Sittengesetz zum Naturrecht (88–90)
4.4.   Naturrecht und positives Recht (91–92)
4.5.   Die politische Ordnung ist nicht die eschatologische Ordnung (93–95)
4.6.   Die politische Ordnung ist eine zeitliche und rationale Ordnung (96–100)

Kapitel 5: Jesus Christus, Erfüllung des natürlichen Sittengesetzes (ab 101)

5.1.    Der inkarnierte Logos, das Lebendige Gesetz (103–109)
5.2.   Der Heilige Geist und das Neue Gesetz der Freiheit (110–112)

Schluss (113–116)

Vorbemerkung: Das Thema „Auf der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf das natürliche Sittengesetz“ wurde der Internationalen Theologischen Kommission zum Studium vorgelegt. Um diese Untersuchung vorzubereiten, wurde eine Unterkommission gebildet, bestehend aus S.E. Mons. Roland Minnerath und den Professoren P. Serge-Thomas Bonino o.p. (Präsident der Unterkommission), Pierre Gaudette, Geraldo Luis Borges Hackmann, Barbara Hallensleben, Tony Kelly CSSR, Jan Liesen, John Michael McDermott SJ, Johannes Reiter unter Mitwirkung von S.E. Mons. Luis Ladaria SJ, Generalsekretär, sowie mit den Beiträgen der übrigen Kommissionsmitglieder. Die Plenumsdiskussion fand im Rahmen der Vollversammlungen der Internationalen Theologischen Kommission in Rom im Oktober 2006, Oktober 2007 und Dezember 2008 statt. Das Dokument wurde einstimmig von der Kommission angenommen und anschließend ihrem Präsidenten Kardinal William J. Levada unterbreitet, der seine Approbation zur Veröffentlichung gab.


Einführung

1. Gibt es objektive sittliche Werte, die in der Lage sind, die Menschen zu vereinen und ihnen Frieden und Glück zu verschaffen? Welche Werte sind das? Wie lassen sie sich erkennen? Wie sind sie umzusetzen im Leben der Personen und der Gemeinschaften? Diese beständigen Fragen über Gut und Böse sind heute dringlicher denn je, insofern den Menschen stärker bewusst geworden ist, dass sie eine einzige Weltgemeinschaft bilden. Die großen Mensch­heitsprobleme haben von nun an eine internationale, weltweite Dimension, zumal die Entwicklung der Kommunikationstechniken eine wachsende Interaktion zwischen Personen, Gesellschaften und Kulturen begünstigt. Ein lokales Ereignis kann fast unmittelbar eine weltweite Ausstrahlung haben. So entsteht das Bewusstsein einer globalen Solidarität, die ihre letzte Grundlage in der Einheit des Menschengeschlechts findet und im Sinn für weltweite Verantwortung zum Ausdruck kommt. Die Frage des ökologischen Gleichgewichts, des Umweltschutzes, der Ressourcen und des Klimas ist damit zu einer drängenden Sorge geworden, welche die gesamte Menschheit betrifft und deren Lösung weit über den nationalen Rahmen hinausgeht. Ebenso haben die Bedrohungen, die der Terrorismus, das organisierte Verbrechen und die neuen Formen von Gewalt und Unterdrückung den Gesellschaften aufbürden, eine weltweite Dimension. Die beschleunigten Entwicklungen der Biotechnologien, die manchmal die Identität des Menschen selbst bedrohen (genetische Manipulationen, Klonen, ...) rufen dringlich nach einer ethischen und politischen Reflexion mit universaler Reichweite ... In diesem Kontext gewinnt die Suche nach gemeinsamen ethischen Werten neu an Aktualität.

2. Durch ihre Weisheit, ihre Hochherzigkeit und manchmal ihren Heroismus bezeugen Männer und Frauen tatkräftig diese gemeinsamen ethischen Werte. Die Bewunderung, die sie in uns hervorrufen, ist Zeichen für ein spontanes erstes Erfassen sittlicher Werte. Die Reflexion an den Hochschulen und in den Wissenschaften über die kulturellen, politischen, ökonomischen, sittlichen und religiösen Dimensionen unserer sozialen Existenz nährt diese Debatte über das Gemeinwohl der Menschheit. Dann sind da auch die Künstler, die durch die Darstellung der Schönheit auf den Sinnverlust reagieren und die Hoffnung der Menschen erneuern. Weiterhin arbeiten Menschen in der Politik mit Energie und Kreativität, um Programme zur Ausrottung der Armut und zum Schutz der grundlegenden Freiheitsrechte durchzuführen. Sehr wichtig ist auch das beständige Zeugnis der Vertreter und Vertreterinnen der Religionen und der spirituellen Traditionen, die im Lichte der letzten Wahrheit und des absolut Guten leben wollen. Je auf ihre Weise und im gegenseitigen Austausch tragen sie alle dazu bei, den Frieden, eine gerechtere politische Ordnung, den Sinn für gemeinsame Verantwortung, eine gerechte Verteilung des Reichtums, den Respekt gegenüber der Umwelt, die Würde der menschlichen Person und deren Grundrechte zu fördern. Diese Bemühungen können jedoch nur zum Ziel gelangen, wenn die guten Absichten sich auf eine solide Grundübereinstimmung im Hinblick auf Güter und Werte stützen können, die in individueller wie auch in gemeinschaftlicher Hinsicht die tiefsten Bestrebungen des Menschen darstellen. Allein die Anerkennung und die Förderung dieser ethischen Werte können zum Aufbau einer menschlicheren Welt beitragen.

3. Die Suche nach dieser gemeinsamen ethischen Sprache betrifft alle Menschen. Für Christen ist sie geheimnisvoll verbunden mit dem Wirken des Wortes Gottes, des „wahren Lichtes, das jeden Menschen erleuchtet” (Joh 1,8), und mit dem Wirken des Heiligen Geistes, der in den Herzen „Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung” (Gal 5,22–23) keimen zu lassen vermag. Die Gemeinschaft der Christen, die „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute” teilt und „sich mit der Menschheit und mit ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden” weiß1, kann sich dieser gemeinsamen Verantwortung in keiner Weise entziehen. Erleuchtet durch das Evangelium, engagiert in einem geduldigen und respektvollen Dialog mit allen Menschen guten Willens, nehmen die Christen an der gemeinsamen Suche der menschlichen Werte, die es zu fördern gilt, teil: „Was immer wahrhaft, edel, recht, was lauter, liebenswert, ansprechend ist, was Tugend heißt und lobenswert ist, darauf seid bedacht!” (Phil 4,8). Christen wissen, dass Jesus Christus, „unser Friede” (Eph 2,14), der alle Menschen durch sein Kreuz mit Gott versöhnt hat, das tiefste Prinzip der Einheit ist, auf den hin das Menschengeschlecht zusammenzufinden berufen ist.

4. Die Suche nach einer gemeinsamen ethischen Sprache ist nicht zu trennen von einer Erfahrung der Umkehr, durch die Personen und Gemeinschaften sich von den Kräften abwenden, die den Menschen in der Gleichgültigkeit gefangen zu nehmen suchen oder die ihn drängen, Mauern gegen den anderen oder den Fremden zu errichten. Das Herz aus Stein – kalt, gefühllos und gleichgültig gegenüber dem Los des Nächsten und des Menschen­geschlechts – muss sich unter dem Wirken des Heiligen Geistes in ein Herz aus Fleisch verwandeln2, das sensibel ist für den Anruf der Weisheit, für das Mitleiden, die Sehnsucht nach Frieden und die Hoffnung für alle. Diese Umkehr ist die Bedingung eines wahren Dialoges.

5. An zeitgenössischen Versuchen zur Definition einer universalen Ethik mangelt es nicht. Gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zog die Gemeinschaft der Nationen die Konsequenzen aus den engen Verstrickungen, die zwischen dem politischen Totalitarismus und dem reinen Rechtspositivismus bestanden hatten, und definierte in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) unveräußerliche Rechte der menschlichen Person, die die positiven Gesetze des Staates transzendieren und ihnen als Bezugspunkt und Norm dienen müs­sen. Diese Rechte sind nicht einfach durch den Gesetzgeber zugestanden: sie werden ‚erklärt’, d.h. ihre objektive Existenz, vorgängig zur Entscheidung des Gesetzgebers, wird offenkundig gemacht. Sie leiten sich tatsächlich her von der „Anerkennung der angeborenen Würde aller Mitgliedern der Menschheitsfamilie“ (Präambel).

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stellt einen der schönsten Erfolge der modernen Geschichte dar. Sie „bleibt eine der höchsten Ausdrucksformen des menschlichen Gewissens in unserer Zeit“3 und bietet eine solide Basis für die Förderung einer gerechteren Welt. Die Resultate entsprachen jedoch nicht immer den hohen Erwartungen. Bestimmte Länder haben die Universalität dieser Rechte bestritten und sie als zu westlich beurteilt, was dazu anregt, eine umfassendere Formulierung für sie zu suchen. Darüber hinaus trug eine gewisse Inflation der Menschenrechte, die sich eher dem ungeordneten Begehren des konsumorientierten Individuums oder sektoriellen Ansprüchen verdankt als den objektiven Anforderungen des Gemeinwohls der Menschheit, zu deren Entwertung bei. Ohne Verbindung mit dem sittlichen Sinn der Werte, die Einzelinteressen überschreiten, führt die Vermehrung der juridischen Prozeduren und Reglementierungen nur zu einer Stockung, die letztlich nur den Interessen der Mächtigsten dient. Vor allem zeigt sich eine Tendenz, die Menschenrechte zugunsten eines rein utilitaristischen Legalismus neu zu interpretieren und sie von der ethischen und rationalen Dimension abzutrennen, die deren Grundlage und Ziel darstellt.4 

6. Um die ethische Grundlage der Menschenrechte zu erläutern, versuchten einige im Rahmen eines Dialogs zwischen den Kulturen und Religionen ein „Weltethos“ auszuarbeiten. Dieses „Weltethos“ bezeichnet die Gesamtheit der verpflichtenden Grundwerte, die seit Jahrhunderten den Schatz der menschlichen Erfahrung bilden. Es ist in allen großen religiösen und philosophischen Traditionen zu finden.5 Dieses Projekt verdient Aufmerksamkeit und ist bezeichnend für das gegenwärtige Bedürfnis nach einer Ethik mit universaler und globaler Gültigkeit. Doch genügt die rein induktive Suche parlamentarischen Typs nach einem bereits bestehenden Minimalkonsens den Anforderungen, das Recht im Absoluten zu gründen? Und führt weiterhin diese Minimalethik nicht dazu, die starken ethischen Anforderungen jeder einzelnen der Religionen oder Weisheitstraditionen zu relativieren?

7. Seit mehreren Jahrzehnten ist die Frage der ethischen Grundlagen des Rechts und der Politik in bestimmten Sektoren der gegenwärtigen Kultur ausgeklammert worden. Unter dem Vorwand, dass jeder Anspruch auf eine objektive und universale Wahrheit Quelle von Intoleranz und Gewalt sei und dass allein der Relativismus den Pluralismus der Werte und die Demokratie erhalten könne, rechtfertigt man den Rechtspositivismus, der es ablehnt, sich auf ein objektives, ontologisches Kriterium für das Gerechte zu beziehen. In dieser Perspektive ist der letzte Horizont des Rechts und der sittlichen Norm die geltende Gesetzgebung, die definitionsgemäß gerecht ist, weil sie den Willen des Gesetzgebers zum Ausdruck bringt. Der Weg ist also offen für die Willkür der Macht, für die Diktatur der zahlenmäßigen Mehr­heit und für die ideologische Manipulation, zum Schaden des Gemeinwohls. „In der derzeitigen Ethik und Rechtsphilosophie sind die Postulate des Rechtspositivismus weit verbreitet. Die Folge ist, dass die Gesetzgebung häufig lediglich zu einem Kompromiss zwischen verschiedenen Interessen wird: Man versucht, private Interessen oder Wüsche, die den aus der sozialen Verantwortung erwachsenden Verpflichtungen zuwiderlaufen, in Rechte umzuwandeln”.6 Doch der Rechtspositivismus ist offenkundig unzureichend, denn legitim handeln kann der Gesetzgeber nur innerhalb gewisser Grenzen, die aus der Würde der menschlichen Person hervorgehen, und im Dienst der Entwicklung des authentisch Mensch­lichen. Der Gesetzgeber kann also die Festlegung dessen, was mensch­lich ist, nicht äußerlichen und oberflächlichen Kriterien überlassen, wie es zum Beispiel geschähe, wenn er alles aus sich heraus legitimierte, was im Bereich der Biotechnologien realisierbar ist. Kurz, er muss auf ethisch verantwortliche Weise handeln. Weder kann die Politik von der Ethik absehen noch die zivilen Gesetze und die Rechtsordnung von einem höheren Moralgesetz.

8. In diesem Kontext, in dem der Bezug zu absoluten objektiven Werten mit universaler Anerkennung problematisch geworden ist, empfehlen einige in dem Wunsch, gemeinsamen ethischen Entscheidungen dennoch eine rationale Grundlage zu geben, eine „Diskursethik“ in der Linie eines „dialogischen“ Verständnisses der Moral. Die Diskursethik besteht darin, im Laufe einer ethischen Debatte nur diejenigen Normen zu verwenden, denen alle betroffenen Teilnehmenden ihre Zustimmung geben können, wenn sie auf „strategische“ Verhaltensweisen zur Durchsetzung ihrer eigenen Sicht verzichten. So lässt sich feststellen, ob eine Verhaltens- oder Handlungsregel oder eine Verhaltensweise sittlich ist, denn wenn man die kulturellen und historischen Bedingtheiten ausklammert, bietet das Prinzip des Diskurses eine Garantie für Universalität und Rationalität. Die Diskursethik interessiert sich vor allem für die Methode, durch die dank der Debatte die ethischen Prinzipien und Normen erprobt und für alle Beteiligten verbindlich werden können. Sie ist wesentlich ein Verfahren, um den Wert vorgeschlagener Normen zu testen, kann jedoch keine neuen substantiellen Inhalte hervorbringen. Die Diskursethik ist also eine rein formale Ethik, die nicht die sittlichen Grundorientierungen betrifft. Sie läuft also Gefahr, sich auf die Suche nach einem Kompromiss zu beschränken. Sicherlich sind Dialog und Debatte immer notwendig, um eine durchführbare Übereinstimmung zur konkreten Umsetzung sittlicher Normen in der gegebenen Situation zu erzielen, doch sie dürfen das sittliche Gewissen nicht an den Rand drängen. Eine wahre Debatte ersetzt nicht die persönlichen sittlichen Überzeugungen, sondern setzt diese voraus und bereichert sie.

9. Wir sind uns bewusst, was gegenwärtig mit dieser Frage auf dem Spiel steht, und wollen in diesem Dokument alle einladen, die sich nach den letzten Grundlagen der Ethik sowie der rechtlichen und politischen Ordnung fragen, über die Beiträge nachzudenken, die eine erneuerte Darstellung der Lehre vom natürlichen Sittengesetz birgt. Diese Lehre besagt im Wesentlichen, dass Personen und menschliche Gemeinschaften fähig sind, im Licht der Vernunft die Grundorientierungen eines sittlichen Handelns in Übereinstimmung mit der Natur der menschlichen Person zu erkennen und sie in Form von Vorschriften oder Geboten auf normative Weise zum Ausdruck zu bringen. Diese grundlegenden Gebote sind objektiv und universal, und sie sind dazu bestimmt, die Gesamtheit der sittlichen, rechtlichen und politischen Festlegungen, die das Leben des Menschen und der Gesellschaft leiten, grundzulegen und zu inspirieren. Sie stellen dazu eine ständige kritische Instanz dar und garantieren die Würde der menschlichen Person angesichts vorübergehender Ideologien. Im Laufe ihrer Geschichte hat die christliche Gemeinschaft, geleitet durch den Geist Jesu Christi und im kritischen Dialog mit den Weisheitstraditionen, denen sie begegnet ist, diese Lehre über das natürliche Sittengesetz als ethische Grundnorm angenommen, gereinigt und weiterent­wickelt. Doch das Christentum hat kein Monopol für das natürliche Sittengesetz. Dieses gründet in der allen Menschen gemeinsamen Vernunft und ist die Grundlage der Zusammenarbeit aller Menschen guten Willens, welche religiösen Überzeugungen sie auch haben mögen.

10. Es ist wahr, dass der Ausdruck „natürliches Sittengesetz“ im heutigen Kontext Quelle zahlreicher Missverständnisse ist. Manchmal ruft er einfach den Eindruck einer resignierten und völlig passiven Unterwerfung des Menschen unter die Gesetze der physischen Natur hervor, während der Mensch doch zu Recht versucht, diese Bedingtheiten zu beherrschen und zu seinen Gunsten zu lenken. Manchmal wird das natürliche Sittengesetz als eine objektive Gegebenheit vorgestellt, die sich von außen dem persönlichen Gewissen auferlege, unabhängig von der Arbeit der Vernunft und der Subjektivität, und steht so unter Verdacht, eine für die Würde der freien menschlichen Person unerträgliche Heteronomie einzuführen. Manchmal hat die christliche Theologie im Laufe ihrer Geschichte auch zu leicht mit dem natürlichen Sittengesetz anthropologische Positionen gerechtfertigt, die sich in der Folgezeit als durch den historischen und kulturellen Kontext bedingt erwiesen haben. Ein tieferes Verständnis der Beziehungen zwischen dem sittlichen Subjekt, der Natur und Gott sowie eine bessere Berücksichtigung der Geschichtlichkeit, der die konkreten Anwendungen des natürlichen Sittengesetzes unterliegen, machen es jedoch möglich, diese Missverständnisse zu zerstreuen. Es ist heute auch wichtig, die traditionelle Lehre vom natürlichen Sittengesetz in einer Terminologie vorzulegen, die besser die personale und existentielle Dimension des sittlichen Lebens zum Ausdruck bringt. Man muss auch stärker auf der Tatsache bestehen, dass der Ausdruck der Erfordernisse des natürlichen Sittengesetzes untrennbar ist von der Bemühung der gesamten Menschheitsgemeinschaft, egoistische und parteiische Tendenzen zu überwinden und einen globalen Zugang zu der „Ökologie der Werte” zu entwickeln, ohne die das menschliche Leben seine Unversehrtheit und seinen Verantwortungssinn für das Wohl aller zu verlieren riskiert.

11. Der Gedanke des natürlichen Sittengesetzes nimmt zahlreiche Elemente auf, die den großen religiösen und philosophischen Weisheitstraditionen der Menschheit gemeinsam sind. Im Kapitel 1 beginnt unser Dokument daher mit der Erinnerung an diese „Konvergenzen“. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wird hier gezeigt, dass die großen religiösen und philosophischen Weisheitstraditionen die Existenz eines weitgehend gemeinsamen sittlichen Erbes bezeugen, das die Grundlage jeden Dialogs über sittliche Fragen bildet. Mehr noch, diese Weisheitstraditionen legen auf die eine oder andere Weise nahe, dass dieses Erbe eine universale ethische Botschaft auslegt, die der Natur der Dinge innewohnt und die die Menschen zu entschlüsseln vermögen. Das Dokument erinnert anschließend an einige wesentliche Grundzüge der historischen Entwicklung der Idee des natürlichen Sittengesetzes und erwähnt gewisse moderne Interpretationen, die teilweise am Ursprung der Schwierigkeiten stehen, die unsere Zeitgenossen angesichts dieses Ausdrucks empfinden. In Kapitel 2 („Die Wahrnehmung der gemeinsamen sittlichen Werte”) beschreibt unser Dokument, wie die menschliche Person, ausgehend von den einfachsten Gegebenheiten der sittlichen Erfahrung, unmittelbar gewisse grundlegende sittliche Güter erfasst und folglich die Gebote des natürlichen Sittengesetzes formuliert. Diese stellen nicht einen fertigen Kodex von unantastbaren Vorschriften dar, sondern ein beständiges und normatives Inspirationsprinzip im Dienst des konkreten sittlichen Lebens der Person. Kapitel 3 („Die Grundlagen des natürlichen Sittengesetzes”) geht von der gemeinsamen Erfahrung zur Theorie über und vertieft die philosophischen, metaphysischen und religiösen Grundlagen des natürlichen Sittengesetzes. Um auf einige zeitgenössische Einwände zu antworten, präzisiert das Kapitel die Rolle der Natur im personalen Handeln und fragt, ob es möglich ist, dass die Natur eine sittliche Norm darstellt. Das Kapitel 4 („Natürliches Sittengesetz und Gemeinwesen”) legt die regulative Rolle der Vorschriften des natürlichen Sittengesetzes im politischen Leben dar. Die Lehre vom natürlichen Sittengesetz besitzt Kohärenz und Gültigkeit bereits auf der philosophischen Ebene der allen Menschen gemeinsamen Vernunft, Kapitel 5 („Jesus Christus, Erfüllung des natürlichen Sittengesetzes”) zeigt jedoch, dass sie ihren vollen Sinn innerhalb der Heilsgeschichte erhält: gesandt durch den Vater, ist Jesus Christus durch seinen Geist wahrhaft die Fülle des ganzen Gesetzes.

Kapitel 1: Konvergenzen

1.1. Weisheitstraditionen und Religionen der Welt

12. In den unterschiedlichen Kulturen haben die Menschen nach und nach Weisheitstraditionen erarbeitet und entwickelt, in denen sie ihre Sicht der Welt sowie ihre reflektierte Auffassung vom Ort des Menschen in der Gesellschaft und im Kosmos ausdrücken und weitergeben. Vor jeder begrifflichen Theoriebildung übermitteln diese Weisheitstraditionen, die oft religiöser Natur sind, eine Erfahrung, die identifiziert, was die volle Verwirklichung des personalen Lebens und den guten Gang des sozialen Lebens begünstigt oder behindert. Sie bilden eine Art „kulturelles Kapitel“, das bei der Suche nach einer gemeinsamen Weisheitsgestalt erforderlich ist, um auf die gegenwärtigen ethischen Herausforderungen zu antworten. Für den christlichen Glauben fangen diese Weisheitstraditionen trotz ihrer Grenzen und zum Teil sogar ihrer Irrtümer einen Widerschein der göttlichen Weisheit ein, die im Herzen der Menschen am Werk ist. Sie rufen nach Aufmerksamkeit und Respekt und können den Wert einer praeparatio evangelica haben.

Form und Verbreitung dieser Traditionen können sich erheblich unterscheiden. Nichtsdestoweniger bezeugen sie in erster Linie die Existenz eines Erbes sittlicher Werte, die allen Menschen gemeinsam sind, unabhängig davon, wie diese Werte innerhalb einer be­stimmten Weltsicht gerechtfertigt werden. Die „Goldene Regel“ („Füge keinem Menschen zu, was du selbst nicht möchtest, dass es dir widerfährt“ [Tob 4,15]) findet sich beispielsweise in der einen oder anderen Form in den meisten dieser Weisheitstraditionen.7 Darüber hinaus kommen diese Traditionen im allgemeinen in der Anerkennung überein, dass die großen ethischen Regeln nicht nur für eine bestimme Menschengruppe verbindlich sind, sondern universal für jedes Individuum und für alle Völker gelten. Zahlreiche Traditionen erkennen schließlich auch an, dass diese universalen sittlichen Verhaltensweisen durch die Natur des Menschen selbst hervorgerufen sind: sie bringen zum Ausdruck, wie der Mensch sich zugleich kreativ und harmonisch in eine kosmische oder metaphysische Ordnung einzufügen hat, die ihn übersteigt und seinem Leben Sinn gibt. Diese Ordnung ist wahrhaft durchdrungen von einer innewohnenden Weisheit. Sie ist Trägerin einer sittlichen Botschaft, welche die Menschen zu entschlüsseln vermögen.

13. In den Hindu-Traditionen ist die Welt – der Kosmos wie auch die menschlichen Gesellschaften – durch eine Ordnung bzw. ein grundlegendes Gesetz (dharma) regiert, das man respektieren muss, wenn man sich nicht schwerwiegende Störungen des Gleichgewichts zuziehen will. Das Dharma legt also die sozio-religiösen Verpflichtungen des Menschen fest. Seiner Eigenart nach versteht sich die Morallehre des Hinduismus im Licht der grundlegenden Lehren der Upanishaden: als Glaubensüberzeugung von einem unbestimmten Kreislauf von Seelenwanderungen (samsāra), verbunden mit der Vorstellung, wonach die guten oder schlech­ten Taten, die während des gegenwärtigen Lebens begangen wurden (karma), einen Einfluss auf die einander folgenden Wiedergeburten haben. Diese Lehren haben bedeutsame Folgen für das Verhalten gegenüber dem anderen: sie implizieren ein hohes Maß an Güte und Toleranz, den Sinn für das absichtslose Handeln zugunsten der anderen sowie die Praxis der Gewaltlosigkeit (ahimsā). Die Hauptströmung des Hinduismus unterscheidet zwei Textcorpora: shruti („das Gehörte“, d.h. die Offenbarung) und smrti („das Erinnerte“, d.h. die Tradition). Die ethischen Vorschriften finden sich vor allem in der smrti, genauer in den dharmashāstra (deren wohl wichtigste die mānava dharmashāstra oder Gesetze des Manu sind, um 200–100 v.Chr.). Neben dem Grundprinzip, wonach gilt: „Der unvordenkliche Brauch ist das transzendente Gesetz, das die Heilige Schrift und die Codices der göttlichen Gesetzgeber bestätigt haben; folglich muss sich jeder Mensch der drei ersten Klassen, der den in ihm wohnenden höchsten Geist respektiert, immer mit Sorgfalt dem unvordenklichen Brauch angleichen”8, findet sich dort eine der „Goldenen Regel“ gleichwertige Praxis: „Ich werde dir sagen, was das Wesen des größten Gutes des menschlichen Daseins ist. Der Mensch, der die Religion (dharma) des universalen Nicht-Schadens (ahimsā) praktiziert, erlangt das größte Gut. Dieser Mensch, der sich in den drei Leidenschaften – Begierde, Zorn und Geiz – beherrscht und im Verhältnis zu den Seienden auf sie verzichtet, erringt den Erfolg. [...] Dieser Mensch, der alle Geschöpfe wie sein ‚Selbst’ betrachtet und sie wie sein eigenes ‚Ich’ behandelt, indem er den strafenden Knüppel aus der Hand legt und seinen Zorn vollständig beherrscht, ein solcher wird sich die Erlangung des Glücks sichern. [...] Man soll nicht einem anderen antun, was man als schädlich für sich selbst betrachtet. Das ist in Kürze die Regel der Tugend. [...] Im Verweigern und im Geben, im Überfluss und im Unglück, im Angenehmen und im Unangenehmen, urteile man über alle Folgen, indem man sein eigenes ‚Ich’ bedenkt“.9 Mehrere Vorschriften der Hindu-Tradition können in Parallele zu den Anforderungen des Dekalogs gesetzt werden.10

14. Der Buddhismus wird im allgemeinen durch die vier „edlen Wahrheiten“ definiert, die der Buddha nach seiner Erleuchtung lehrte: 1) Die Wirklichkeit ist Leiden und Unzufriedenheit; 2) der Ursprung des Leidens ist die Begierde; 3) das Aufhören des Leidens ist möglich (durch die Auslöschung der Begierde); 4) es gibt einen Weg, der zum Aufhören des Leidens führt. Dieser Weg ist der „edle achtfache Pfad“, der in der Praxis der Disziplin, der Konzentration und der Weisheit besteht. In ethischer Hinsicht lassen sich die günstigen Handlungen in den fünf Vorschriften (shīla, sīla) zusammenfassen: 1) den Lebewesen nicht schaden und ihnen nicht das Leben nehmen; 2) nicht nehmen, was nicht gegeben ist; 3) kein ungehöriges sexuelles Benehmen haben; 4) keine falschen oder lügnerischen Worte verwenden; 5) kein Rausch­mittel zu sich nehmen, das die Selbstbeherrschung mindert. Der tiefe Altruismus der buddhistischen Tradition, der sich überträgt in eine entschiedene Haltung der Gewaltlosigkeit, des freundschaftlichen Wohlwollens und des Mitleidens, stimmt mit der goldenen Regel überein.

15. Die chinesische Zivilisation ist zutiefst geprägt durch den Taoismus des Lăozĭ oder Lao-Tse (6. Jh. v. Chr.). Nach Lao-Tse ist der Weg oder das Dào das vorrangige Prinzip, das dem ganzen Universum innewohnt. Es ist ein unbegreifliches Prinzip des ständigen Wandels unter dem Wirken der beiden konträren und komplementären Pole yīn und yáng. Es ist Sache des Menschen, sich mit diesem natürlichen Prozess der Umwandlung zu verbinden, sich treiben zu lassen im Fluss der Zeit dank der Haltung des Nicht-Handelns (wú-wéi). Die Suche nach Harmonie mit der Natur, die untrennbar zugleich materiell und spirituell ist, befindet sich also im Herzen der taoistischen Ethik. Was Konfuzius angeht (551–479 v.Chr.), „Meister Kong“, so versucht er anlässlich einer Periode tiefer Krise, die Ordnung wiederherzustellen durch das Respektieren der Riten, gründend auf der Ehrerbietung der Kinder gegenüber ihren Eltern, die im Zentrum des ganzen sozialen Lebens stehen muss. In der Tat nehmen die sozialen Beziehungen die Familienbeziehungen zum Modell. Die Harmonie wird erreicht durch eine Ethik des rechten Maßes, wobei die ritualisierte Beziehung (das ), das den Menschen in die natürliche Ordnung einfügt, das Maß aller Dinge ist. Das zu erreichende Ideal ist das ren, die vollkommene Tugend der Menschheit, bestehend aus Selbstbeherrschung und Wohlwollen für den anderen. „‚Sanftmut’ (shù), ist das nicht das Leitwort? Was du nicht möchtest, dass man es dir tut, das füge auch anderen nicht zu“.11 Das Praktizieren dieser Regel weist den Weg zum Himmel (Tiān Dào).

16. In den afrikanischen Traditionen ist die grundlegende Wirklichkeit das Leben selbst. Das Leben ist das kostbarste Gut, und das Ideal des Menschen besteht nicht nur darin, bis ins Alter ohne Sorgen zu leben, sondern vor allem darin, sogar nach dem Tod eine Lebenskraft zu bleiben, die ständig gestärkt und belebt wird in der Nachkommenschaft und durch sie. In der Tat ist das Leben eine dramatische Erfahrung. Der Mensch als Mikrokosmos inmitten des Makrokosmos erlebt intensiv das Drama der Konfrontation zwischen Leben und Tod. Der ihm zukommende Auftrag, den Sieg des Lebens über den Tod zu sichern, leitet und bestimmt sein ethisches Handeln. Auf diese Weise muss der Mensch in einem konsequenten ethischen Horizont die Verbündeten des Lebens herausfinden, sie für seine Sache gewinnen und dadurch sein Überleben sichern, das zugleich der Sieg des Lebens ist. Das ist die tiefe Bedeutung der traditionellen afrikanischen Religionen. Die afrikanische Ethik offenbart sich so als eine anthropozentrische und lebensbezogene Ethik: Handlungen, die man für imstande hält, die Entfaltung des Lebens zu begünstigen, es zu bewahren, zu schützen, es aufblühen zu lassen oder das Lebenspotential der Gemeinschaft zu vermehren, werden aufgrund eben dieser Tatsache als gut betrachtet; jede Handlung, die als schädlich für das Leben des Individuums oder der Gemeinschaft eingeschätzt wird, gilt als schlecht. Die traditionellen afrikanischen Religionen erscheinen so als wesentlich anthropozentrische Religionen, doch eine aufmerksame Beobachtung in Verbindung mit der Reflexion zeigt, dass weder der Platz, der dem lebendigen Menschen zuerkannt wird, noch der Ahnenkult etwas Geschlossenes darstellen. Die traditionellen afrikanischen Religionen erreichen ihre Krönung in Gott, der Quelle des Lebens, dem Schöpfer von allem, was existiert.

17. Der Islam versteht sich selbst als die Wiederherstellung der ursprünglichen natürlichen Religion. Er sieht in Mohammed den letzten Propheten, von Gott gesandt, um die Menschen endgültig wieder auf den rechten Weg zu bringen. Doch Mohammed hatte Vorgänger: „Es gibt keine Gemeinschaft, an der nicht ein warnender Bote vorbeigegangen wäre“.12 Der Islam versteht sich also als eine universale Berufung und richtet sich an alle Menschen, die als Muslime „von Natur aus“ betrachtet werden. Das islamische Gesetz, das untrennbar zugleich ge­meinschaftlich, sittlich und religiös ist, wird verstanden als ein direkt von Gott gegebenes Gesetz. Die muslimische Ethik ist also grundlegend eine Gehorsamsmoral. Das Gute tun bedeutet den Geboten gehorchen; das Böse tun ist Ungehorsam ihnen gegenüber. Die menschliche Vernunft interveniert, um den Offenbarungscharakter des Gesetzes anzuerkennen und konkrete rechtliche Auswirkungen daraus abzuleiten. Sicherlich trug im 9. Jahrhundert die Schule Mu’tazila den Gedanken vor, wonach „das Gute und das Bösen in den Dingen sind“, d.h. dass bestimmte Verhaltensweisen in sich gut oder schlecht sind, vorgängig zum göttlichen Gesetz, das sie gebietet oder verbietet. Die Mu’taziliten meinten also, der Mensch könne durch seine Vernunft erkennen, was gut und was böse ist. In ihrer Sicht weiß der Mensch spontan, dass die Ungerechtigkeit oder die Lüge böse sind und dass es Pflicht ist, ein anvertrautes Gut zurückzuerstatten, einen Schaden von sich abzuwenden oder sich dankbar gegenüber seinen Wohltätern zu erweisen, unter denen Gott der erste ist. Doch die Ash’ariten, die in der sunnitischen Orthodoxie vorherrschen, vertraten eine gegenteilige Theorie. Als Anhänger eines radikalen Okkasionalismus, welcher der Natur keinerlei Konsistenz zuerkennt, meinen sie, dass nur die positive Offenbarung Gottes Gut und Böse, das Gerechte und das Ungerechte festlegt. Viele unter den Vorschriften dieses positiven göttlichen Rechts nehmen die großen Elemente des sittlichen Erbes der Menschheit auf und können in Bezug zum Dekalog gesetzt werden.13

1.2. Die griechisch-römischen Quellen des natürlichen Sittengesetzes

18. Der Gedanke eines natürlichen Sittengesetzes, das den positiven gesetzlichen Bestimmungen vorausgeht, begegnet schon in der klassischen griechischen Kultur mit der exemplarischen Gestalt der Antigone, der Tochter des Ödipus. Ihre zwei Brüder, Eteokles und Polyneikes, sind sich im Kampf um die Macht entgegengetreten und haben sich gegenseitig getötet. Polyneikes, der Rebell, ist dazu verurteilt, ohne Begräbnis zu bleiben und auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden. Doch um dem Pflichten der Pietät gegenüber ihrem toten Bruder gerecht zu werden, beruft sich Antigone gegen das Verbot des Begräbnisses, das der Tyrann Kreon ausgesprochen hat, auf die „ungeschriebenen und unwandelbaren Gesetze”:

„Kreon: Doch aber scheulos übertratst du dies Gesetz?
Antigone: Es war ja Zeus nicht, der den Heroldsruf gesandt,
Noch Dike, jener untern Macht Mitwohnerin,
Die solche Satzung stellten auf den Sterblichen.
Auch hielt ich niemals deinen Spruch von solcher Kraft,
Um über alle wandellos unschriftliche
Göttliche Gebote, sterblich nur, hinauszugehn.
Denn heute nicht und gestern, nein, es leben die
Ohn Ende, niemand wüsste, wann sie kamen, auch.
Für diese möcht ich nimmer, keines Sterblichen
Bedünken scheuend, bei den Göttern Züchtigung ausstehn“.14

19. Platon und Aristoteles nehmen die von den Sophisten getroffene Unterscheidung zwischen Gesetzen, die ihren Ursprung in einer Übereinkunft, d.h. einer rein positiven Entscheidung (thesis) haben, und solchen, die „von Natur aus“ (physis) gelten, wieder auf. Die ersten sind weder ewig noch allgemein gültig, und sie verpflichten nicht jeden. Letzere verpflichten alle, immer und überall.15 Manche Sophisten, wie Kallikles in Platons Dialog Gorgias, griffen auf diese Unterscheidung zurück, um die Legitimität der Gesetze in Frage zu stellen, die von den menschlichen Gemeinwesen festgelegt sind. Diesen Gesetzen stellen sie ihre – enge und irrige – Vorstellung von der Natur gegenüber, die auf ihren rein physischen Bestandteil reduziert wird. So empfehlen sie, entgegen der politischen und rechtlichen Gleichheit der Bürger und Bürgerinnen im Gemeinwesen, was ihnen als das evidenteste der „Naturgesetze“ erschien: der Stärkste soll den Sieg über den Schwächsten davontragen.16

20. Nichts von all dem findet sich bei Platon und Aristoteles. Sie bringen das natürliche Gesetz und die positiven Gesetze des Gemeinwesens nicht in Gegensatz zueinander. Sie sind überzeugt, dass die Gesetze des Gemeinwesens im allgemeinen gut sind und die mehr oder weniger gelungene Umsetzung eines Naturrechts darstellen, das der Natur der Dinge entspricht. Für Platon ist das Naturrecht ein ideales Recht, eine Norm für Gesetzgeber und Bürger, eine Regel, die es erlaubt, positive Gesetze zu stiften und auszuwerten.17 Für Aristoteles entspricht diese höchste Norm der Sittlichkeit der Verwirklichung der Wesensform der Natur. Sittlich ist, was natürlich ist. Das Naturrecht ist unwandelbar, das positive Recht wandelt sich je nach Völkern und verschiedenen Epochen. Doch das Naturrecht ist nicht jenseits des positiven Rechts angesiedelt. Es verkörpert sich im positiven Recht, das die Anwendung der allgemeinen Idee der Gerechtigkeit auf das soziale Leben in seiner Vielfalt darstellt.

21. In der Stoa wird das natürliche Sittengesetz zum Schlüsselbegriff einer universalistischen Ethik. Gut und zu tun ist das, was der Natur entspricht, verstanden in einem zugleich physisch-biologischen und rationalen Sinne. Jeder Mensch, welcher Nation er auch angehört, muss sich als ein Teil in das Ganze des Universums integrieren. Er soll nach der Natur leben.18 Dieser Imperativ setzt voraus, dass ein ewiges Gesetz existiert, ein göttlicher Logos, der ebenso im Kosmos gegenwärtig ist und ihn mit Rationalität durchtränkt, wie in der menschlichen Vernunft. So ist für Cicero das Gesetz „die höchste Vernunft, eingeschrieben in die Natur, die uns vorschreibt, was zu tun ist, und uns das Gegenteil untersagt“.19 Natur und Vernunft bilden die beiden Quellen unserer Erkenntnis des grundlegenden ethischen Gesetzes, das göttlichen Ursprungs ist.

1.3. Die Lehre der Heiligen Schrift

22. Die Gabe des Gesetzes am Sinai, deren Mitte die „Zehn Worte“ bilden, ist ein wesentliches Element der religiösen Erfahrung Israels. Dieses Bundesgesetz umfasst grund­legende ethische Vorschriften. Sie legen die Weise fest, wie das erwählte Volk durch die Heiligkeit seines Lebens auf die Erwählung Gottes antworten soll: „Rede zur ganzen Gemeinde der Israeliten, und sag zu ihnen: Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig“ (Lev 19,2). Doch diese ethischen Verhaltensweisen gelten auch für die anderen Völker, so dass Gott die fremden Nationen, die Gerechtigkeit und Recht verletzen, zur Rechenschaft zieht.20 Tatsächlich hatte Gott bereits in der Person des Noah einen Bund mit der Gesamtheit des Menschengeschlechts geschlossen, einen Bund, der insbesondere die Ehrfurcht vor dem Leben erforderte (Gen 9).21 Noch grundlegender erscheint die Schöpfung selbst als Akt, durch den Gott die Gesamtheit des Universums strukturiert, indem er ihm ein Gesetz gibt. „Loben sollen sie [die Sterne] den Namen des Herrn; denn er gebot, und sie waren erschaffen. Er stellte sie hin für immer und ewig, er gab ihnen ein Gesetz, das sie nicht übertreten“ (Ps 148,5–6). Dieser Gehorsam der Kreaturen gegenüber dem Gesetz Gottes ist ein Modell für die Menschen.

23. Neben den Texten, die sich auf die Heilsgeschichte beziehen, mit den theologischen Hauptthemen Erwählung, Verheißung, Gesetz und Bund, enthält die Bibel auch eine Weisheitsliteratur, die nicht direkt die Nationalgeschichte Israels behandelt, sondern sich für den Ort des Menschen in der Welt interessiert. Sie entwickelt die Überzeugung, dass es eine richtige, „weise“ Art gibt, die Dinge zu tun und sein Leben zu führen. Der Mensch muss sich einsetzen, um sie zu suchen, und sich dann bemühen, sie in die Praxis umzusetzen. Diese Weisheit findet sich nicht so sehr in der Geschichte als vielmehr in der Natur und im alltäglichen Leben.22In dieser Literatur wird die Weisheit oft als eine göttliche Vollkommenheit vorgestellt, manchmal hypostasiert. Sie tut sich auf staunenswerte Weise in der Schöpfung kund, deren „Werkmeisterin“ (Weish 7,21) sie ist. Die Harmonie, die unter den Geschöpfen herrscht, gibt Zeugnis für sie. An dieser Weisheit, die von Gott kommt, erhält der Mensch auf vielfältige Weise Anteil. Diese Teilhabe ist eine Gabe Gottes, die man im Gebet erbitten muss: „Ich betete, und es wurde mir Klugheit gegeben; ich flehte, und der Geist der Weisheit kam zu mir“ (Weish 7,7). Sie ist auch die Frucht des Gehorsams gegenüber dem offenbarten Gesetz. In der Tat ist die Torah gleichsam die Verkörperung der Weisheit. „Begehrst du Weisheit, so bewahre die Gebote, und der Herr wird sie dir gewähren. Denn die Furcht des Herrn ist Weisheit und Erziehung“ (Sir 1,26–27). Doch die Weisheit ist auch Folge einer scharfsinnigen Beobachtung der Natur und der menschlichen Sitten mit dem Ziel, die ihnen innewohnende Erkennbarkeit und ihren exemplarischen Wert zu entdecken.23

24. In der Fülle der Zeiten verkündigte Jesus Christus die Ankunft des Reiches Gottes als Offenbarung der barmherzigen Liebe Gottes, der mitten unter den Menschen in eigener Person gegenwärtig wird und diese zu einer Bekehrung und einer freien Antwort der Liebe ruft. Diese Verkündigung ist also nicht folgenlos für die Ethik, für den Aufbau der Welt und die mensch­lichen Beziehungen. In seiner sittlichen Unterweisung, deren bewundernswerte Verdichtung die Bergpredigt darstellt, nimmt Jesus seinerseits die Goldene Regel auf: „Alles also, was ihr wollt, dass die Menschen es euch tun, das tut auch ihnen! Denn dies ist das Gesetz und die Propheten” (Mt 7,1224). Diese positive Vorschrift vervollständigt die negative Formulierung derselben Regel im Alten Testament: „Und was du verabscheust, tue keinem anderen an!“ (Tob 4,15).25 

25. Zu Beginn des Römerbriefs beschreibt Paulus mit der Absicht, die universale Angewiesenheit auf das durch Christus gebrachte Heil zu bekunden, die religiöse und sittliche Situation, die allen Menschen gemeinsam ist. Er vertritt die Möglichkeit einer natürlichen Gotteserkenntnis: „Was an Gott erkennbar ist, ist ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart. Denn was von ihm unsichtbar ist, seine unvergängliche Kraft und Gottheit, wird seit der Erschaffung der Welt mit der Vernunft an seinen Werken wahrgenommen, so dass sie unentschuldbar sind“ (Röm 1,19–20).26 Doch diese Erkenntnis hat sich in Götzendienst verkehrt. Paulus stellt Juden und Heiden auf dieselbe Ebene und vertritt die Existenz eines ungeschriebenen sittlichen Gesetzes in den Herzen.27 Dieses Gesetz erlaubt aus sich heraus Gut und Böse zu unterscheiden. „Wenn die Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus die Forderungen des Gesetzes erfüllen, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab, und ihre Gedanken klagen sich gegenseitig an und verteidigen sich“ (Röm 2,14–15). Diese Texte des hl. Paulus haben einen entscheidenden Einfluss auf die christliche Reflexion bezüglich des natürlichen Sittengesetzes gehabt.28

1.4. Die Entwicklungen der christlichen Tradition

26. Für die Kirchenväter stehen das sequi naturam und die sequela Christi nicht im Widerspruch. Im Gegenteil, sie nehmen im Allgemeinen die stoische Idee auf, wonach Natur und Vernunft uns anzeigen, welches unsere sittlichen Pflichten sind. Ihnen zu folgen, bedeutet dem personalen Logos, dem Wort Gottes, zu folgen. Die Lehre vom natürlichen Sittengesetz stellt tatsächlich eine Grundlage zur Verfügung, um die biblische Moral zu vervollständigen. Darüber hinaus erlaubt sie zu erklären, weshalb die Heiden, unabhängig von der biblischen Offenbarung, eine positive Moralauffassung haben. Diese wird ihnen von der Natur angezeigt und stimmt mit der Lehre der Offenbarung überein: „Von Gott stammen sowohl das von Natur aus gegebene als auch das durch Lernen erworbene Gesetz, es ist ein und dasselbe“.29Die Kirchenväter übernehmen jedoch nicht schlicht und einfach die stoische Lehre. Sie modifizieren und entwickeln sie. Auf der einen Seite verbietet die Anthropologie biblischer Inspiration, die den Menschen als imago Dei sieht, dessen volle Wahrheit in Christus offenbar geworden ist, die menschliche Person auf ein einfaches Element des Kosmos zu reduzieren: die Person ist zur Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott berufen und transzendiert den Kosmos, während sie sich zugleich in ihn eingliedert. Auf der anderen Seite beruht die Harmonie zwischen Natur und Vernunft nicht mehr auf der immanenten Betrachtung eines pantheistischen Kosmos, sondern auf dem gemeinsamen Bezug zur transzendenten Weisheit des Schöpfers. Sich der Vernunft entsprechend zu verhalten bedeutet den Ausrichtungen zu folgen, die Christus als göttlicher Logos dank der logoi spermatikoi in die mensch­liche Vernunft hineingelegt hat. Gegen die Vernunft zu handeln ist eine Verfehlung gegen diese Ausrichtungen. Äußerst bezeichnend ist die Definition des hl. Augustinus: „Das ewige Gesetz ist die göttliche Vernunft oder der Wille Gottes, der anordnet, die natürliche Ordnung zu bewahren, und verbietet, sie zu stören“.30 Genauer gesagt sind für den hl. Augustinus die Normen des rechten Lebens und der Gerechtigkeit im Wort Gottes ausgedrückt, das sie dann in das Herz des Menschen einschreibt „wie ein Siegel, das vom Ring in das Wachs übergeht, ohne den Ring zu verlassen”.31 Zudem wird das natürliche Sittengesetz bei den Kirchenvätern von nun an im Rahmen einer Heilsgeschichte verstanden, die verschiedene Zustände der Natur unterscheiden lässt (die ursprüngliche Natur, die gefallene Natur, die wiederhergestellte Natur), in denen sich das natürliche Sittengesetz auf verschiedene Weise verwirklicht. Diese patristische Lehre vom natürlichen Sittengesetz wurde an das Mittelalter weitergegeben, ebenso auch die recht nah verwandte Auffassung des „Völkerrechts (ius gentium)“, nach dem außerhalb des römischen Rechts (ius civile) universale Rechtsprinzipien existieren, die die Beziehungen zwischen den Völkern regeln und für alle verbindlich sind.32

27. Im Mittelalter erreicht die Lehre vom natürlichen Sittengesetz eine gewisse Reife und nimmt eine „klassische“ Form an, die den Hintergrund aller weiteren Diskussionen bildet. Sie ist durch vier Grundzüge gekennzeichnet. 1) Gemäß der Natur des scholastischen Denkens, das die Wahrheit überall sucht und aufnimmt, wo sie sich findet, nimmt sie die vorausgehenden Überlegungen zum natürlichen Sittengesetz, heidnische wie christliche, auf und sucht eine Synthese daraus vorzulegen. 2) Entsprechend der systematischen Natur des scholastischen Denkens ordnet sie das natürliche Sittengesetz in einen allgemeinen metaphysischen und theologischen Rahmen ein. Das natürliche Sittengesetz wird verstanden als eine Teilhabe des vernunftbegabten Geschöpfs am ewigen göttlichen Gesetz, dank dessen das Geschöpf bewusst und frei in die Pläne der Vorsehung eintritt. Dieses natürliche Sittengesetz ist kein geschlossenes und vollständiges Ganzes sittlicher Normen, sondern eine ständige Inspirationsquelle, die in den verschiedenen Etappen der Heilsökonomie gegenwärtig und wirksam ist. 3) Als die der Natur eigene Komplexität bewusst wird, zum Teil aufgrund der Wiederentdeckung des aristotelischen Denkens, betrachtet die scholastische Lehre des natürlichen Sittengesetzes die ethische und politische Ordnung als rationale Ordnung, als Werk der menschlichen Einsicht. Sie definiert für diese Ordnung einen Bereich der Autonomie, eine Unterscheidung ohne Trennung im Bezug zur Ordnung der religiösen Offenbarung.334) In den Augen der scholastischen Theologen und Juristen stellt das natürliche Sittengesetz einen Bezugspunkt und ein Kriterium dar, in dessen Licht sie die Legitimität positiver Gesetze und einzelner Gebräuche auswerten.

1.5. Weitere Entwicklungen

28. Die moderne Geschichte der Idee vom natürlichen Sittengesetz stellt sich in gewissen Aspekten als eine legitime Entwicklung der Lehre der mittelalterlichen Scholastik in einem komplexeren kulturellen Kontext dar, der insbesondere gekennzeichnet ist durch einen lebendigeren Sinn für die sittliche Subjektivität. Unter den Entwicklungen weisen wir hin auf die spanischen Theologen des 16. Jahrhunderts, die nach dem Beispiel des Dominikaners Franz von Vitoria auf das natürliche Sittengesetz Bezug nahmen, um der imperialistischen Ideologie bestimmter christlicher Staaten Europas zu widersprechen und die Rechte der nichtchristlichen Völker Amerikas zu verteidigen. Diese Rechte wohnen wahrhaft der menschlichen Natur inne und hängen nicht von der konkreten Einstellung zum christlichen Glauben ab. Die Idee des natürlichen Sittengesetzes erlaubte den spanischen Theologen auch, die Grundlagen für ein internationales Recht zu legen, d.h. für eine universale Norm, welche die Beziehungen der Völker und Staaten untereinander leitet.

29. Doch in anderen Aspekten hat die Lehre vom natürlichen Sittengesetz in der Moderne Ausrichtungen und Formen angenommen, die dazu beitragen, es heute schwer annehmbar zu machen. Während der ersten Jahrhunderte des Mittelalters entwickelte sich in der Scholastik eine voluntaristische Strömung, deren kulturelle Vorherrschaft die Idee des natürlichen Sittengesetzes zutiefst verändert hat. Der Voluntarismus setzt sich zum Ziel, die Transzendenz des freien Subjekts im Bezug zu all seinen Bedingtheiten zur Geltung zu bringen. Gegen den Naturalismus, der Gott den Gesetzen der Natur zu unterwerfen trachtete, unterstreicht er einseitig die absolute Freiheit Gottes, mit dem Risiko, Gottes Weisheit zu kompromittieren und seine Entscheide willkürlich werden zu lassen. Zugleich rühmt er gegen den Intellektualismus, der im Verdacht steht, die menschliche Person der Weltordnung zu unterwerfen, eine Wahlfreiheit, die als reine Befugnis zur Auswahl zwischen Gegensätzen verstanden wird, mit dem Risiko, die Person von ihren natürlichen Neigungen und vom objektiv Guten abzutrennen.34

30. Die Folgen des Voluntarismus für die Lehre vom natürlichen Sittengesetz sind zahlreich. 1) Während beim hl. Thomas von Aquin das Gesetz als Werk der Vernunft und Ausdruck einer Weisheit verstanden war, führt der Voluntarismus dazu, das Gesetz allein an den Willen zu binden, und zwar an einen Willen, der von seiner inneren Hinordnung auf das Gute losgelöst ist. Von da an liegt die gesamte Kraft des Gesetzes allein im Willen des Gesetzgebers. Das Gesetz wird auf diese Weise seiner inneren Einsichtigkeit beraubt. Unter diesen Bedingungen reduziert sich die Moral auf den Gehorsam gegenüber den Geboten, die den Willen des Gesetzgebers kundtun. Thomas Hobbes wird so zu der Aussage kommen: „Die Autorität, nicht die Wahrheit, schafft das Gesetz“ (auctoritas, non veritas, facit legem).35 Der moderne, von der Autonomie eingenommene Mensch konnte nicht anders, als sich gegen diese Sicht des Gesetzes aufzulehnen. 2) Unter dem Vorwand, die absolute Souveränität Gottes über die Natur zu wahren, beraubt der Voluntarismus die Natur jeglicher inneren Erkennbarkeit. Die These von der potentia Dei absoluta, derzufolge Gott unabhängig von seiner Weisheit und seiner Güte handelt könne, relativiert alle bestehenden Verständnisstrukturen und schwächt die natürliche Erkenntnis, die der Mensch von ihnen haben kann. Die Natur ist also nicht kein Kriterium mehr, um den weisen Willen Gottes zu erkennen: der Mensch kann diese Erkenntnis nur noch von einer Offenbarung erwarten.

31. Weiterhin haben mehrere Faktoren zur Säkularisierung des Begriffs vom natürlichen Sittengesetz geführt. Unter ihnen kann man die wachsende Scheidung zwischen Glaube und Vernunft erwähnen, die das Spätmittelalter kennzeichnet, oder auch bestimmte Aspekte der Reformation36, vor allem aber den Willen zur Überwindung der gewaltsamen religiösen Konflikte, die in Europa zu Beginn der Neuzeit ein Blutbad angerichtet haben. Man kam dazu, die politische Einheit der menschlichen Gemeinschaften begründen zu wollen, indem das religiöse Bekenntnis ausgeklammert wurde. Von nun an sieht die Lehre vom natürlichen Sittengesetz von jeder besonderen religiösen Offenbarung und folglich von jeder bekenntnisbezogenen Theologie ab. Sie erhebt den Anspruch, allein auf dem Licht der Vernunft zu beruhen, die allen Menschen gemeinsam ist, und stellt sich als letzte Norm im weltlichen Bereich dar.

32. Des weiteren behauptet der moderne Rationalismus die Existenz einer absoluten und normativen Ordnung erkennbarer Wesenheiten, die der Vernunft zugänglich ist, und relativiert insofern den Bezug zu Gott als letztem Fundament des natürlichen Sittengesetzes. Die notwendige, ewige und unveränderliche Ordnung der Wesenheiten muss sicherlich durch den Schöpfer je neu aktualisiert werden, doch man glaubt, sie besitze schon in sich selbst ihre Kohärenz und ihre Rationalität. Der Bezug zu Gott wird daher zur bloßen Option. Das natürliche Sittengesetz dränge sich allen auf, „selbst falls Gott nicht existierte“ (etsi Deus non daretur).37

33. Das rationalistische moderne Modell des natürlichen Sittengesetzes weist folgende Kennzeichen auf: 1) die essentialistische Überzeugung von einer unveränderlichen, ahistorischen Menschennatur, deren Definition und deren wesentliche Eigenschaften die menschliche Vernunft vollkommen erfassen kann; 2) die Ausklammerung der konkreten Situation der menschlichen Personen in der Heilsgeschichte, die gekennzeichnet ist durch Sünde und Gnade, deren Einfluss auf die Erkenntnis und die Praxis des natürlichen Sittengesetzes jedoch entscheidend ist; 3) die Idee, es sei der Vernunft möglich, die Vorschriften des natürlichen Sittengesetzes a priori aus der Wesensdefinition des Menschen a priori abzuleiten; 4) eine größtmögliche Ausweitung der so hergeleiteten Vorschriften, so dass das natürliche Sittengesetz wie ein Kodex fertiger Gesetze erscheint, der quasi die Gesamtheit der Verhaltensweisen regelt. Diese Tendenz, den Bereich der Festlegungen des natürlichen Sittengesetzes so weit wie möglich auszudehnen, war der Ursprung einer schweren Krise, als insbesondere unter dem Druck der Humanwissenschaften das westliche Denken sich stärker der Ge­schichtlichkeit menschlicher Einrichtungen und der kulturellen Relativität zahlreicher Verhaltensweisen bewusst wurde, die man manchmal unter Berufung auf die Evidenz des natürlichen Sittengesetzes rechtfertigte. Diese Kluft zwischen einer maximalistischen abstrakten Theorie und der Komplexität der empirischen Gegebenheiten erklärte teilweise die Abneigung gegenüber der Idee des natürlichen Sittengesetzes selbst. Damit der Begriff des natürlichen Sittengesetzes in einer säkularisierten und pluralistischen Gesellschaft wie der unseren zur Ausarbeitung einer universalen Ethik dienen kann, muss man also vermeiden, sie in der starren Form darzustellen, die sie insbesondere im modernen Rationalismus angenommen hat.

1.6. Das Lehramt der Kirche und das natürliche Sittengesetz

34. Vor dem 13. Jahrhundert wurde angesichts der Tatsache, dass die Unterscheidung zwischen der natürlichen und der übernatürlichen Ordnung nicht klar ausgearbeitet war, das natürliche Sittengesetz im allgemeinen mit der christlichen Moral gleichgesetzt. So beginnt das Decretum Gratiani, das seit dem 12. Jahrhundert die kanonische Norm bietet, wie folgt: „Das natürliche Sittengesetz ist das, was im Gesetz und im Evangelium enthalten ist”. Es identifiziert im weiteren den Inhalt des natürlichen Sittengesetzes mit der Goldenen Regel und präzisiert, dass die göttlichen Gesetze der Natur entsprechen.38 Die Kirchenväter haben also auf das natürliche Sittengesetz sowie auf die Heilige Schrift Bezug genommen, um das sittliche Verhalten der Christen grundzulegen, doch das Lehramt der Kirche hatte in einer ersten Phase wenig einzugreifen, um Dispute über den Inhalt des sittlichen Gesetzes zu schlichten.

Als das Lehramt veranlasst wurde, nicht nur einzelne sittliche Diskussionen zu lösen, sondern seine Position auch gegenüber einer säkularisierten Welt zu rechtfertigen, berief es sich ausdrücklicher auf den Begriff des natürlichen Sittengesetzes. Im 19. Jahrhundert, insbesondere unter dem Pontifikat von Leo XIII., setzt sich die Berufung auf das natürliche Sittengesetz in den Dokumenten des Lehramtes durch. Die ausdrücklichste Darstellung findet sich in der Enzyklika Libertas praestantissimum (1888). Leo XIII. bezieht sich auf das natürliche Sittengesetz, um die Quelle der zivilen Autorität zu bestimmen und deren Grenze festzulegen. Er erinnert nachdrücklich daran, dass Gott mehr zu gehorchen ist als den Menschen, wenn die zivilen Autoritäten etwas anordnen oder gutheißen, was dem göttlichen Gesetz oder dem natürlichen Sittengesetz entgegensteht. Doch er beruft sich auch auf das natürliche Sittengesetz, um das Privateigentum gegen den Sozialismus zu schützen oder auch um das Recht der Arbeiter zu verteidigen, sich durch ihre Arbeit den notwendigen Lebensunterhalt zu beschaffen. Auf dieser selben Linie bezieht sich Johannes XXIII. auf das natürliche Sittengesetz, um die Rechte und Pflichten des Menschen zu begründen (Enzyklika Pacem in terris [1963]). Mit Pius XI. (Enzyklika Casti Connubii [1930]) und Paul VI. (Enzyklika Humanae vitae [1968]) zeigt sich das natürliche Sittengesetz als entscheidendes Kriterium in den Fragen bezüglich der Ehemoral. Sicherlich ist das natürliche Sittengesetz eigentlich der menschlichen Vernunft zugänglich, die Glaubenden und nicht Glaubenden gemeinsam ist und nicht exklusiv der Kirche gehört, doch da die Offenbarung die Anforderungen des natürlichen Sittengesetzes aufnimmt, stellt das Lehramt der Kirche dessen Garanten und Interpreten dar.39 Der Katechismus der Katholischen Kirche (1992) und die Enzyklika Veritatis splendor (1993) räumen so dem natürlichen Sittengesetz in der Darlegung der christlichen Moral einen entscheidenden Platz ein.40

35. Heute führt die katholische Kirche das natürliche Sittengesetz hauptsächlich in vier Kontexten an.
1) Angesichts des Aufstiegs einer Kultur, die Rationalität auf die harten Wissenschaften beschränkt und das sittliche Leben dem Relativismus preisgibt, besteht sie auf der naturgegebenen Fähigkeit der Menschen, mit ihrer Vernunft „die ethische Botschaft, die im Sein enthalten ist”41, zu erfassen und die Grundnormen eines gerechten Handelns in Übereinstimmung mit ihrer Natur und ihrer Würde in deren großen Linien zu erkennen. Das natürliche Sittengesetz antwortet so auf die Anforderung, die Menschenrechte vernünftig zu begründen42, und es macht einen interkulturellen und interreligiösen Dialog möglich, der den universalen Frieden zu begünstigen und den „Kampf der Kulturen“ zu vermeiden vermag.
2) Angesichts des relativistischen Individualismus, der jedes Individuum als Quelle seiner eigenen „Werte“ betrachtet und die Gesellschaft als Ergebnis eines bloßen Vertrags zwischen Individuen, die sich dafür entscheiden, daraus alle Normen selbst festzulegen, erinnert sie an den nicht auf Konvention beruhen­den, sondern natürlichen und objektiven Charakter der Grundnormen, die das soziale und politische Leben leiten. Insbesondere ist die demokratische Regierungsform innerlich an stabile ethische Werte gebunden, die ihre Quellen in den Anforderungen des natürlichen Sittengesetzes haben und die folglich nicht von den Schwankungen im Konsens einer zahlenmäßigen Mehrheit abhängen.
3) Angesichts eines aggressiven Laizismus, der die Gläubigen aus der öffentlichen Debatte ausschließen will, hebt die Kirche hervor, dass die Beiträge der Christen im öffentlichen Leben zu Themen, die das natürliche Sittengesetz betreffen (Verteidigung der Rechte von Unterdrückten, Gerechtigkeit in den internationalen Beziehungen, Verteidigung des Lebens und der Familie, Religionsfreiheit und Freiheit der Erziehung ...), nicht von sich aus einen Bezug zum Glaubensbekenntnis haben, sondern aus der Sorge hervorgehen, die jeder Bürger und jede Bürgerin für das Gemeinwohl der Gesellschaft haben soll.
4) Angesichts der Bedrohungen des Machtmissbrauchs bzw. des Totalitarismus, den der Rechtspositivismus in sich birgt und den bestimmte Ideologien vermitteln, erinnert die Kirche daran, dass die Zivilgesetze nicht im Gewissen verpflichten, wenn sie im Widerspruch zum natürlichen Sittengesetz stehen, und proklamiert die Anerkennung des Rechts auf Widerstand im Gewissens sowie die Pflicht zum Ungehorsam im Namen des Gehorsams gegenüber einem höheren Gesetz.43 Der Bezug zum natürlichen Sittengesetz bringt keineswegs Konformismus hervor, sondern garantiert die persönliche Freiheit und tritt für diejenigen ein, die durch soziale Strukturen ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl vernachlässigt und unterdrückt werden.

Kapitel 2: Die Wahrnehmung der gemeinsamen sittlichen Werte

36. Die Untersuchung der großen sittlichen Weisheitstraditionen, die in Kapitel 1 unternommen wurde, belegt, dass bestimmte Typen menschlichen Verhaltens in den meisten Kulturen anerkannt sind als Ausdruck einer gewissen Hochform, in der der Mensch lebt und sein Menschsein verwirklicht: Akte des Mutes, Geduld angesichts von Prüfungen und Schwie­rigkeiten des Lebens, Mitgefühl für die Schwachen, Mäßigung in der Nutzung materieller Güter, verantwortliches Verhalten gegenüber der Umwelt, Einsatz für das Gemeinwohl ... Diese ethischen Verhaltensweisen definieren die großen Linien eines im eigentlichen Sinne sittlichen Ideals des Lebens „gemäß der Natur“, d.h. in Übereinstimmung mit der Seinstiefe des menschlichen Subjekts. Außerdem werden bestimmte Handlungsweisen weltweit als Gegenstand der Verurteilung aufgefasst: Mord, Diebstahl, Lüge, Zorn, Begierlichkeit, Geiz ... Sie erscheinen als Beeinträchtigungen der Menschenwürde und der gerechten Erfordernisse des gesellschaftlichen Lebens. Man ist berechtigt, in diesen Übereinstimmungen eine Bekundung dessen zu sehen, was – jenseits aller Verschiedenheit der Kulturen und Weisheitstraditionen – das Menschliche im menschlichen Dasein ist, d.h. die „menschliche Natur“. Doch gleichzeitig ist man gehalten festzustellen, dass dieses Einverständnis über die sittliche Qualität gewisser Verhaltensweisen mit einer großen Vielfalt von Auslegungstheorien einhergeht. Ob es die grundlegenden Lehren der Upanishaden für den Hinduismus oder die vier „edlen Wahrheiten” für den Buddhismus sind, ob es das Dào des Lao-Tse oder die „Natur” der Stoiker ist – jede Weisheitstradition oder jedes philosophische System versteht das sittliche Handeln innerhalb eines allgemeinen Auslegungsrahmens, der dazu da ist, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu legitimieren. Wir haben es mit einer Vielfalt von Rechtfertigungen zu tun, die den Dialog und die Grundlegung der sittlichen Normen schwierig macht.

37. Wie es auch um die theoretischen Rechtfertigungen der Konzeption des natürlichen Sittengesetzes stehen mag, es ist dennoch möglich, die unmittelbaren Gegebenheiten des Gewissens an den Tag zu bringen, von denen dieser Begriff Rechenschaft geben will. Gegenstand des vorliegenden Kapitels ist es gerade zu zeigen, wie die gemeinsamen sittlichen Werte erfasst werden, die das natürliche Sittengesetz konstituieren. Erst danach werden wir sehen, wie der Begriff des natürlichen Sittengesetzes sich auf einen Auslegungsrahmen stützt, der die sittlichen Werte so begründet und legitimiert, dass andere diese Auffassung teilen können. Dabei erscheint die Darstellung des hl. Thomas von Aquin als besonders stichhaltig, unter anderem weil sie das natürliche Sittengesetz innerhalb einer Moral situiert, die der Würde der menschlichen Person gerecht wird und seine Urteilsfähigkeit anerkennt.44

2.1. Die Rolle der Gesellschaft und der Kultur

38. Erst nach und nach gelangt die menschliche Person zur sittlichen Erfahrung und wird fähig, sich selbst die Vorschriften zuzusprechen, die ihr Handeln leiten sollen. Sie gelangt dorthin in dem Maße, wie sie von Geburt an, beginnend mit der Familie, in ein Netz mensch­licher Beziehungen eingefügt ist, die ihr erlaubt haben, sich nach und nach ihrer selbst und der sie umgebenden Wirklichkeit bewusst zu werden. Das geschieht insbesondere durch das Erlernen einer Sprache – der Muttersprache –, die lehrt, die Dinge zu benennen, und erlaubt, zum seiner selbst bewussten Subjekt zu werden. Geleitet durch die Personen, die sie umgeben, geprägt durch die Kultur, in der sie eingebettet ist, nimmt die Person bestimmte Verhaltens- und Denkweisen wahr als Werte, die es anzustreben gilt, als Gesetze, die zu befolgen sind, als nachahmenswerte Beispiele, als Sichtweisen der Welt, die sie zu übernehmen hat. Der soziale und kulturelle Kontext spielt also eine entscheidende Rolle in der Erziehung zu sittlichen Werten. In diesen Bedingtheiten ist jedoch keine Beeinträchtigung der menschlichen Freiheit zu sehen. Sie machen diese Freiheit vielmehr möglich, denn durch sie hat die Person Zugang zur sittlichen Erfahrung, die ihr ermöglichen kann, gegebenenfalls gewisse „Selbstverständlichkeiten“ zu revidieren, die sie während der Zeit ihres sittlichen Lernens verinnerlicht hat. Im übrigen müssen im Kontext der Globalisierung, in dem wir uns befinden, die Gesellschaftsordnungen und die Kulturen selbst zwangsläufig einen aufrichtigen Dialog und Austausch pflegen, grundgelegt in der gemeinsamen Verantwortung aller für das Gemeinwohl des Planeten: sie müssen die Eigeninteressen beiseite lassen, um zu den sittlichen Werten zu gelangen, die alle zu teilen gerufen sind.

2.2. Die sittliche Erfahrung: „Das Gute ist zu tun“

39. Jedes menschliche Wesen, das zum Bewusstsein und zur Verantwortung gelangt, macht die Erfahrung eines inneren Anrufs, das Gute zu tun. Es entdeckt, dass es von Grund auf ein sittliches Wesen ist, das den Aufruf wahrzunehmen und auszudrücken vermag, der sich, wie wir gesehen haben, im Inneren aller Kulturen findet: „Das Gute ist zu tun und das Böse zu lassen“. Auf dieser Vorschrift beruhen alle anderen Vorschriften des natürlichen Sittengesetzes.45 Diese erste Vorschrift wird von Natur aus, unmittelbar, durch die praktische Vernunft erkannt, ebenso wie das Prinzip des Nicht-Widerspruchs (der Intellekt kann nicht gleichzeitig und unter demselben Aspekt bejahen und verneinen), das jeder spekulativen Gedankenführung zugrundeliegt, intuitiv, von Natur aus, durch die theoretische Vernunft erfasst wird, sobald das Subjekt den Sinn der verwendeten Begriffe versteht. In der Tradition wird diese Erkenntnis des ersten Prinzips des sittlichen Lebens einer angeborenen geistigen Disposition zugeschrieben, die man Synderesis nennt.46

40. Mit diesem Prinzip befinden wir uns schon mitten auf dem Gebiet der Sittlichkeit. Das Gute, das auf diese Weise für die Person verpflichtend wird, ist in der Tat das sittlich Gute, d.h. ein Verhalten, das die Kategorien des Nützlichen übersteigt und auf die authentische Verwirklichung dieses zugleich einen und vielfältigen Wesens zielt, das die menschliche Person darstellt. Das menschliche Handeln lässt sich nicht auf die einfache Frage nach der Anpassung an das „Ökosystem“ reduzieren: Menschsein bedeutet, innerhalb eines weiteren Rahmens zu existieren und sich zu situieren, der einen Sinn, Werte und Verantwortlichkeiten definiert. Auf der Suche nach dem sittlich Guten trägt die Person zur Erfüllung ihrer Natur bei, über die Impulse des Instinkts oder die Suche nach einer bestimmten Vergnügung hinaus. Dieses Gute bezeugt sich selbst, und es wird durch sich selbst verstanden.47

41. Das sittlich Gute entspricht der tiefen Sehnsucht der menschlichen Person, die – wie jedes Wesen – spontan, von Natur aus, nach dem strebt, was zu ihrer vollen Verwirklichung beiträgt, was ihr erlaubt, die ihr eigene Vollkommenheit zu erlangen, das Glück. Leider kann das Subjekt sich immer von einzelnen Wünschen mitreißen lassen und Güter wählen oder Gesten vollziehen, die im Gegensatz zu dem sittlich Guten stehen, das es wahrnimmt. Es kann die Selbstüberschreitung verweigern. Das ist der Preis für eine Freiheit, die in sich begrenzt und durch die Sünde geschwächt ist, eine Freiheit, die nur Teilgütern begegnet, von denen keines das Herz des Menschen vollkommen befriedigen kann. Es ist Sache der Vernunft des Subjekts, diese Teilgüter daraufhin zu untersuchen, ob sie sich in die authentische Verwirklichung der Person integrieren lassen: in diesem Falle werden sie als sittlich gut beurteilt, im entgegengesetzten Falle als sittlich schlecht.

42. Diese letzte Aussage ist wesentlich. Sie begründet die Möglichkeit eines Dialogs mit Personen, die anderen kulturellen oder religiösen Horizonten angehören. Sie bringt die herausragende Würde jeder menschlichen Person zur Geltung und unterstreicht ihre natürliche Befähigung, das sittlich Gute zu erkennen, das sie tun muss. Wie jedes Geschöpf definiert sich die menschliche Person durch ein Bündel von Antrieben und Zielbestimmungen, das den freien Wahlentscheidungen des Willens vorausliegt. Doch im Unterschied zu den nicht vernunftbegabten Wesen ist sie fähig, diese Zielbestimmungen zu erkennen und zu verinnerlichen und folglich einzuschätzen, was dementsprechend für sie gut oder schlecht ist. Darin nimmt sie das ewige Gesetz wahr, d.h. Gottes Plan mit der Schöpfung, und sie wirkt an der Vorsehung Gottes auf besonders herausragende Weise mit, indem sie sich selbst leitet und indem sie andere leitet.48 Dieser Nachdruck auf der Würde des sittlichen Subjekts und seiner relativen Autonomie hat seine Wurzeln in der Anerkennung der Autonomie der geschöpflichen Wirklichkeiten und steht in Übereinstimmung mit einer grundlegenden Gegebenheit der heutigen Kultur.49 

43. Die sittliche Verpflichtung, die durch das Subjekt erfasst wird, stammt also nicht von einem Gesetz, das ihm äußerlich wäre (reine Heteronomie), sondern sie zeigt sich vom Subjekt selbst her. Wie das Axiom besagt, das wir in Erinnerung gerufen haben – „Das Gute ist zu tun und das Böse zu lassen“ –, ist in der Tat das sittlich Gute, das die Vernunft feststellt, dem Subjekt „auferlegt“. Es „muss“ getan werden. Es nimmt den Charakter der Verpflichtung und des Gesetzes an. Doch der Ausdruck „Gesetz“ verweist hier weder auf die wissenschaftlichen Gesetze, die sich damit begnügen, die faktischen Konstanten der physischen oder sozialen Welt zu beschreiben, noch auf einen Imperativ, der dem sittlichen Subjekt willkürlich von außen auferlegt wäre. Das Gesetz bezeichnet hier eine Ausrichtung der praktischen Vernunft, die dem sittlichen Subjekt anzeigt, welche Art des Handelns mit dem grundlegenden und notwendigen Antrieb seiner Existenz in ihrem Streben nach voller Verwirklichung übereinstimmt. Dieses Gesetz ist normativ kraft eines inneren Anspruchs an den Geist. Es erhebt sich aus der Mitte unserer Existenz als Aufruf zur Erfüllung und und zur Selbstüberschreitung. Es geht also nicht so sehr darum, sich dem Gesetz eines anderen zu unterwerfen, als vielmehr das Gesetz des eigenen Seins aufzunehmen.

2.3. Die Entdeckung der Vorschriften des natürlichen Sittengesetzes: die Universalität des natürlichen Sittengesetzes

44. Nachdem die Grundaussage, die in die sittliche Ordnung einführt – „Das Gute ist zu tun und das Böse zu lassen“ – einmal feststeht, wollen wir nun sehen, wie im Subjekt die Anerkennung der grundlegenden Gesetze erfolgt, die das menschliche Handeln leiten sollen. Diese Anerkennung ist kein Sachverhalt einer abstrakten Betrachtung der menschlichen Natur und auch keine Bemühung um eine begriffliche Fassung, wie sie anschließend der philosophischen und theologischen Theoriebildung eigen sein wird. Die Erfassung der grundlegenden sittlichen Güter ist unmittelbar und vital und gründet in der Konnaturalität des Geistes mit den Werten; sie nimmt sowohl die Affektivität als auch den Intellekt, Herz und Geist in Anspruch. Es handelt sich um eine oft unvollkommene Erfassung, noch dunkel und im Zwielicht, die jedoch die Tiefe der Unmittelbarkeit aufweist. Hier geht es um die Gegebenheiten der einfachsten und allgemeinsten Erfahrung, die implizit im konkreten Handeln der Personen vorliegen.

45. In ihrer Suche nach dem sittlich Guten beginnt die menschliche Person darauf zu hören, was sie ist, und wird sich der grundlegenden Neigungen ihrer Natur bewusst, die etwas ganz anderes sind als einfache blinde Anstöße des Begehrens. Sie nimmt die Güter, auf die sie von Natur aus ausgerichtet ist, als notwendig für ihre sittliche Erfüllung wahr, sie formuliert für sich selbst in der Form praktischer Weisungen die sittliche Pflicht, diese in ihrem Leben zu verwirklichen. Sie drückt für sich selbst eine bestimmte Zahl von sehr allgemeinen Vorschriften aus, die sie mit allen menschlichen Wesen teilt und die den Inhalt dessen bilden, was man das natürliche Sittengesetz nennt.

46. Man unterscheidet traditionell drei große Komplexe von natürlichen Antrieben, die in der menschlichen Person am Werke sind.50Der erste, den der Mensch mit jedem Wesen gemeinsam hat, beinhaltet wesentlich die Neigung, seine Existenz zu erhalten und zu entwickeln. Der zweite Komplex, den er mit allen Lebeweisen teilt, umfasst die Neigung sich fortzupflanzen zum Fortbestehen der Art. Der dritte, der ihm als rationalem Wesen eigen ist, besteht in der Neigung, die Wahrheit über Gott zu erkennen sowie in der Neigung, in Gemeinschaft zu leben. Ausgehend von diesen Neigungen können die ersten Vorschriften des natürlichen Sittengesetzes formuliert werden, die von Natur aus bekannt sind. Diese Vorschriften bleiben sehr allgemein, bilden aber eine Art ersten Grundstoff, auf dem jede weitere Reflexion über das Gute, das zu tun, und das Bösen, das zu meiden ist, beruht.

47. Um aus dieser Allgemeinheit herauszutreten und die konkret zu treffenden Wahlentscheidungen zu erhellen, muss man sich auf den diskursiven Verstand berufen, der dann festlegt, welche sittlichen Güter die Person – und die Menschheit – zur Erfüllung zu bringen vermögen, und die konkreteren Vorschriften formuliert, die deren Handeln leiten können. In dieser neuen Etappe erfolgt die Erkenntnis des sittlich Guten schlussfolgernd. Diese Schlussfolgerung bleibt im Ursprung recht einfach; sie erfordert nur eine begrenzte Lebenserfahrung und bewegt sich innerhalb der intellektuellen Möglichkeiten jedes einzelnen. Man spricht hier von den „zweiten Vorschriften” des natürlichen Sittengesetzes, die dank einer mehr oder weniger langen Erwägung der praktischen Vernunft entdeckt werden, im Unterschied zu den grundlegenden allgemeinen Vorschriften, die die Vernunft spontan erfasst und die „erste Vorschriften“ genannt werden.51

2.4. Die Vorschriften des natürlichen Sittengesetzes

48. Wir haben in der menschlichen Person eine erste Neigung ausgemacht, die sie mit allen Wesen teilt: die Neigung, die eigene Existenz zu erhalten und zu entwickeln. Gewöhnlich zeigt sich bei den Lebewesen eine spontane Reaktion angesichts einer unmittelbaren Todesgefahr: man flieht, man verteidigt die Unversehrtheit seiner Existenz, man kämpft um das Überleben. Das physische Leben erscheint von Natur aus als ein fundamentales, wesentliches, erstrangiges Gut, daher die Vorschrift, sein Leben zu schützen. Unter dieser Aussage bezüglich der Bewahrung des Lebens zeichnen sich Neigungen zu allem ab, was auf eine dem Menschen entsprechende Weise zur Erhaltung und zur Qualität des biologischen Lebens beiträgt: die Unversehrtheit des Leibes, der Gebrauch der äußeren Güter, die Bestand und Unversehrtheit des Lebens garantieren, wie etwa Nahrung, Kleidung, Wohnung, Arbeit, die Qualität der biologischen Umwelt ... Ausgehend von diesen Neigungen formuliert der Mensch für sich die zu verwirklichenden Ziele, die zur harmonischen und verantwortlichen Entwicklung seiner eigenen Existenz beitragen und die ihm unter diesem Gesichtspunkt als sittliche Güter erscheinen, als zu erstrebende Werte, als zu erfüllende Verpflichtungen beziehungsweise als Rechte, die es geltend zu machen gilt. In der Tat steht die Pflicht, das eigene Leben zu erhalten, in Beziehung zu dem Recht einzufordern, was zu dessen Erhaltung in einem günstigen Umfeld notwendig ist.52

49. Die zweite Neigung, die allen Lebewesen gemeinsam ist, betrifft das Überleben der Art, das sich durch Fortpflanzung realisiert. Die Fortpflanzung schreibt sich ein in die Verlängerung des Hangs zur Beharrung im Sein. Wenn die Dauerhaftigkeit der biologischen Existenz für das Individuum selbst unmöglich ist, so ist sie doch möglich für die Art, und auf diese Weise findet sich gewissermaßen die allem physischen Sein innewohnende Grenze überwunden. Das Wohl der Art erscheint so als eine der grundlegenden Bestrebungen, die der Person innewohnen. Wir werden uns dessen heutzutage besonders bewusst, da gewisse Perspektiven wie die Klimaerwärmung unseren Sinn für Verantwortlichkeiten gegenüber unserem Planeten als solchem und insbesondere gegenüber dem Menschengeschlecht schärfen. Diese Öffnung für ein gewisses Gemeinwohl der Art kündigt bereits bestimmte Bestrebungen an, die dem Menschen eigen sind. Der Antrieb zur Fortpflanzung ist innerlich verbunden mit der natürlichen Hinneigung des Mannes zur Frau und der Frau zum Mann, die eine universal anerkannte Tatsache in allen Gesellschaften darstellt. Dasselbe gilt für die Neigung zur Sorge für die Kinder und für deren Erziehung. Diese Neigungen implizieren bereits, dass die Beständigkeit des Paares aus Mann und Frau, ja sogar ihre gegenseitigen Treue als Werte anzustreben sind, selbst wenn sie in der geistigen Ordnung der interpersonalen Gemeinschaft nicht voll zur Entfaltung kommen können.53

50. Der dritte Komplex von Neigungen ist spezifisch für den Menschen als geistiges Wesen, der mit Vernunft ausgestattet und befähigt ist, die Wahrheit zu erkennen, mit anderen in Dialog zu treten und freundschaftliche Beziehungen zu knüpfen. Diesem Aspekt muss man also eine ganz besondere Bedeutung beimessen. Die Neigung in Gemeinschaft zu leben kommt zunächst daher, dass der Mensch der anderen bedarf, um die innewohnenden individuellen Grenzen zu überwinden und seine Reife in verschiedenen Bereichen seiner Existenz zu erlangen. Um seine geistige Natur voll zur Entfaltung zu bringen, muss er jedoch mit seinesgleichen Beziehungen großzügiger Freundschaft schließen und eine intensive Zusammenarbeit in der Suche der Wahrheit entwickeln. Sein vollständiges Wohl ist so eng an ein Leben in Gemeinschaft gebunden, dass er sich kraft einer naturgegebenen Neigung und nicht aufgrund einer einfachen Übereinkunft in einer politischen Gesellschaft organisiert.54 Der relationale Charakter der Person drückt sich auch in dem Hang zum Leben in Verbundenheit mit Gott bzw. dem Absoluten aus. Dieser Hang zeigt sich im religiösen Gefühl und in der Sehnsucht, Gott zu kennen. Er kann sicher negiert werden von denen, die sich weigern, die Existenz eines personalen Gottes zuzugestehen, doch er bleibt nichtsdestoweniger gegenwärtig in der Suche nach Wahrheit und Sinn, die in jedem Menschen wohnt.

51. Diesen Hinneigungen entspricht die von der Vernunft erfasste Anforderung, dieses Leben in Beziehungen konkret zu verwirklichen und das gesellschaftliche Leben auf gerechten Grundlagen aufzubauen, die dem Naturrecht entsprechen. Das setzt die Anerkennung gleicher Würde für jedes Individuum des Menschen­geschlechts voraus, jenseits der Unterschiede von Rasse und Kultur, sowie eine große Ehrfurcht vor der Menschheit, wo immer sie anzutreffen ist, einschließlich des kleinsten und verachtetsten ihrer Glieder. „Füge anderen nicht zu, wovon du nicht willst, dass man es dir tut”. Wir finden hier die Goldene Regel wieder, die heute sogar an den Anfang einer Moral der Gegenseitigkeit gestellt wird. Kapitel 1 hat uns erlaubt, auf die Anwesenheit dieser Regel in den meisten der Weisheitstraditionen sowie im Evangelium selbst zu stoßen. Unter Bezug auf eine negative Formulierung der Goldenen Regel brachte der hl. Hieronymus die Universalität mehrerer sittlicher Vorschriften zum Ausdruck: „Gerecht ist deshalb das Urteil Gottes, der in das Herz des Menschengeschlechts schreibt: ‚Was du nicht willst, dass man es dir tue, das füge keinem anderen zu’. Wer wüsste nicht, dass Mord, Ehebruch, Diebstahl und alle Art von Begierde böse sind, einfach aufgrund der Tatsache, dass wir nicht wollen, dass dies an uns selbst geschieht? Wenn man nicht wüsste, dass diese Dinge böse sind, würde man sich niemals beschweren, wenn sie uns zugefügt werden“.55 An die Goldene Regel schließen sich mehrere Gebote des Dekalogs an sowie zahlreiche buddhistische Vorschriften, ja sogar konfuzianische Regeln oder auch die meisten Hinweise der großen Chartas, die die Rechte der Person auflisten.

52. Am Ende dieser knappen Entfaltung der sittlichen Prinzipien, die aus der Berücksichtigung der grundlegenden Neigungen der menschlichen Person durch die Vernunft hervorgehen, steht uns ein Komplex von Vorschriften und Werten zur Verfügung, die zumindest in ihrer allgemeinen Formulierung als universal betrachtet werden können, denn sie sind auf die gesamte Menschheit anzuwenden. Auch tragen sie den Charakter der Unwandelbarkeit, insofern sie aus einer menschlichen Natur hervorgehen, deren wesentliche Bestandteile im Verlauf der Geschichte identisch bleiben. Es kann jedoch geschehen, dass sie verdunkelt oder gar aus dem Menschenherzen ausgelöscht werden aufgrund der Sünde und aufgrund kultureller und historischer Bedingtheiten, die das persönliche sittliche Leben negativ beeinflussen können: Ideologien und hinterhältige Propaganda, allgemeiner Relativismus, Strukturen der Sünde ...56 Man muss also bescheiden und zurückhaltend sein, wenn man die „Evidenz” der Vorschriften des natürlichen Sittengesetzes anführt. Nichtsdestoweniger kann man mit Recht in diesen Vorschriften den gemeinsamen Boden erkennen, auf den sich ein Dialog im Hinblick auf eine universale Ethik stützen kann. Die Haupt­akteure dieses Dialogs müssen jedoch lernen, von ihren Eigeninteressen abzusehen, um sich für die Bedürfnisse der anderen zu öffnen und sich von den gemeinsamen sittlichen Werten ansprechen zu lassen. In einer pluralistischen Gesellschaft, in der man sich nur schwer über die philosophischen Fundamente verständigen kann, ist ein solcher Dialog absolut notwendig. Die Lehre vom natürlichen Sittengesetz kann ihren Beitrag zu einem solchen Dialog leisten.

2.5. Die Anwendung der gemeinsamen Vorschriften: die Geschichtlichkeit des natürlichen Sittengesetzes

53. Es ist unmöglich, auf der Ebene des Allgemeinen zu bleiben, auf der die ersten Prinzipien des natürlichen Sittengesetzes angesiedelt sind. Die sittliche Reflexion muss in der Tat in das Konkrete des Handelns herabsteigen, um darauf ihr Licht zu werfen. Je mehr sie sich jedoch konkreten und kontingenten Situationen gegenüber sieht, desto mehr sind ihre Folgerungen von einem Merkmal der Wandelbarkeit und Ungewissheit betroffen. Es überrascht also nicht, dass die konkrete Umsetzung der Vorschriften des natürlichen Sittengesetzes in verschiedenen Kulturen oder gar in verschiedenen Epochen innerhalb derselben Kultur verschiedene Formen annehmen können. Man braucht nur zu denken an die Entfaltung der sittlichen Reflexion über Fragen wie Sklaverei, Zinsnahme, Duell oder Todesstrafe. Manchmal führt diese Entfaltung zu einem besseren Verständnis des sittlichen Anrufs. Manchmal bringt auch die Entwicklung der politischen oder ökonomischen Situation eine Neubewertung einzelner früher festgelegter Normen mit sich. Die Moral befasst sich in der Tat mit kontingenten Realitäten, die sich in der Zeit entwickeln. Obwohl er in einer christlichen Epoche lebte, hatte ein Theologe wie der hl. Thomas von Aquin diesbezüglich eine sehr klare Wahrnehmung. In seiner Summa theologiae schreibt er: „Die praktische Vernunft befasst sich mit kontingenten Wirklichkeiten, zu denen die menschlichen Handlungen gehören. Selbst wenn es daher in den allgemeinen Prinzipien eine gewisse Notwendigkeit gibt, so findet sich doch, je mehr man zum Besonderen herabsteigt, um so mehr an Abweichungen [...]. Im Bereich des Handelns gibt es jedoch nicht dieselbe Wahrheit bzw. praktische Richtigkeit bei allen im Hinblick auf die Besonderheiten, sondern nur im Hinblick auf das Gemeinsame, und bei jenen, bei denen es dieselbe Richtigkeit in den Besonderheiten gibt, ist sie nicht allen gleichmäßig bekannt [...] Und je mehr man hier ins Detail geht, desto stärker vermehren sich die Abweichungen“.57

54. Diese Perspektive wird der Geschichtlichkeit des natürlichen Sittengesetzes gerecht, dessen konkrete Anwendungen sich mit der Zeit ändern können. Zugleich öffnet sich damit eine Tür für die Reflexion der Ethik, es erfolgt ein Aufruf zum Dialog und zur Diskussion über diese Konkretisierungen. Das ist umso notwendiger, als in der Moral die reine Deduktion durch Syllogismen nicht ausreichend ist. Je mehr die Ethik sich mit konkreten Situationen befasst, umso mehr muss sie sich auf die Weisheit der Erfahrung berufen, auf eine Erfahrung, die Beiträge anderer Wissenschaften einbezieht und die sich im Kontakt mit Frauen und Männer nährt, die sich handelnd engagieren. Nur diese Weisheit der Erfahrung erlaubt die Vielfalt von Umständen zu berücksichtigen und zu einer Orientierung darüber zu gelangen, wie das Gute hier und jetzt zu vollbringen ist. Die Ethik muss auch (und darin besteht die Schwierigkeit ihrer Arbeit) auf Ressourcen zurückgreifen, in denen Theologie, Philosophie sowie Humanwissenschaften, Ökonomie und Biologie verbunden sind, um die Gegebenheiten der Situation gut zu erfassen und die konkreten Erfordernisse der Menschenwürde richtig zu bestimmen. Sie muss zugleich besonders aufmerksam sein, um die Grundgegebenheiten zu wahren, die in denjenigen Vorschriften des natürlichen Sittengesetzes ausgedrückt sind, die jenseits der kulturellen Abwandlungen bleiben.

2.6. Die sittlichen Dispositionen der Person in ihrem konkreten Handeln

55. Um zu einer richtigen Auswertung dessen zu kommen, was zu tun ist, muss das sittliche Subjekt eine bestimmte Zahl von inneren Dispositionen besitzen, die ihm erlauben, zugleich offen für die Ansprüche des natürlichen Sittengesetzes zu sein und gut informiert über die Gegebenheiten der konkreten Situation. Im Kontext des Pluralismus, in dem wir uns befinden, ist man sich mehr und mehr bewusst, dass man keine Moral auf der Grundlage des natürlichen Sittengesetzes ausarbeiten kann, ohne eine Reflexion über die inneren Dispositionen bzw. Tugenden damit zu verbinden, die in der Ethik dazu befähigen, eine angemessene Handlungsnorm auszuarbeiten. Das gilt noch mehr für das Subjekt, das im Handeln engagiert ist und das ein Gewissensurteil fällen muss. Es ist also nicht verwunderlich, dass wir heute einen neuen Aufschwung einer Tugendethik erleben, inspiriert durch die aristotelisch-thomistische Tradition. Indem man so auf die sittlichen Qualitäten Wert legt, die für eine angemessene sittliche Reflexion erforderlich sind, wird der wichtige Platz verständlich, den die verschiedenen Kulturen der Gestalt des Weisen einräumen. Dieser verfügt über eine besonderes Unterscheidungsvermögen, insofern er die inneren sittlichen Dispositionen besitzt, die ihm ermöglichen, ein angemessenes sittliches Urteil zu fällen. Ein solches Unterscheidungsvermögen muss die Ethik charakterisieren, wenn sie sich bemüht, die Vorschriften des natürlichen Sittengesetzes zu konkretisieren, und ebenso jedes autonome Subjekt, das verpflichtet ist, ein Gewissensurteil zu treffen und die unmittelbare und konkrete Norm seines Handelns zu formulieren.

56. Die Moral kann sich also nicht damit zufrieden geben, Normen hervorzubringen. Sie muss auch die Bildung des Subjekts fördern, damit es in seinem Handeln fähig ist, die universalen Vorschriften des natürlichen Sittengesetzes an die konkreten Existenzbedingungen in den verschiedenen kulturellen Kontexten anzupassen. Diese Fähigkeit wird gesichert durch die sittlichen Tugenden, insbesondere durch die Klugheit, die die Einzelsituation einbezieht, um die konkrete Handlung zu leiten. Der kluge Mensch muss sie nicht nur über die Kenntnis des Universalen verfügen, sondern auch über die Kenntnis des Partikularen. Um die Eigenart dieser Tugend klar hervorzuheben, scheut der hl. Thomas von Aquin sich nicht zu sagen: „Wenn es geschehen sollte, dass er [der Kluge] nur eine (Kenntnis) habe, dann soll er eher diese haben, d.h. die Kenntnis der einzelnen Dinge, die der Handlung am nächsten sind“.58 Bei der Klugheit geht es darum, in eine kontingente Situation einzudringen, die für die Vernunft immer geheimnisvoll bleibt, sich so genau wie nur möglich an die Wirklichkeit anzupassen, sich die Vielzahl der Umstände anzueignen, so getreu wie nur möglich eine ursprüngliche und unbegreifbare Situation aufzunehmen. Ein solches Ziel erfordert zahlreiche Tätigkeiten und Geschicklichkeiten, die die Klugheit bereitstellen muss.

57. Das Subjekt soll sich jedoch im Konkreten und Individuellen nicht verlieren, wie man der „Situationsethik“ vorgeworfen hat. Es soll die „rechte Regel des Handelns“ entdecken und eine angemessene Handlungsnorm aufstellen. Diese rechte Regel geht aus vorgängigen Prinzipien hervor. Man denkt hier an die ersten Prinzipien der praktischen Vernunft, aber es kommt auch den sittlichen Tugenden zu, den Willen und die sinnliche Affektivität zu öffnen, sie mit den verschiedenen menschlichen Gütern konnatural werden zu lassen und so dem klugen Menschen anzuzeigen, welchen Zielen er in der Flut des Alltags folgen soll. Erst in diesem Moment wird der Kluge in der Lage sein, die konkrete Norm zu formulieren, die zur Pflicht wird, und die Handlung in ihren konkreten Umständen mit einem Strahl von Gerechtigkeit, Stärke oder Mäßigung zu prägen. Es wäre nicht falsch, hier von der Ausübung einer „emotionalen Intelligenz“ zu sprechen: ohne ihre Eigenart zu verlieren, werden die rationalen Kräfte innerhalb des affektiven Bereichs tätig, so dass die Gesamtheit der Person im sittlichen Handeln engagiert ist.

58. Die Klugheit ist für das sittliche Subjekt unverzichtbar wegen der Geschmeidigkeit, die die Anpassung der universalen sittlichen Prinzipien an die Verschiedenheit der Situationen erfordert. Doch diese Geschmeidigkeit berechtigt nicht dazu, in der Klugheit eine Art Sinn für leichtfertige Kompromisse im Hinblick auf sittliche Werte zu sehen. Ganz im Gegenteil: durch die Entscheide der Klugheit drücken sich für ein Subjekt die konkreten Anforderungen der sittlichen Wahrheit aus. Die Klugheit ist ein notwendiger Durchgang für die authentische sittliche Verpflichtung.

59. Hier eröffnet sich eine Perspektive, die innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft wie der unseren eine Bedeutung erhält, die man nicht unterschätzen darf, ohne dadurch erheblichen Schaden zu erleiden. Tatsächlich nimmt diese Perspektive zur Kenntnis, dass das Wissenschaft von der Sittlichkeit dem handelnden Subjekt keine Norm zur Verfügung stellen kann, die sich auf angemessene Weise und wie automatisch auf die konkrete Situation anwenden ließe: nur das Gewissen des Subjekts, das Urteil seiner praktischen Vernunft, kann die unmittelbare Norm des Handelns formulieren. Doch gleichzeitig überlässt sie das Gewissen nicht der Subjektivität allein: sie zielt darauf hin, dass das Subjekt sich die intellektuellen und affektiven Dispositionen aneignet, die ihm gestatten, sich für die sittliche Wahrheit zu öffnen, so dass sein Urteil angemessen ist. Das natürliche Sittengesetz sollte also nicht vorgestellt werden als eine schon bestehende Gesamtheit aus Regeln, die sich a priori dem sittlichen Subjekt auferlegen, sondern es ist eine objektive Inspirationsquelle für sein höchst personales Vorgehen der Entscheidungsfindung.

Kapitel 3: Die theoretischen Fundamente des natürlichen Sittengesetzes

3.1. Von der Erfahrung zu den Theorien

60. Die spontane Erfassung der grundlegenden ethischen Werte, die sich in den Vorschriften des natürlichen Sittengesetzes ausdrücken, bildet den Ausgangspunkt des Prozesses, der das sittliche Subjekt schließlich bis zum Gewissensurteil führt, in dem es kundtut, welche sittlichen Anforderungen ihm in seiner konkreten Situation zur Pflicht werden. Es ist Sache der Philosophie und der Theologie, eine Rückkehr zu dieser Erfahrung zu vollziehen, in der die ersten Prinzipien der Ethik erfasst werden, um den Wert dieses Vorgangs zu erleben und ihn vernünftig zu begründen. Von der Anerkennung dieser philosophischen oder theologischen Grundlagen hängt jedoch nicht die spontane Zustimmung zu den gemeinsamen Werten ab. In der Tat kann das sittliche Subjekt die Ausrichtungen des natürlichen Sittengesetzes praktisch umsetzen, ohne angesichts seines besonderen intellektuellen Zustands fähig zu sein, ausdrücklich dessen letzte theoretische Fundamente zu erfassen.

61. Diese philosophische Rechtfertigung weist zwei Ebenen an Kohärenz und Tiefe auf. Die Idee eines natürlichen Sittengesetzes bestätigt sich in erster Linie auf der Ebene der reflektierten Beobachtung anthropologischer Konstanten, die eine gelungene Humanisierung der Person und ein harmonisches soziales Leben charakterisieren. Die reflektierte Erfahrung, die von den traditionellen Weisheitslehren, den Philosophien oder den Humanwissenschaften weitergegeben werden, erlaubt einige der Bedingungen festzustellen, die erforderlich sind, damit jede und jeder seine menschlichen Fähigkeiten im persönlichen und im gemeinschaftlichen Leben so gut wie möglich entfaltet.59 Auf diese Weise werden bestimmte Verhaltensweisen anerkannt als Ausdruck einer exemplarischen Vorzüglichkeit der Lebensweise und der Verwirklichung des Menschseins. Diese Verhaltensweisen definieren die großen Linien eines im eigentlichen Sinne sittlichen Ideals für ein tugendhaftes Leben „gemäß der Natur”, d.h. in Übereinstimmung mit der tiefen Natur des menschlichen Subjekts.60

62. Doch nur die Berücksichtigung der metaphysischen Dimension des Wirklichen gibt dem natürlichen Sittengesetz seine volle und umfassende philosophische Rechtfertigung. In der Tat erlaubt die Metaphysik zu verstehen, dass das Universum keinen letzten Grund in sich selbst hat, und sie bringt die grundlegende Struktur des Wirklichen an den Tag: die Unterscheidung zwischen Gott als dem subsistierenden Sein selbst und den anderen Seienden, die durch Ihn ins Dasein gebracht sind. Gott ist der Schöpfer, die freie und transzendente Quelle aller Seienden. Diese empfangen von ihm „nach Maß, Zahl und Gewicht” (Weish 11,20) die Natur, die sie definiert. Die Geschöpfe sind also die Epiphanie einer schöpferischen personalen Weisheit, eines gründenden Logos, der sich in ihnen ausdrückt und kundtut. „Jedes Geschöpf ist göttliches Wort, weil es von Gott spricht”, schreibt der hl. Bonaventura.61

63. Der Schöpfer ist nicht nur der Ursprung der Geschöpfe, sondern auch das transzendente Ziel, zu dem sie von Natur aus streben. Auch die Geschöpfe sind durch einen Antrieb belebt, der sie zu der ihnen je entsprechenden Erfüllung in der Vereinigung mit Gott trägt. Dieser Antrieb ist transzendent, insofern er aus dem ewigen Gesetz hervorgeht, d.h. aus dem Plan der göttlichen Vorsehung, der im Geist des Schöpfers existiert.62 Doch er ist auch immanent, weil er den Geschöpfen nicht von außen auferlegt wird, sondern in ihre Natur selbst eingeschrieben ist. Die rein materiellen Geschöpfe verwirklichen spontan das Gesetz ihres Daseins, während die geistigen Geschöpfe es auf personale Weise verwirklichen. In der Tat verinnerlichen sie die Antriebe, die sie definieren, und ordnen sie frei auf ihre volle Erfüllung hin. Sie formulieren sie für für sich selbst als grundlegende Normen ihres sittlichen Handelns – das ist das natürliche Sittengesetz im eigentlichen Sinne –, und sie bemühen sich, diese Normen frei zu erfüllen. Das natürliche Sittengesetz definiert sich also als Teilhabe am ewigen Gesetz.63 Sie ist einerseits vermittelt durch die naturgegebenen Neigungen, die Ausdrucksformen der schöpferischen Weisheit sind, andererseits durch die Vernunft, die diese Neigungen interpretiert und die selbe eine geschöpfliche Teilhabe am Licht des göttlichen Intellekts ist. So stellt sich die Ethik dar als „Theonomie aufgrund von Teilhabe”.64

3.2. Natur, Person und Freiheit

64. Der Begriff der Natur ist besonders komplex, und er ist in keiner Weise univok. In der Philosophie spielt der griechische Gedanke der physis eine maßgebende Rolle. Die Natur bezeichnet hier das Prinzip der spezifischen ontologischen Identität eines Gegenstandes, d.h. sein Wesen, das durch eine Gesamtheit von stabilen erkennbaren Merkmalen definiert ist. Dieses Wesen erhält den Namen Natur vor allem dann, wenn es als das innere Prinzip der Bewegung betrachtet wird, die den Gegenstand auf seine Vollendung hinordnet. Der Ausdruck Natur ist bei weitem keine statische Gegebenheit, sondern bedeutet das reale dynamische Prinzip der homogenen Entwicklung des Gegenstandes und seiner spezifischen Tätigkeiten. Der Begriff Natur wurde zunächst gebildet, um die materiellen und sinnenhaften Wirklichkeiten zu denken, doch er beschränkt sich nicht auf diesen „physischen“ Bereich und wird analog auf geistige Wirklichkeiten angewandt.

65. Der Gedanke, nach dem die Seinswirklichkeiten eine Natur besitzen, drängt sich dem Geist auf, sobald er den Grund für die immanente Finalität der Seinswirklichkeiten und für die Regelmäßigkeit angeben will, die er in ihrer Weise zu agieren und zu reagieren wahrnimmt.65 Die Seinswirklichkeiten als Naturen zu betrachten, bedeutet also, ihnen eine eigene Konsistenz zuzugestehen und auszusagen, dass sie relativ autonome Zentren in der Seins- und Handlungsordnung sind und nicht einfach Illusionen oder vorübergehende Konstrukte des Bewusstseins. Diese „Naturen“ sind trotzdem keine ontologisch geschlossenen Einheiten, in sich abgekapselt und einander bloß nebengeordnet. Sie wirken handelnd aufeinander ein und unterhalten komplexe Kausalitätsbeziehungen untereinander. In der geistigen Ordnung schließen die Personen intersubjektive Beziehungen. Die Naturen bilden ein Netz und in letzter Analyse eine Ordnung, d.h. eine Reihe, die durch den Bezug zu einem Prinzip geeint ist.66

66. Mit dem Christentum wird die physis der antiken Philosophen neu durchdacht und in eine weitere und tiefere Sicht der Wirklichkeit integriert. Einerseits ist der Gott der christlichen Offenbarung nicht ein einfacher Bestandteil des Kosmos, ein Element des großen Ganzen der Natur. Im Gegenteil, er ist der Schöpfer des Alls, transzendent und frei. Das endliche All kann sich in der Tat nicht selbst begründen, doch es verweist auf das Geheimnis des unendlichen Gottes, der es aus reiner Liebe ex nihilo erschaffen hat und frei bleibt, sooft er es will in den Lauf der Natur einzugreifen. Andererseits spiegelt sich das Geheimnis des transzendenten Gottes im Geheimnis der menschlichen Person als Bild Gottes. Die menschliche Person ist fähig zu Erkenntnis und Liebe; sie ist mit Freiheit ausgestattet, vermag in Gemeinschaft mit anderen zu treten und ist von Gott zu einem Geschick berufen, das die Finalitäten der physischen Natur übersteigt. Sie findet ihre Erfüllung in einer freien und ungeschuldeten Beziehung der Liebe mit Gott, die sich auf geschichtliche Weise verwirklicht.

67. Das Christentum besteht auf der Freiheit als Bedingung für die Antwort des Menschen auf die Initiative der Liebe Gottes und hat so auf bestimmende Weise dazu beigetragen, dem Begriff der Person im philosophischen Diskurs seinen gebührenden Platz zu geben, und dadurch einen entscheidenden Einfluss auf die ethischen Lehren ausgeübt. Weiterhin hat die theologische Erforschung des christlichen Geheimnisses zu einer sehr bedeutsamen Vertiefung des philosophischen Themas der Person beigetragen. Einerseits dient der Personbegriff dazu, Vater, Sohn und Geist im unendlichen Geheimnis der einzigen göttlichen Natur zu bezeichnen. Andererseits ist die Person die Stelle, wo sich unter Beachtung der Unterscheidung und des Abstands zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur die ontologische Einheit des Gottmenschen Jesus Christus schließt. Einerseits ist die Person gemäß der Definition des Boethius, die von der scholastischen Theologie wieder aufgenommen wird, eine „(subsistierende) individuelle Substanz der rationalen Natur“.67 Sie verweist auf die Einzigkeit eines ontologischen Subjekts, das sich als geistbegabte Natur einer Würde und einer Autonomie erfreut, die sich im Selbstbewusstsein und in der freien Verfügung über sein Handeln zeigen. Andererseits zeigt sich die Person in ihrer Fähigkeit, in Beziehung zu treten: sie entfaltet ihr Handeln in der Ordnung der Intersubjektivität und der Gemeinschaft in Liebe.

68. Die Person steht nicht im Gegensatz zur Natur. Im Gegenteil, Natur und Person sind zwei einander ergänzende Begriffe. Einerseits ist jede menschliche Person eine einzigartige Verwirklichung der menschlichen Natur, verstanden im metaphysischen Sinne. Andererseits nimmt die menschliche Person in den freien Wahlentscheidungen, durch die sie im konkreten Hier und Jetzt auf ihre einzigartige und transzendente Berufung antwortet, die von ihrer Natur gegebenen Hinordnungen auf. In der Tat gibt die Natur die Bedingungen für die Ausübung der Freiheit und zeigt eine Orientierung für die Wahlentscheidungen an, die die Person treffen muss. Indem die Person die Erkennbarkeit ihrer Natur erforscht, entdeckt sie so die Wege zu ihrer Verwirklichung.

3.3. Natur, Mensch und Gott: von der Harmonie zum Konflikt

69. Der Begriff des natürlichen Sittengesetzes beruht auf der Idee, dass die Natur für den Menschen Trägerin einer ethischen Botschaft ist und eine implizite sittliche Norm darstellt, die durch die menschliche Vernunft aktualisiert wird. Die Sicht der Welt, innerhalb derer die Lehre vom natürlichen Sittengesetz sich entwickelte und auch heute ihren ganzen Sinn findet, schließt die begründete Überzeugung ein, dass eine Harmonie zwischen den drei Instanzen Gott, Mensch und Natur besteht. In dieser Perspektive wird die Welt wahrgenommen als ein erkennbares Ganzes, geeint durch den gemeinsamen Bezug der Seinswirklichkeiten, die dieses Ganze bilden, zu einem göttlichen stiftenden Prinzip, einem Logos. Jenseits des a-personalen und immanenten Logos, den die Stoa entdeckte und der von den modernen Naturwissenschaften vorausgesetzt wird, sagt das Christentum, dass es den personalen, transzendenten und schöpferischen Logos gibt. „Nicht die Elemente des Kosmos, die Gesetze der Materie, herrschen letztlich über die Welt und über den Menschen, sondern ein persönlicher Gott herrscht über die Sterne, das heißt über das All; nicht die Gesetze der Materie und der Evolution sind die letzte Instanz, sondern Verstand, Wille, Liebe – eine Person”.68 Der göttliche, personale Logos – Weisheit und Wort Gottes – ist nicht nur der Ursprung und das erkennbare transzendente Urbild des Alls, sondern er ist auch derjenige, der das All in harmonischer Einheit hält und es zu seinem Ziel führt.69 Durch die Antriebe, die das Schöpferwort ins Innerste der Seinswirklichkeiten geschrieben hat, richtet er sie auf ihre volle Erfüllung aus. Diese dynamische Ausrichtung ist nichts anderes als die göttliche Regierung, die in der Zeit den Plan der Vorsehung verwirklicht, d.h. das ewige Gesetz.

70. Jedes Geschöpf hat auf seine Weise am Logos teil. Da der Mensch sich selbst durch die Vernunft bzw. den logos definiert, hat er auf eine herausragende Weise am Logos teil. Durch seine Vernunft ist er wahrhaft fähig, die göttlichen Absichten zu verinnerlichen, die sich in der Natur der Dinge kundtun. Er formuliert sie für sich selbst in der Form eines sittlichen Gesetzes, das sein eigenes Handeln inspiriert und lenkt. In dieser Perspektive steht der Mensch der Natur nicht „gegenüber“. Im Gegenteil, er unterhält mit dem Kosmos ein Band der Vertrautheit, das in einer gemeinsamen Teilhabe am göttlichen Logos gründet.

71. Aus verschiedenen historischen und kulturellen Gründen, die insbesondere mit der Denkentwicklung während des Spätmittelalters verbunden sind, hat diese Sicht der Welt ihre kulturelle Vorherrschaft verloren. Die Natur der Dinge hat aufgehört, für den modernen Menschen Gesetz zu sein. Sie ist nicht mehr ein Bezugspunkt für die Ethik. Auf metaphysischer Ebene haben die Ablösung des Gedankens der Seinsanalogie durch den Gedanken der Univozität des Seins und dann der Nominalismus die Grundlagen der Schöpfungslehre als Teilhabe am Logos untergraben, einer Lehre, die einer gewissen Einheit zwischen Mensch und Natur rational Ausdruck gegeben hatte. Das nominalistische Universum des Wilhelm von Ockham reduzierte sich so auf eine Nebenordnung individueller Wirklichkeiten ohne Tiefe, denn jedes real Universale, d.h. jedes Prinzip der Verbundenheit zwischen den Seinswirklichkeiten, wird als sprachliche Illusion entlarvt. Auf anthropologischer Ebene haben die Entwicklungen des Voluntarismus und die entsprechende Verherrlichung der Subjektivität, definiert als Freiheit der Indifferenz gegenüber jeder naturgegebenen Neigung, einen Graben zwischen dem mensch­lichen Subjekt und der Natur aufgerissen. Von nun an meinen einige, die menschliche Freiheit sei wesentlich die Macht, für nichtig zu halten, was der Mensch seiner Natur nach ist. Das Subjekt müsste also dem, was es nicht persönlich gewählt hat, und für sich selbst entscheiden, was es bedeutet, Mensch zu sein. Der Mensch begriff sich also mehr und mehr als ein „entartetes Tier“, ein anti-natürliches Sein, das sich umso besser selbst behauptet, je mehr es sich der Natur widersetzt. Die Kultur, die dem Menschen eigen ist, wird also nicht definiert als eine Humanisierung oder Verwandlung der Natur, sondern schlicht und einfach als deren Negation. Das Hauptergebnis dieser Entwicklungen war die Spaltung des Wirklichen in drei getrennte, ja entgegengesetzte Sphären: die Natur, die mensch­liche Subjektivität und Gott.

72. Mit der Verdunkelung der Seinsmetaphysik, die allein imstande ist, die differenzierte Einheit zwischen Geist und materieller Realität rational zu begründen, und dem Aufstieg des Voluntarismus war das Reich des Geistes dem Reich der Natur radikal entgegengesetzt. Die Natur wird nicht mehr als Epiphanie des Logos angesehen, sondern als „das Andere“ des Geistes. Sie ist auf den Bereich der Körperlichkeit und der strikten Notwendigkeit reduziert, und zwar einer Körperlichkeit ohne Tiefe, denn die Welt der Körper ist identifiziert mit dem Ausgedehnten, sicher geleitet durch erkennbare mathematische Gesetze, aber ohne jegliche Teleologie bzw. immanente Finalität. Die cartesische Physik, dann die Physik Newtons verbreiten dieses Bild einer leblosen Materie, die passiv den Gesetzen eines universalen Determinismus gehorcht, den ihr der göttliche Geist auferlegt und den die menschliche Vernunft vollständig erkennen und beherrschen kann.70 Der Mensch allein kann einen Sinn und einen Plan in diese amorphe und bedeutungslose Masse hineinbringen, die er durch die Technik zu seinen eigenen Zwecken manipuliert. Die Natur ist nicht länger Herrin des Lebens und der Weisheit, sondern wird der Ort, an dem sich die prometheische Macht des Menschen behauptet. Diese Sicht scheint die menschliche Freiheit zur Geltung zu bringen, tatsächlich aber bringt sie Freiheit und Natur in einen Gegensatz und beraubt so die menschliche Freiheit jeder objektiven Verhaltensnorm. Sie führt zur Idee einer ganz willkürlichen menschlichen Schöpfung von Werten oder schlicht und einfach zum Nihilismus.

73. In diesem Kontext, in dem die Natur keinerlei immanente teleologische Rationalität mehr birgt und jede Gemeinsamkeit oder Verwandtschaft mit der Welt des Geistes verloren hat, wird der Übergang von der Kenntnis der Seinsstrukturen zur sittlichen Verpflichtung, die sich daraus herzuleiten scheint, in der Tat unmöglich und fällt unter die Kritik des „naturalistischen Fehlschlusses“ (naturalistic fallacy), entlarvt durch David Hume, dann durch George Edward Moore in seinen Principia Ethica (1903). Das Gute ist wahrhaft vom Sein und vom Wahren abgetrennt. Die Ethik ist von der Metaphysik getrennt.

74. Die Entwicklung im Verständnis der Beziehung des Menschen zur Natur wirkt sich auch aus in dem Wiederauftreten eines radikalen anthropologischen Dualismus, der Geist und Körper in Gegensatz bringt, weil der Körper gewissermaßen die „Natur“ in jedem von uns darstellt.71 Dieser Dualismus zeigt sich in der Weigerung, den natürlichen Neigungen, die den Wahlentscheidungen der individuellen Vernunft vorausliegen, irgendeine menschliche und ethische Bedeutung beizumessen. Der Körper, eine meiner Subjektivität gegenüber als fremd beurteilte Realität, wird ein bloßes „Haben“, ein Objekt der Manipulation durch die Technik je nach den Interessen der individuellen Subjektivität.72

75. Weil außerdem eine metaphysische Konzeption auftauchte, in der das menschliche Handeln und das göttliche Handeln in Konkurrenz treten, da sie auf univoke Weise verstanden und zu Unrecht auf derselben Ebene angesiedelt werden, impliziert die – legitime – Aussage der Autonomie des menschlichen Subjekts, dass Gott aus der Sphäre der menschlichen Subjektivität ausgestoßen wird. Jeder Bezug zu einer Normativität, die von Gott oder von der Natur stammt, d.h. jede „Heteronomie“ wird als Bedrohung für die Autonomie des Subjekts verstanden. Der Begriff des natürlichen Sittengesetzes erscheint also als unvereinbar mit der authentischen Würde des Subjekts.

3.4. Wege zur Versöhnung

76. Um dem Begriff des natürlichen Sittengesetzes als Grundlage einer universalen Ethik seinen ganzen Sinn zurückzugeben, ist es wichtig, einen Blick der Weisheit zu fördern, der im eigentlichen Sinne metaphysischer Art ist und fähig, gleichzeitig Gott, die Natur und die menschliche Person zu umschließen, um sie in der analogen Einheit des Seins zu versöhnen, dank der Idee der Schöpfung als Teilhabe.

77. Vor allem ist es wesentlich, ein nicht-konkurrenzhaftes Verständnis des Zusammenspiels zwischen der göttlichen Kausalität und der freien Aktivität des menschlichen Subjekts zu entwickeln. Das menschliche Subjekt findet zur Vollendung, wenn es sich in Freiheit in das Wirken der Vorsehung Gottes einfügt, und nicht, wenn es sich ihr widersetzt. Es kommt ihm zu, die tiefen Antriebe, die seine Natur definieren, durch seine Vernunft zu entdecken, dann anzunehmen und frei zu ihrer Vollendung zu führen. Wie jedes Geschöpf definiert sich die menschliche Natur durch einen ganzen Komplex von Antrieben, Hinneigungen, Ausrichtungen, innerhalb derer die Freiheit sich zeigt. Die Freiheit setzt ja in der Tat voraus, das der menschliche Wille „unter Spannung steht“ durch die natürliche Sehnsucht nach dem Guten und nach dem letzten Ziel. Der freie Wille vollzieht sich also in der Wahl begrenzter Gegenstände, die dieses Ziel zu erreichen erlauben. Im Hinblick auf diese Güter, die auf die Freiheit eine naturgegebene, aber nicht determinierende Anziehung ausüben, wahrt die Person die Herrschaft über ihre Wahl aufgrund ihrer angeborenen Öffnung für das absolut Guten. Die menschliche Freiheit ist also nicht ein absoluter Schöpfer ihrer selbst, sondern eine herausragende Eigenart der mensch­lichen Natur.

78. Eine Philosophie der Natur, die die erkennbare Tiefe der sinnenhaften Welt zur Kenntnis nimmt, und vor allem eine Metaphysik der Schöpfung gestatten es dann, die dualistische und gnostische Versuchung zu überwinden, die darin besteht, die Natur der sittlichen Bedeutungslosigkeit zu überlassen. Unter diesem Gesichtspunkt muss man den reduzierenden Blick, den die vorherrschende technische Kultur auf die Natur werfen lässt, überwinden, um die sittliche Botschaft wiederzuentdecken, deren Trägerin die Natur als Werk des Logos ist.

79. Die Rehabilitierung der Natur und der Körperlichkeit in der Ethik sollte jedoch nicht mit irgendeinem „Physizismus“ gleichgesetzt werden. In der Tat haben bestimmte moderne Darstellungen des natürlichen Sittengesetzes die notwendige Integration der natürlichen Neigungen in der Einheit der Person schwerwiegend missverstanden. Sie haben es versäumt, die Einheit der menschlichen Person zu bedenken und die natürlichen Neigungen der verschiedenen „Teile“ der menschlichen Natur verabsolutiert, indem sie sie ohne Rangordnung nebeneinander gestellt und darauf verzichtet haben, sie in den gesamten personalen Entwurf des Subjekts zu integrieren. Denn, so erklärt Johannes Paul II., „die natürlichen Neigungen gewinnen nur insofern sittliche Bedeutung, als sie sich auf die menschliche Person und ihre authentische Verwirklichung beziehen“.73 Es kommt also heute darauf an, zwei Dinge gleichzeitig festzuhalten: Einerseits ist das menschliche Subjekt nicht eine Ansammlung oder ein Nebeneinander von unterschiedlichen und autonomen Neigungen, sondern ein substantielles und personales Ganzes, das die Berufung hat, auf die Liebe Gottes zu antworten und zur Einheit zu finden durch die bewusst bejahte Ausrichtung auf ein letztes Ziel, das die Teilgüter, die sich in den natürlichen Neigungen bekunden, in eine Rangordnung bringt. Diese Einung der natürlichen Neigungen in Entsprechung zu den höheren Zielen des Geistes, d.h. diese Humanisierung der Antriebe, die in die menschliche Natur eingeschrieben sind, stellt in keiner Weise eine Gewalttat gegen diese Kräfte dar. Sie ist im Gegenteil die Erfüllung einer Verheißung, die ihnen bereits eingeschrieben ist.74 Beispielsweise ist der hohe geistige Wert, den die Selbsthingabe in der gegenseitigen Liebe der Eheleute darstellt, bereits in der Natur des geschlechtlichen Leibes selbst eingeschrieben, der in dieser geistigen Verwirklichung seinen letzten Daseinssinn findet. Anderseits behält in diesem organischen Ganzen jeder Teil eine unreduzierbare eigene Bedeutung, die von der Vernunft bei der Ausarbeitung des Gesamtentwurfs der Person berücksichtigt werden muss. Die Lehre vom natürlichen Sittengesetz muss also gleichzeitig die zentrale Rolle der Vernunft in der Bereitstellung eines im eigentlichen Sinne menschlichen Lebensentwurfs und die je eigene Beschaffenheit und Bedeutung der vorrationalen natürlichen Antriebe festhalten.75

89. Die sittliche Bedeutung der vorrationalen natürlichen Antriebe erscheint im vollen Licht in der Lehre von den Sünden wider die Natur. Sicherlich ist jede Sünde in dem Maße gegen die Natur, als sie sich der rechten Vernunft widersetzt und die authentische Entwicklung der mensch­lichen Person behindert. Doch bestimmte Verhaltensweisen werden in besonderer Weise als Sünden wider die Natur qualifiziert, insofern sie direkter im Widerspruch zum objektiven Sinn der natürlichen Antriebe stehen, die die Person in der Einheit ihres sittlichen Lebens annehmen soll.76 So geht der frei gewählte Selbstmord gegen die natürliche Neigung, seine Existenz zu erhalten und fruchtbar werden zu lassen. So stehen bestimmte sexuelle Praktiken direkt im Widerspruch zu den Zielsetzungen der Fortpflanzung, die in den geschlechtlichen Leib des Menschen eingeschrieben sind. Allein aufgrund dieser Tatsache widersprechen sie auch den interpersonalen Werten, die ein verantwortliches und voll und ganz mensch­liches sexuelles Leben fördern soll.

81. Das Risiko, die auf ihren rein biologischen Bestandteil reduzierte Natur zu verabsolutieren – unter Vernachlässigung ihrer inneren Berufung, in einen geistigen Entwurf integriert zu werden –, bedroht heute gewisse radikale Tendenzen der ökologischen Bewegung. Die unverantwortliche Ausbeutung der Natur durch menschliche Handlungsträger, die nur den ökonomischen Profit suchen, sowie die Gefahren, die dadurch der Biosphäre aufgelastet werden, rütteln mit Recht die Gewissen wach. Die „Tiefenökologie“ (deep ecology) stellt jedoch eine übertriebene Reaktion dar. Sie proklamiert eine angebliche Gleichheit der lebenden Arten bis zu dem Punkt, dass sie dem Menschen keinerlei besondere Rolle mehr zuerkennt; das untergräbt paradoxerweise die Verantwortung des Menschen gegenüber der Biosphäre, deren Teil er ist. Auf noch radikalere Weise gingen einige so weit, den Menschen als ein zerstörerisches Virus zu betrachten, das die Unversehrtheit der Natur beeinträchtige, und sie sprechen ihm jede Bedeutung und jeden Wert in der Biosphäre ab. Man gelangt damit zu einer neuen Art von Totalitarismus, der die menschliche Existenz in ihrer spezifischen Besonderheit ausschließt und den legitimen mensch­lichen Fortschritt verurteilt.

82. Eine Angemessene Antwort auf die komplexen Fragen der Ökologie kann es nur im Rahmen eines tieferen Verständnisses des natürlichen Sittengesetzes geben, das die Verbindung zwischen der mensch­lichen Person, der Gesellschaft, der Kultur und dem Gleichgewicht der biophysischen Sphäre, in der die menschliche Person sich verkörpert, zur Geltung bringt. Eine integrale Ökologie muss das spezifisch Menschliche fördern und gleichzeitig die Welt der Natur in ihrer physischen und biologischen Integrität. Selbst wenn der Mensch als sittliches Wesen in seiner Suche nach dem zuhöchst Wahren und Guten seine unmittelbare Umgebung transzendiert, tut er es ja, indem er die besondere Sendung annimmt, für die natürliche Welt zu sorgen und in Harmonie mit ihr zu leben, die vitalen Werte zu verteidigen, ohne die weder das menschliche Leben noch die Biosphäre dieses Planeten sich erhalten können.77Diese integrale Ökologie ruft jeden Menschen und jede Gemeinschaft in die Pflicht im Hinblick auf eine neue Verantwortung. Sie ist untrennbar von einer globalen politischen Ausrichtung, die die Anforderungen des natürlichen Sittengesetzes respektiert.

Kapitel 4: Das natürliche Sittengesetz und das Gemeinwesen

4.1. Person und Gemeinwohl

83. Wenn wir die politische Ordnung der Gesellschaft ansprechen, betreten wir den Raum, der durch das Recht bestimmt wird. Das Recht erscheint ja, sobald Personen miteinander in Beziehung treten. Der Übergang von der Person zur Gesellschaft erhellt die wesentliche Unterscheidung zwischen dem natürlichen Sittengesetz und dem Naturrecht.

84. Die Person steht im Mittelpunkt der politischen und sozialen Ordnung, weil sie ein Ziel in sich ist und kein Mittel. Die Person ist von Natur aus ein soziales Wesen, nicht aufgrund von Entscheidung oder reiner vertraglicher Festlegung. Um sich als Person zu verwirklichen, braucht sie ein Gefüge von Beziehungen, das sie mit anderen Personen knüpft. So steht sie im Zentrum einer Struktur aus konzentrischen Kreisen: die Familie, die Lebens- und Arbeitsumgebung, die Gemeinschaft der Nachbarschaft, die Nation und schließlich die Menschheit.78 Die Person schöpft aus jedem dieser Kreise notwendige Elemente zu ihrem Wachstum und trägt gleichzeitig trägt sie zu deren Vervollkommnung bei.

85. Aufgrund der Tatsache, dass die Menschen berufen sind, in Gemeinschaft mit anderen zu leben, haben sie eine Reihe von anzustrebenden Gütern und zu verteidigenden Werten gemeinsam. Das ist es, was man das „Gemeinwohl“ nennt. Während die Person ein Ziel in sich selbst ist, hat die Gesellschaft zum Ziel, ihr Gemeinwohl zu fördern, zu konsolidieren und zu entwickeln. Das Streben nach dem Gemeinwohl erlaubt es dem Gemeinwesen, die Energien all seiner Mitglieder zu mobilisieren. Auf einer ersten Ebene kann das Gemeinwohl verstanden werden als die Gesamtheit der Bedingungen, die es der Person erlauben, mehr menschliche Person zu sein.79 Auch wenn das Gemeinwohl sich in seinen äußeren Aspekten dekliniert – Ökonomie, Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, Erziehung, Zugang zur Beschäftigung, geistige Suche u.a. –, ist es doch immer ein menschliches Gut.80Auf einer zweiten Ebene ist das Gemeinwohl das, was der politischen Ordnung und dem Gemeinwesen selbst ein Ziel gibt. Als Gut aller und jedes einzelnen bringt es die gemeinschaftliche Dimension des menschlichen Wohls zum Ausdruck. Die Gesellschaften lassen sich definieren nach dem Typ von Gemeinwohl, das sie zu fördern gedenken. Wenn es wesentliche Anforderungen an das Gemeinwohl jeder Gesellschaft gibt, dann entwickelt sich die Vision des Gemeinwohls mit den Gesellschaften selbst in Abhängigkeit von den Konzeptionen der Person, der Gerechtigkeit und der Rolle der öffentlichen Gewalt.

4.2. Das natürliche Sittengesetz, Maßstab der politischen Ordnung

86. Die Gesellschaft, die im Hinblick auf das Gemeinwohl ihrer Mitglieder organisiert ist, antwortet auf eine Anforderung der sozialen Natur der Person. Das natürliche Sittengesetz erscheint also als normativer Horizont, in dem die politische Ordnung sich ihrer Berufung nach bewegen soll. Es definiert die Gesamtheit der Werte, die für eine Gesellschaft als humanisierend erscheinen. Sobald man sich auf dem sozialen und politischen Feld befindet, können die Werte nicht mehr privater, weltanschaulicher oder konfessioneller Natur sein: sie betreffen alle Bürger und Bürgerinnen. Nicht einen vagen Konsens unter den Bürgern bringen sie zum Ausdruck, sondern sie gründen in den Anforderungen von deren gemeinsamem Menschsein. Damit die Gesellschaft ihre Sendung im Dienst der Person richtig wahrnimmt, muss sie die Erfüllung von deren natürlichen Neigungen fördern. Die Person geht also der Gesellschaft voraus, und die Gesellschaft ist nur humanisierend, wenn sie auf die Erwartungen antwortet, die der Person als sozialem Wesen eingeschrieben sind.

87. Diese natürliche Ordnung der Gesellschaft im Dienst der Person lässt sich gemäß der Soziallehre der Kirche durch vier Werte umschreiben, die sich von den natürlichen Neigungen des Menschen herleiten und die Umrisse des Gemeinwohls skizzieren, das die Gesellschaft anzustreben hat, und zwar: Freiheit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Solidarität.81Diese vier Werte entsprechen den Erfordernissen einer ethischen Ordnung in Übereinstimmung mit dem natürlichen Sittengesetz. Wenn einer dieser Werte fehlt, neigt das Gemeinwesen zur Anarchie oder zur Herrschaft des Stärksten. Die Freiheit ist die erste Bedingung einer menschlich akzeptablen politischen Ordnung. Ohne die Freiheit, seinem Gewissen zu folgen, seine Meinungen zu äußern und seine Pläne zu verwirklichen, gibt es kein menschliches Gemeinwesen, selbst wenn die Suche nach privaten Gütern immer mit der Förderung des Wohls aller im Gemeinwesen verbunden sein muss. Ohne die Suche nach der Wahrheit und die Achtung ihr gegenüber gibt es keine Gesellschaft, sondern die Diktatur des Stärksten. Die Wahrheit allein, die niemand besitzt, ist fähig, die Menschen auf gemeinsame Ziele auszurichten. Wenn es nicht die Wahrheit ist, die von sich aus verpflichtend wird, dann ist es der Geschickteste, der „seine” Wahrheit aufzwingt. Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Gesellschaft, sondern die Herrschaft der Gewalt. Die Gerechtigkeit ist das höchste Gut, zu dem das Gemeinwesen verhilft. Sie setzt voraus, dass das Gerechte stets gesucht wird und dass das Recht sorgfältig auf den Einzelfall angewandt wird, denn die Angemessenheit ist der Gipfel der Gerechtigkeit. Schließlich muss die Gesellschaft auf solidarische Weise regiert werden, so dass man der gegenseitigen Hilfe und der Verantwortung für das Los der anderen einen Platz einräumt und die Güter, über die die Gesellschaft verfügt, den Bedürfnissen aller entsprechen können.

4.3. Vom natürlichen Sittengesetz zum Naturrecht

88. Das natürliche Sittengesetz (lex naturalis) drückt sich als Naturrecht (jus naturale) aus, sobald man die Beziehungen der Gerechtigkeit zwischen den Menschen bedenkt: Beziehungen zwischen den physischen und sittlichen Personen, zwischen den Personen und der öffentlichen Gewalt, Beziehungen aller zum positiven Gesetz. Wir gehen von der anthropologischen Kategorie des natürlichen Sittengesetzes zur juridischen und politischen Kategorie der Organisation des Gemeinwesens über. Das Naturrecht ist das innewohnende Maß des Ausgleichs zwischen den Gliedern der Gesellschaft. Es ist die Regel und das innere Maß der interpersonalen und der sozialen Beziehungen zwischen den Menschen.

89. Das Recht ist nicht willkürlich: die Anforderung der Gerechtigkeit, die sich aus dem natürlichen Sittengesetz herleitet, geht der Formulierung und dem Erlass des Rechts voraus. Es ist nicht das Recht, das darüber entscheidet, was gerecht ist. Auch die Politik ist nicht willkürlich: die Normen der Gerechtigkeit sind nicht nur das Ergebnis eines zwischen Menschen geschlossenen Vertrags, sondern gehen zunächst aus der Natur der Menschen selbst hervor. Das Naturrecht ist die Verankerung der menschlichen Gesetze im natürlichen Sittengesetz. Es ist der Horizont, nach dem der menschliche Gesetzgeber sich in seinen Entscheidungen richten muss, wenn er in seiner Sendung zum Dienst am Gemeinwohl Normen erlässt. In diesem Sinne gibt er dem natürlichen Sittengesetz die Ehre, das dem Menschsein des Menschen innewohnt. Wenn demgegenüber das Naturrecht negiert wird, dann schafft allein der Wille des Gesetzgebers das Gesetz. Dann aber ist der Gesetzgeber nicht mehr der Interpret dessen, was gerecht und gut ist, sondern maßt sich das Vorrecht an, oberstes Kriterium des Gerechten zu sein.

90. Das Naturrecht ist niemals ein Maßstab, der ein für allemal festgelegt wäre. Es ist das Ergebnis einer Einschätzung wechselnder Situationen, in denen die Menschen leben. Es proklamiert das Urteil der praktischen Vernunft, die beurteilt, was gerecht ist. Das Naturrecht als juridischer Ausdruck des natürlichen Sittengesetzes in der politischen Ordnung, erscheint so als Maßstab gerechter Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft.

4.4. Naturrecht und positives Recht

91. Das positive Recht muss sich bemühen, die Anforderungen des Naturrechts umzusetzen. Dies geschieht entweder in der Weise der Schlussfolgerung (das Naturrecht verbietet den Mord, das positive Recht untersagt die Abtreibung) oder in der Weise der Festlegung (das Naturrecht schreibt vor, die Schuldigen zu bestrafen, das positive Strafrecht legt die Strafen fest, die für jede Kategorie von Straftaten anzuwenden sind).82Insofern sie sich wahrhaft vom Naturrecht, also vom ewigen Recht herleiten, verpflichten die positiven menschlichen Gesetze im Gewissen. Im entgegengesetzten Fall verpflichten sie nicht. „Wenn das Gesetz nicht gerecht ist, ist es nicht einmal ein Gesetz“.83Die positiven Gesetze können und sollen sich sogar ändern, um ihrer eigenen Berufung treu zu bleiben. In der Tat existiert einerseits ein Fortschritt der menschlichen Vernunft, die sich nach und nach besser bewusst wird, was für das Wahl der Gemeinschaft das Angemessenste ist, und andererseits verändern sich die historischen Bedingungen des Lebens der Gesellschaften (zum Guten oder zum Schlech­ten), und die Gesetze müssen sich dem anpassen.84 So muss der Gesetzgeber im Konkreten der historischen Situationen festlegen was gerecht ist.85

92. Die Naturrechte sind Maßstäbe für die menschlichen Beziehungen, vorgängig zum Willen des Gesetzgebers. Sie sind gegeben, sobald Menschen in Gemeinschaft leben. Was von Natur aus gerecht ist, vor jeder gesetzlichen Formulierung, das ist das Naturrecht. Es findet insbesondere Ausdruck in den subjektiven Rechten der Person, wie z.B. im Recht auf Achtung vor dem eigenen Leben, Unversehrtheit der Person, Religionsfreiheit, Gedankenfreiheit, Recht zur Gründung einer Familie und zur Erziehung seiner Kinder nach den eigenen Überzeugungen, Recht zur Vereinigung mit anderen, zur Teilnahme am Leben der Gemeinschaft... Diese Rechte, denen das zeitgenössische Denken eine sehr große Bedeutung beimisst. haben ihre Quelle nicht in wechselnden Wünschen der Individuen, sondern in der Struktur der Menschen selbst und ihrer humanisierenden Beziehungen. Die Rechte der menschlichen Person gehen also hervor aus der gerechten Ordnung, die in den Beziehungen zwischen den Menschen herrschen soll. Diese Naturrechte des Menschen anzuerkennen, bedeutet die objektive Ordnung der menschlichen Beziehungen anzuerkennen, die auf dem natürlichen Sittengesetz gründet.

4.5. Die politische Ordnung ist nicht die eschatologische Ordnung

93. In der Geschichte der menschlichen Gesellschaften wurde die politische Ordnung oft verstanden als Abbild einer transzendenten und göttlichen Ordnung. So begründeten und rechtfertigten die alten Kosmologien politische Theologien, in denen der Herrscher die Verbindung zwischen dem Kosmos und der Menschenwelt sicherte. Es ging darum, die Menschenwelt in die vorgefasste Harmonie der Welt eintreten zu lassen. Mit dem Auftreten des biblischen Monotheismus wird das Universum verstanden als gehorsam gegenüber den Gesetzen, die der Schöpfer ihm gegeben hat. Die Ordnung des Gemeinwesens ist erreicht, wenn die Gesetze Gottes, die ja in die Herzen eingeschrieben sind, respektiert werden. Lange konnten Formen von Theokratie in Gesell­schaftsordnungen vorherrschen, die sich nach Prinzipien und Werten organisierten, die sie aus ihren heiligen Büchern bezogen. Es gab keine Unterscheidung zwischen der Sphäre der religiösen Offenbarung und der Sphäre der Organisation des Gemeinwesens. Doch die Bibel hat die menschliche Macht entsakralisiert, selbst wenn Jahrhunderte der theokratischen Osmose, auch im christlichen Milieu, diese wesentliche Unterscheidung zwischen der politischen Ordnung und der religiösen Ordnung verdunkelt haben. In dieser Hinsicht muss man gut unterscheiden zwischen der Situation des ersten Bundes, in dem das von Gott gegebene göttliche Gesetz auch das Gesetz des Volkes Israel war, und der Situation des neuen Bundes, die Trägerin der Unterscheidung und der relativen Autonomie von religiöser und politischer Ordnung ist.

94. Die biblische Offenbarung lädt die Menschheit ein zu bedenken, dass die Schöpfungsordnung eine universale Ordnung ist, an der die gesamte Menschheit teilnimmt, und dass diese Ordnung der Vernunft zugänglich ist. Wenn wir vom natürlichen Sittengesetz sprechen, dann geht es gerade um diese von Gott gewollte und durch die menschliche Vernunft erfasste Ordnung. Die Bibel trifft die Unterscheidung zwischen dieser Schöpfungsordnung und der Ordnung der Gnade, zu der der Glaube an Christus Zugang gibt. Nun ist die Ordnung des Gemeinwesens nicht diese endgültige bzw. eschatologische Ordnung. Der Bereich des Politischen ist nicht der Bereich der himmlischen Stadt, die eine ungeschuldete Gabe Gottes ist. Er gehört zur unvollkommenen und vorübergehenden Ordnung, in der die Menschen leben, wobei sie auf ihre Erfüllung im Jenseits der Geschichte zuwandern. Das Eigentümliche des irdischen Gemeinwesens besteht nach dem hl. Augustinus darin, vermischt zu sein: Gerechte und Ungerechte, Gläubige und Ungläubige finden sich Seite an Seite.86Sie müssen vorübergehend zusammenleben, gemäß den Anforderungen ihrer Natur und den Fähigkeiten ihrer Vernunft.

95. Der Staat kann sich also nicht zum Träger des letzten Sinns erheben. Er kann weder eine globale Weltanschauung auferlegen noch eine Religion (nicht einmal eine säkulare) oder eine einzige Denkform. Der Bereich des letzten Sinns wird in der Zivilgesellschaft von den religiösen Organisationen, den Philosophien und Spiritualitäten übernommen, und diesen obliegt es, zum Gemeinwohl beizutragen, den sozialen Zusammenhalt zu stärken und die universalen Werte zu fördern, die die politische Ordnung selbst grundlegen. Die politische Ordnung hat nicht die Berufung, das kommende Reich Gottes auf die Erde zu übertragen. Sie kann es vorwegnehmen durch Vorgriffe im Bereich der Gerechtigkeit, der Solidarität und des Friedens. Sie sollte dieses Reich nicht unter Zwang aufrichten wollen.

4.6. Die politische Ordnung ist eine zeitliche und rationale Ordnung

96. Wenn die politische Ordnung nicht der Bereich der letzten Wahrheit ist, so muss sie dennoch offen bleiben für die beständige Suche nach Gott, nach der Wahrheit und der Gerechtigkeit. Die „legitime und gesunde Laizität des Staates“87 besteht also in der Unterscheidung der übernatürlichen Ordnung des theologalen Glaubens und der politischen Ordnung. Diese letztere darf nie verwechselt werden mit der Ordnung der Gnade, der in Freiheit zuzustimmen die Menschen berufen sind. Sie ist vielmehr gebunden an die universale mensch­liche Ethik, die in die menschliche Natur eingeschrieben ist. So muss das Gemeinwesen den Personen, die es bilden, das Nötige zur vollen Verwirklichung ihres mensch­lichen Lebens zur Verfügung stellen, einschließlich bestimmter geistiger und religiöser Werte, sowie die Freiheit für die Bürger und Bürgerinnen, gegenüber dem Absoluten und den höchsten Werten ihre eigene Position einzunehmen. Das Gemeinwesen, dessen Gemeinwohl zeitlicher Natur ist, kann jedoch nicht die im eigentlichen Sinne übernatürlichen Güter bereitstellen, die einer anderen Ordnung angehören.

97. Wenn Gott und die gesamte Transzendenz aus dem Horizont des Politischen verbannt werden müssten, bliebe nur die Macht des Menschen über den Menschen. Die politische Ordnung hat sich faktisch manchmal selbst als der letzte Sinnhorizont für die Menschheit ausgegeben. Die totalitären Ideologien und Regime haben bewiesen, dass eine solche politische Ordnung ohne einen Horizont der Transzendenz menschlich nicht annehmbar ist. Diese Transzendenz steht in Verbindung mit dem, was wir das natürliche Sittengesetz nennen.

98. Die politisch-religiösen Osmosen der Vergangenheit wie auch die Erfahrungen mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts haben dazu geführt, im Sinne einer gesunden Reaktion heute die Rolle der Vernunft in der Politik wieder zur Geltung zu bringen, und dem aristotelisch-thomistischen Diskurs über das natürliche Sittengesetz eine neue Stichhaltigkeit gegeben. Die Politik, d.h. die Organisation des Gemeinwesens und die Ausarbeitung seiner gemeinschaftlichen Projekte, gehört zur natürlichen Ordnung und muss eine rationale Debatte in Gang setzen, die offen ist für die Transzendenz.

99. Das natürliche Sittengesetz, das der sozialen und politischen Ordnung zugrunde liegt, verlangt keine Zustimmung des Glaubens, sondern der Vernunft, Sicherlich ist die Vernunft selbst oft verdunkelt durch Leidenschaften, gegensätzliche Interessen, Vorurteile. Der beständige Bezug zum natürlichen Sittengesetz drängt also zu einer dauernden Reinigung der Vernunft. Nur so kann die politische Ordnung die Falle der Willkür, der Eigeninteressen, der organisierten Lüge, der Manipulation der Geister vermeiden. Der Bezug zum natürlichen Sittengesetz hält den Staat davon ab, der Versuchung zu erliegen, die Zivilgesellschaft in sich aufzusaugen und die Menschen einer Ideologie zu unterwerfen. Dieser Bezug hindert den Staat auch, sich zu einem „Vorsehungsstaat“ zu entwickeln, der Personen und Gemeinschaften jeder Initiative beraubt und ihnen die Verantwortung entzieht. Das natürliche Sittengesetz umfasst die Idee des Rechtsstaats, der sich nach dem Prinzip der Subsidiarität strukturiert und dabei die Personen und die Körperschaften auf mittlerer Ebene respektiert und deren Zusammenwirken reguliert.88

100. Die großen politischen Mythen konnten nicht anders demaskiert werden als durch die Einführung der Regel der Rationalität und die Berücksichtigung der Transzendenz des Gottes der Liebe, der die Anbetung der auf Erden errichteten politischen Ordnung verbietet. Der Gott der Bibel wollte die Schöpfungsordnung, damit alle Menschen sich nach dem ihnen innewohnenden Gesetz ausrichten und diese Ordnung frei suchen könnten und, nachdem sie sie gefunden haben, das Licht der Gnade darauf werfen, das deren Vollendung darstellt.

Kapitel 5: Jesus Christus, Erfüllung des natürlichen Sittengesetzes

101. Die Gnade zerstört nicht die Natur, sondern heilt und stärkt sie und bringt sie zu ihrer vollen Erfüllung. Folglich ist das natürliche Sittengesetz der Ordnung der Gnade nicht fremd, selbst wenn es Ausdruck der allen Menschen gemeinsamen Vernunft ist und auf kohärente und wahre Weise auf philosophischer Ebene dargelegt werden kann. Die Ansprüche des natürlichen Sittengesetzes bleiben gegenwärtig und wirksam in den verschiedenen theologischen Zuständen, die die Menschheit im Rahmen der Heilsgeschichte durchläuft.

102. Der Heilsplan, der auf die Initiative des ewigen Vaters zurückgeht, verwirklicht sich durch die Sendung des Sohnes, der den Menschen das Neue Gesetz gibt, das Gesetz des Evangeliums, das wesentlich in der Gnade des Heiligen Geistes besteht, der im Herzen der Gläubigen wirkt, um sie zu heiligen. Das Neue Gesetz zielt vor allem darauf, den Menschen die Teilhabe an der trinitarischen Communio der göttlichen Personen zu eröffnen, doch gleichzeitig nimmt es in herausragender Form das natürliche Sittengesetz auf und erfüllt es. Einerseits ruft es klar die Anforderungen in Erinnerung, die durch Sünde und Unwissenheit verdunkelt werden können. Andererseits befreit es die Menschen vom Gesetz der Sünde, die bewirkt, dass „das Wollen in mir vorhanden ist, ich aber das Gute nicht zu vollbringen vermag” (Röm 7,18), und gibt den Menschen so die wirksame Befähigung, ihren Egoismus zu überwinden und die humanisierenden Anforderungen des natürlichen Sittengesetzes voll in die Tat umzusetzen.

5.1. Der inkarnierte Logos, das Lebendige Gesetz

103. Dank des natürlichen Lichtes ihrer Vernunft, die eine Teilhabe am göttlichen Licht ist, sind die Menschen fähig, die erkennbare Ordnung des Alls zu erforschen, um darin den Ausdruck der Weisheit, der Schönheit und der Güte des Schöpfers zu entdecken. Ausgehend von dieser Erkenntnis kommt es ihnen zu, sich durch ihr sittliches Handeln in diese Ordnung einzufügen. Kraft eines tiefen Blicks auf den Plan Gottes, dessen Auftakt der Schöpfungsakt ist, lehrt die Heilige Schrift die Gläubigen, dass diese Welt geschaffen wurde im Logos, durch ihn und für ihn, das Wort Gottes, den geliebten Sohn des Vaters, die ungeschaffene Weisheit, und dass die Welt in Ihm ihr Leben und ihren Bestand hat. Der Sohn ist ja wahrhaft „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung, denn in ihm (en auto) wurde alles geschaffen, im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare […]; alles ist durch ihn (di’ autou) und auf ihn hin (eis auton) geschaffen. Er ist vor aller Schöpfung, in ihm (en auto) hat alles Bestand“ (Kol 1,15–17).89Der Logos ist also der Schlüssel der Schöpfung. Der Mensch, geschaffen nach dem Bilde Gottes, trägt in sich eine ganz besondere Spur dieses personalen Logos. Auch hat er die Berufung, dem Sohn als dem „Erstgeborenen von vielen Geschwistern“ (Röm 8,29), gleichgestaltet und verähnlicht zu werden.

104. Doch durch die Sünde hat der Mensch schlechten Gebrauch von seiner Freiheit gemacht und sich von der Quelle der Weisheit abgewandt. Dadurch hat er die Wahrnehmung verfälscht, die er von der objektiven Ordnung der Dinge haben konnte, sogar auf natürlicher Ebene. Die Menschen wissen, dass ihre Werke böse sind, und hassen daher das Licht und arbeiten falsche Theorien aus, um ihre Sünden zu rechtfertigen.90Auch das Bild Gottes im Menschen ist schwerwiegend verdunkelt. Selbst wenn ihre Natur sie noch auf eine Erfüllung jenseits ihrer selbst in Gott verweist (das Geschöpf kann sich nicht bis zu dem Punkt zerstören, dass es nicht mehr die Zeugnisse wahrnähme, die der Schöpfer über sich in der Schöpfung gibt), sind die Menschen faktisch so schwerwiegend durch die Sünde betroffen, dass sie den tiefen Sinn der Welt missverstehen und ihn in den Kategorien von Vergnügen, Geld oder Macht interpretieren.

105. Durch seine heilbringende Fleischwerdung hat der Logos die menschliche Natur angenommen, das Bild Gottes wieder hergestellt und den Menschen sich selbst zurückgegeben. So bringt Jesus Christus, der Neue Adam, den ursprünglichen Plan Gottes für den Menschen zur Vollendung, und offenbart gerade dadurch dem Menschen den Menschen: „Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf. Denn Adam, der erste Mensch, war das Vorausbild des zukünftigen, nämlich Christi des Herrn. Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung. […] Der 'das Bild des unsichtbaren Gottes' (Kol 1,15) (21) ist, er ist zugleich der vollkommene Mensch, der den Söhnen Adams die Gottebenbildlichkeit wiedergab, die von der ersten Sünde her verunstaltet war. Da in ihm die menschliche Natur angenommen wurde, ohne dabei verschlungen zu werden, ist sie dadurch auch schon in uns zu einer erhabenen Würde erhöht worden“.91 In seiner Person zeigt Jesus Christus uns also ein exemplarisches menschliches Leben in voller Übereinstimmung mit dem natürlichen Sittengesetz. So ist er das höchste Kriterium, um richtig zu entschlüsseln, welches die authentischen natürlichen Wünsche des Menschen sind, wenn sie nicht durch die Verzerrungen aufgrund der Sünde und der ungeordneten Leidenschaften verborgen sind.

106. Die Fleischwerdung des Sohnes wurde vorbereitet durch die Ökonomie des Alten Gesetzes, das ein Zeichen der Liebe Gottes für sein Volk Israel ist. Für bestimmte Kirchenväter war einer der Gründe, aus denen Gott dem Mose ein geschriebenes Gesetz gab, die Erinnerung der Menschen an die Anforderungen des Gesetzes, das von Natur aus in ihr Herz eingeschrieben ist, das die Sünde jedoch zum Teil verdunkelt und ausgelöscht hatte.92Dieses Gesetz, mit dem das Judentum die präexistente Weisheit identifiziert hat, die die Geschicke des Alls leitet93, machte so für den von der Sünde gezeichneten Menschen die konkrete Praxis der wahren Weisheit verständlich, die in der Liebe zu Gott und zum Nächsten besteht. Es enthielt Zeremonialgesetze und positive Rechtsvorschriften, aber auch sittliche Vorschriften, die im Dekalog zusammengefasst sind und die den Implikationen des natürlichen Sittengesetzes entsprachen. Auch die christliche Tradition hat den Dekalog als einen bevorzugten und weiterhin gültigen Ausdruck des natürlichen Sittengesetzes angesehen.94

107. Jesus Christus ist nicht gekommen, um das Gesetz „aufzuheben, sondern um es zu erfüllen“ (Mt 5,17).95 Wie aus den Texten des Evangeliums hervorgeht, lehrte Jesus „mit Vollmacht, nicht wie die Schriftgelehrten“ (Mk 1,22), und er zögerte nicht, einige besondere und vorübergehende Bestimmungen des Gesetzes zu relativieren oder gar außer Kraft zu setzen. Doch er bekräftigte auch deren wesentlichen Inhalt und brachte in seiner Person die Praxis des Gesetzes zu ihrer Vollendung, indem er aus Liebe die verschiedenen Arten von Vorschriften – sittliche, kultische und richterliche – des mosaischen Gesetzes annahm, die den drei Ämtern des Propheten, des Priesters und des Königs entsprechen. Der hl. Paulus bekräftigt, dass Christus der Endpunkt (telos) des Gesetzes ist (Röm 10,4). Telos hat hier einen doppelten Sinn. Christus ist das „Ziel“ des Gesetzes in dem Sinne, dass das Gesetz ein pädagogisches Mittel ist, das die Berufung hatte, die Menschen zu Christus zu führen. Für alle diejenigen, die aus dem Glauben in ihm vom Geist der Liebe leben, hat Christus den positiven Verpflichtungen des Gesetzes, die den Anforderungen des natürlichen Sittengesetzes hinzugefügt worden waren, „ein Ende gesetzt“.96

108. Jesus Christus hat wahrhaft auf vielfältige Weisen den ethischen Vorrang der Liebe zur Geltung gebracht, die untrennbar die Liebe zu Gott und die Nächstenliebe miteinander verbindet.97 Die Liebe ist das „neue Gebot“ (Joh 13,34), das in sich das ganze Gesetz zusammenfasst und den Interpretationsschlüssel dazu gibt: „An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten“ (Mt 22,40). Sie liefert auch den tiefen Sinn der „Goldenen Regel“: „Füge keinem Menschen zu, was du selbst nicht möchtest, dass es dir widerfährt“ (Tob 4,15) wird mit Christus zum Gebot, grenzenlos zu lieben. Der Kontext, in dem Jesus die Goldene Regel zitiert, bestimmt in der Tiefe deren Verständnis. Diese Regel findet sich im Zentrum eines Abschnitts, der mit dem Gebot beginnt: „Liebt eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen“, und der in der Ermahnung endet: „Seid barmherzig, wie euer himmlischer Vater barmherzig ist“.98 Über eine Regel der kommutativen Gerechtigkeit hinaus nimmt sie die Form einer Herausforderung an: sie lädt ein, die Initiative zu einer Liebe zu ergreifen, die Selbsthingabe ist. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist charakteristisch für diese christliche Anwendung der Goldenen Regel: Das Zentrum des Interesses verschiebt sich von der Sorge um sich selbst zur Sorge um den anderen.99 Die Seligpreisungen und die Bergpredigt legen aus, auf welche Weise das Gebot der Liebe gelebt werden soll, uneigennützig und mit dem Sinn für den anderen; diese Elemente sind der neuen Perspektive eigen, die von der christlichen Liebe eingenommen wird. So überwindet die Praxis der Liebe jede Verschlossenheit und Grenze. Sie erlangt eine universale Dimension und eine unerreichbare Kraft, denn sie befähigt die Person zu tun, was ohne die Liebe unmöglich wäre.

109. Doch Jesus erfüllt das Gesetz der Liebe vor allem im Geheimnis seines heiligen Leidens. Dort offenbart er als fleischgewordene Liebe auf eine vollkommen menschliche Weise, was die Liebe ist und was sie mit sich bringt.100 „Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung“ (Joh 13,1). Aus Gehorsam gegenüber der Liebe zum Vater und aus dem Verlangen nach dessen Ehre, die im Heil der Menschen besteht, nimmt Jesus das Leiden und den Tod am Kreuz zugunsten der Sünder an. Die Person Christi selbst, in der Logos und Weisheit Fleisch werden, wird so zum lebendigen Gesetz, zur höchsten Norm für jede christliche Ethik. Nachfolge Christi, sequela Christi, imitatio Christi sind die konkreten Wege, um das Gesetz in all seinen Dimensionen zu verwirklichen.

5.2. Der Heilige Geist und das Neue Gesetz der Freiheit

110. Jesus Christus ist nicht nur ein ethisches Modell, das es nachzuahmen gilt, sondern durch sein Pascha-Mysterium und in ihm ist er der Erlöser, der den Menschen die reale Möglichkeit gibt, das Gesetz der Liebe in die Tat umzusetzen. Das Pascha-Mysterium erfüllt sich wahrhaft in der Gabe des Heiligen Geistes, des Geistes der Vater und Sohn gemeinsamen Liebe, der die Jünger untereinander, mit Christus und schließlich mit dem Vater eint. Indem der Heilige Geist „die Liebe Gottes in unsere Herzen ausgießt“ (Röm 5,5), wird er inneres Prinzip und höchste Handlungsregel der Glaubenden. Er gewährt ihnen, spontan und genau alle Anforderungen der Liebe zu erfüllen. „Lasst euch vom Geist leiten, dann werdet ihr das Begehren des Fleisches nicht erfüllen“ (Gal 5,16). So erfüllt sich die Verheißung: „Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch. Ich lege meinen Geist in euch und bewirke, dass ihr meinen Gesetzen folgt und auf meine Gebote achtet und sie erfüllt“ (Ez 36,26–27).101

111. Die Gnade des Heiligen Geistes stellt das Hauptelement des Neuen Gesetzes bzw. des Gesetzes des Evangeliums dar.102 Die Verkündigung der Kirche, die Feier der Sakramente, die Anordnungen, die die Kirche trifft, um bei ihren Gliedern die Entwicklung des Lebens im Geist zu fördern, sind ganz und gar bezogen auf das persönliche Wachstum jedes und jeder Glaubenden in der Heiligkeit der Liebe. Mit dem Neuen Gesetz, das wesentlich ein inneres Gesetz ist, das „vollkommene Gesetz der Freiheit“ (Jak 1,25), erreicht der Wunsch nach Autonomie und Freiheit in der Wahrheit, der im Herzen des Menschen wohnt, hier auf Erden seine vollkommenste Verwirklichung. Aus dem Innersten der Person, in dem Christus wohnt und das durch den Geist verwandelt ist, entspringt ihr sittliches Handeln.103 Doch diese Freiheit steht ganz im Dienst der Liebe:„Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder. Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe!“ (Gal 5,13).

112. Das Neue Gesetz des Evangeliums schließt das natürliche Sittengesetz ein, nimmt es auf und erfüllt es. Die Ausrichtungen des natürlichen Sittengesetzes sind also nicht äußerliche normative Instanzen im Hinblick auf das Neue Gesetz. Sie sind vielmehr dessen konstitutiver Teil, wenn auch sekundär und ganz hingeordnet auf das Hauptelement, das die Gnade Christi ist.104 Im Licht der Vernunft, die nun durch den Glauben erhellt ist, erfasst der Mensch so gut wie möglich die Ausrichtungen des natürlichen Sittengesetzes, die ihm den Weg der vollen Entfaltung seiner Menschennatur anzeigen. So unterhält das natürliche Sittengesetz einerseits „eine grundlegende Verbindung zum neuen Gesetz des Lebens im Geist Jesu Christi und bietet andererseits eine breite Plattform für den Dialog mit Personen anderer geistiger Einstellung oder Bildung bei der Suche nach dem Gemeinwohl“.105

Schluss

113. Die katholische Kirche ist sich der Notwendigkeit für die Menschen bewusst, gemeinsam die Regeln eines Zusammenlebens in Gerechtigkeit und Frieden zu suchen und möchte mit den Religionen, den Weisheitstraditionen und den Philosophien unserer Zeit die Ressourcen teilen, die der Begriff des natürlichen Sittengesetzes bereitstellt. Wir nennen ‚natürliches Sittengesetz’ das Fundament einer universalen Ethik, die wir aus der Beobachtung und der Reflexion bezüglich unserer gemeinsamen menschlichen Daseinsbedingung entnehmen. Sie ist das sittliche Gesetz, das in die Herzen der Menschen eingeschrieben ist und dessen sich die Menschheit immer besser bewusst wird, während sie in der Geschichte fortschreitet. Dieses natürliche Sittengesetz hat nichts Statisches in seinem Ausdruck. Es besteht nicht in einer Liste von definitiven und unwandelbaren Vorschriften. Es ist eine immer sprudelnde Inspirationsquelle bei der Suche nach einer objektiven Grundlage für eine universale Ethik.

114. Unsere Glaubensüberzeugung lautet, dass Christus die Fülle des Menschlichen offenbart und in seiner Person erfüllt. Doch diese Offenbarung, so sehr sie auch eine ganz spezifische ist, deckt sich mit den Elementen, die im rationalen Denken der Wahrheitstraditionen der Mensch­heit bereits vorhanden sind, und bestätigt sie. Das Konzept des natürlichen Sittengesetzes ist also zunächst philosophisch, und als solches erlaubt es einen Dialog, der sich im Respekt vor den religiösen Überzeugungen eines jeden an das universal Menschliche in jedem menschlichen Wesen wendet. Ein Austausch auf der Ebene der Vernunft ist möglich, wenn es darum geht, zu erfahren und zu sagen, was allen vernunftbegabten Menschen gemeinsam ist und die Anforderungen des Lebens in Gemeinschaft freizusetzen.

115. Die Entdeckung des natürlichen Sittengesetzes antwortet auf die Suche einer Menschheit, die seit jeher versucht, sich Regeln zu geben für das sittliche Leben und das Leben in Gemeinschaft. Dieses Leben in Gemeinschaft betrifft einen ganzen Kreis von Beziehungen, die von der Zelle der Familie bis hin zu internationalen Beziehungen reichen und das ökonomische Leben, die Zivilgesellschaft sowie die politische Gemeinschaft einbeziehen. Um von allen Menschen in allen Kulturen anerkannt zu werden, müssen die gemeinschaftlichen Verhaltensnormen ihre Quelle in der menschlichen Person, in deren Bedürfnissen und Neigungen selbst haben. Diese Normen, die in der Reflexion ausgearbeitet und durch das Recht unterstützt werden, können so von allen verinnerlicht werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wussten die Nationen der Welt sich mit einer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auszustatten, die implizit besagt, dass die Quelle der unveräußerlichen Menschenrechte in der Würde jeder menschlichen Person liegt. Der hier vorgelegte Beitrag hat kein anderes Ziel als dabei zu helfen, über diese Quelle der personalen und gemeinschaftlichen Sittlichkeit nachzudenken.

116. Wir leisten unseren eigenen Beitrag zur Suche nach einer universalen Ethik und legen eine rational vertretbare Grundlage vor; damit möchten wir Experten und Sprecher der großen religiösen, weisheitlichen und philosophischen Traditionen der Menschheit zu einer entsprechenden Arbeit auf der Grundlage ihrer eigenen Quellen einladen, um zur gegenseitigen Anerkennung universaler sittlicher Normen zu gelangen, die in einem rationalen Zugang zur Wirklichkeit gründen. Diese Arbeit ist notwendig und dringlich. Wir müssen jenseits der Divergenzen unserer religiösen Überzeugungen und der Verschiedenheit unserer kulturellen Voraussetzungen dazu gelangen, uns zuzusprechen, welches die grundlegenden Werte für unser gemeinsames Menschsein sind, so dass wir zusammenarbeiten, um das Verständnis, die gegenseitige Anerkennung und die friedliche Zusammenarbeit unter allen Mitgliedern der Menschheitsfamilie zu fördern.



* Folgende Übersetzungen der Begriffe im französischen Originaltext werden gewählt: loi naturelle = natürliches Sittengesetz; droit naturel = Naturrecht; Ethik/ethis­ch wird verwendet, wenn es um die Reflexion über sittliche Gegebenheiten geht; Anm. d. Übers.

1 II. Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution Gaudium et spes, Vorwort, Nr. 1.

2 Vgl. Ez 36,26.

4 Vgl. Benedikt XVI., Rede vom 18. April 2008 vor der Vollversammlung der UNO: „Das Verdienst der »Allgemeinen Erklärung« ist, dass sie verschiedenen Kulturen, juristischen Ausdrucksweisen und institutionellen Modellen erlaubt hat, rund um einen grundlegenden Kern von Werten und damit von Rechten übereinzukommen. Heute aber ist es nötig, die Anstrengungen gegenüber dem Druck zu verdoppeln, der die Fundamente der »Erklärung« neu zu interpretieren und ihre innere Einheit zu gefährden sucht, so dass ein Sich-Entfernen vom Schutz der Menschenwürde erleichtert wird, um einfache Interessen, oft Sonderinteressen, zu befriedigen. [...] Die Erfahrung zeigt, dass sich die Gesetzlichkeit oft gegenüber der Gerechtigkeit durchsetzt, wenn das Beharren auf Rechten diese als ausschließliches Ergebnis legislativer Maßnahmen oder normativer Entscheidungen erscheinen lässt, die von den verschiedenen Einrichtungen derjenigen getroffen werden, die an der Macht sind. Wenn sie bloß in Begriffen der Gesetzlichkeit dargestellt werden, laufen Rechte Gefahr, zu schwachen Aussagen zu werden, die von der ethischen und rationalen Dimension losgelöst sind, die ihr Fundament und Ziel ist. Die »Allgemeine Erklärung« hat vielmehr die Überzeugung gestärkt, dass die Achtung der Menschenrechte vor allem in der unwandelbaren Gerechtigkeit verwurzelt ist, auf die sich auch die verpflichtende Kraft der internationalen Proklamationen stützt. Dieser Aspekt wird häufig übersehen, wenn der Versuch unternommen wird, Rechte im Namen einer engstirnigen utilitaristischen Perspektive ihrer wahren Funktion zu berauben“.

5 1993 veröffentlichten Repräsentanten des Weltparlaments der Religionen eine Erklärung des Weltethos-Projekts. Sie besagt, dass „unter den Religionen bereits ein Konsens besteht, der imstande ist, ein Weltethos zu fundieren: ein Minimalkonsens hinsichtlich der verbindlichen Werte, der unwiderruflichen Normen und der wesentlichen sittlichen Haltungen”. Diese Erklärung enthält vier Prinzipien. 1) „Keine neue Weltordnung ohne Weltethos”. 2) „Jeder Mensch muss auf menschliche Weise behandelt werden.” Die Berücksichtigung der Menschenwürde wird als ein Ziel in sich betrachtet. Dieses Prinzip nimmt die „Goldene Regel“ auf, die sich in vielen religiösen Traditionen findet. 3) Die Erklärung bringt vier unwandelbare Richtlinien zum Ausdruck (Gewaltlosigkeit und Respekt vor dem Leben; Solidarität; Toleranz und Wahrheit; Gleichwertigkeit von Mann und Frau). 4) Im Hinblick auf die Probleme der Menschheit ist eine Änderung der Mentalitäten nötig, damit jeder sich seiner gebieterischen Verantwortung bewusst wird. Es ist Pflicht der Religionen, diese Verantwortung zu pflegen, zu vertiefen und sie den kommenden Generationen weiterzugeben.

6 Benedikt XVI., Ansprache am 12. Februar 2007 auf dem Internationalen Kongress über das natürliche Sittengesetz, veranstaltet von der Päpstlichen Lateran-Universität: AAS 99 (2007) 244.

7 Augustinus, De doctrina christiana, III, 14, 22: „Das Gebot: ‚Was du nicht willst, dass man es dir tut, das füge keinem anderen zu’ kann sich in keiner Weise aufgrund der Verschiedenheit der Völker ändern” („‚Quod tibi fieri non vis, alii ne feceris’, nulla modo posse ulla eorum gentili diversitate variari”: CCSL 32, 91). Vgl. L.J. Philippidis, Die ‚Goldene Regel’ religionsgeschichtlich untersucht, Leipzig 1929; A. Dihle, Die Goldene Regel. Eine Einführung in die Geschichte der antiken und frühchristlichen Vulgärethik, Göttingen 1962; J. Wattles, The Golden Rule, New York – Oxford 1996.

8 Mānava dharmashāstra 1, 108: G.C. Haughton, Mānava Dharma Śāstra or The Institutes of Manu. Comprising the Indian System of Duties, Religious and Civil, ed. by P. Percival, New Delhi 41982, 14.

9 Mahābhārta, Anusasana parva, 113, 3–9: hg. v. Ishwar Chundra Sharma und O.N. Bimali, englische Übersetzung nach M.N. Dutt, Parimal Publications, Delhi, Bd. IX, 469.

10 Zum Beispiel: „Er sage die Wahrheit, er sage Dinge, die Freude bereiten mögen, er erkläre keine unangenehme Wahrheit, und er bringe keine offiziöse Lüge vor: darin besteht das ewige Gesetz“ (Mānava dharmashāstra, 4, 138; a.a.O. 101). „Er betrachte immer die Tat des Schlagens, die der Beschimpfung und die des Schadens am Gut des Nächsten als die drei verderblichsten Dinge in der Reihe der Laster, die der Zorn hervorbringt“ (Mānava dharmashāstra, 7, 51; a.a.O. 156).

11 Konfuzius, Unterredungen, 15, 23; französische Übersetzung: A. Cheng, Paris 1981, 125.

12 Koran, Sure 35, 24; vgl. Sure 13, 7.

13 Koran, Sure 17,22–38: „Und dein Herr hat befohlen: ‚Verehrt keinen außer Ihm, und (erweist) den Eltern Güte. Wenn ein Elternteil oder beide bei dir ein hohes Alter erreichen, so sage dann nicht »Pfui!« zu ihnen und fahre sie nicht an, sondern sprich zu ihnen in ehrerbietiger Weise. Und senke für sie in Barmherzigkeit den Flügel der Demut und sprich: »Mein Herr, erbarme Dich ihrer (ebenso mitleidig), wie sie mich als Kleines aufgezogen haben.«’ Euer Herr weiß am besten, was in euren Seelen ist: Wenn ihr rechtgesinnt seid, dann ist Er gewiss verzeihend gegenüber den Sich-Bekehrenden. Und gib dem Verwandten, was ihm gebührt, und ebenso dem Armen und dem Sohn des Weges, aber sei (dabei) nicht ausgesprochen verschwenderisch. Denn die Verschwender sind Brüder der Satane, und Satan war undankbar gegen seinen Herrn. Und wenn du dich von ihnen abwendest – im Trachten nach der Barmherzigkeit deines Herrn, auf die du hoffst –, so sprich zu ihnen angenehme Worte. Und lass deine Hand nicht an deinen Hals gefesselt sein, aber strecke sie auch nicht zu weit geöffnet aus, damit du nicht getadelt (und) zerschlagen niedersitzen musst. Wahrlich, dein Herr erweitert und beschränkt (dem), dem Er will, die Mittel zum Unterhalt; denn Er kennt und sieht Seine Diener wohl. Und tötet eure Kinder nicht aus Furcht vor Armut; Wir sorgen für sie und für euch. Wahrlich, sie zu töten ist ein großer Fehler. Und kommt der Unzucht nicht nahe; seht, das ist eine Schändlichkeit und ein übler Weg. Und tötet nicht das Leben, das Allah unverletzlich gemacht hat, es sei denn zu Recht. [...] Und tastet nicht das Gut der Waise an, es sei denn zu (ihrem) Besten, bis sie die Reife erreicht hat. Und haltet die Verpflichtung ein; denn über die Verpflichtung muss Rechenschaft abgelegt werden. Und gebt volles Maß, wenn ihr messt, und wägt mit richtiger Waage; das ist durchaus vorteilhaft und letzten Endes das Beste. Und verfolge nicht das, wovon du keine Kenntnis hast. Wahrlich, das Ohr und das Auge und das Herz – sie alle sollen zur Rechenschaft gezogen werden. Und wandle nicht ausgelassen (in Übermut) auf der Erde; denn du kannst weder die Erde durchbrechen, noch kannst du die Berge an Höhe erreichen. Das Üble all dessen ist hassenswert vor deinem Herrn. Dies ist ein Teil von der Weisheit, die dir dein Herr offenbart hat“.

14 Sophokles, Antigone, 449–460.

15 Vgl. Aristoteles, Rhetorik, I, 13, 2 (1373 b 4–11): „Das besondere Gesetz (nomos idios) ist dasjenige, das jede Ansammlung von Menschen im Hinblick auf ihre Mitglieder festlegt, und diese Arten des Gesetzes unterscheiden sich in das geschriebene und das nicht-geschriebene Gesetz. Das allgemeine Gesetz (nomos koinos) ist das Naturgesetz (kata physin). Es gibt nämlich – wie alle ahnen – ein von Natur aus allgemeines Recht und Unrecht, auch wo keine Gemeinschaft untereinander bzw. wo keine Übereinkunft besteht. Das ist es, was auch die Antigone des Sophokles offenbar ausspricht, dass es nämlich Recht sei, trotz des Verbotes, den Polyneikes zu begraben, da dies von Natur aus Recht sei“; vgl. auch Nikomachische Ethik V, 10.

16 Vgl. Platon, Gorgias (483 c – 484 b) (Rede des Kallikles): „Die Natur selbst aber, denke ich, beweist dagegen, dass es gerecht ist, dass der Edlere mehr habe als der Schlechtere und der Tüchtigere als der Untüchtige. Sie zeigt aber vielfältig, dass sich dieses so verhält, sowohl an den übrigen Tieren als auch an ganzen Staaten und Geschlechtern der Menschen, dass das Gerechte so bestimmt ist, dass der Bessere über den Schlechteren herrsche und mehr habe. Denn nach welchem Recht führte Xerxes Krieg gegen Hellas, oder dessen Vater gegen die Skythen? Und tausend anderes der Art könnte man anführen. Also, meine ich, tun sie dieses der Natur gemäß, und, beim Zeus, auch dem Gesetz gemäß, nämlich dem der Natur; aber freilich nicht nach dem, welches wir selbst willkürlich machen, die wir die Besten und Kräftigsten unter uns gleich von Jugend an, wie man es mit dem Löwen macht, durch Besprechung gleichsam und Bezauberung knechtisch einzwängen, indem wir ihnen immer vorsagen, alle müssen gleich haben, und dies sei eben das Schöne und Gerechte. Wenn aber, denke ich, einer mit einer recht tüchtigen Natur zum Manne wird: so schüttelt er das alles ab, reißt sich los, durchbricht und zertritt all unsere Schriften und Gaukeleien und Besprechungen und widernatürlichen Gesetze und steht auf, offenbar als unser Herr, er der Knecht, und eben darin leuchtet recht deutlich hervor das Recht gemäß der Natur!“

17 Im Theaitet (172 a–b) weist der Sokrates Platons die verhängnisvollen politischen Folgen der relativistischen These auf, die Protagoras zugeschrieben wird und derzufolge jeder Mensch das Maß der Wahrheit ist: „Ebenso auch in politischen Dingen: das Schöne und Schlechte, das Gerechte und Ungerechte, das Fromme und Unfromme, was in diesem Dingen ein Staat für Meinung fasst und dann feststellt als gesetzmäßig, das ist es nun auch für jeden in Wahrheit [...] Bei Recht und Unrecht, dem Frommen und dem Gottlosen, wollen sie behaupten, dass nichts in dieser Art schon von Natur eine bestimmte Beschaffenheit habe, sondern was gemeinsam vorstellt werde, das werde wahr zu der Zeit, wann und solange es dafür gehalten werde”.

18 Vgl. z.B. Seneca, De vita beata VIII, 1: „Man muss ja die Natur als Führer nehmen; die Vernunft beobachtet sie und fragt sie um Rat. ‚Glücklich leben’ und ‚nach der Natur leben’ ist also dasselbe“ („natura enim duce utendum est: hanc ratio observat, hanc consulit. Idem est ergo beate vivere et secundum naturam“).

19 Cicero, De legibus I, 6, 18: „Les est ratio summa insita in natura quae iubet ea quae facienda sunt prohibetque contraria“.

20 Vgl. Am 1–2.

21 Das rabbinische Judentum bezieht sich auf sieben sittliche Imperative, die Gott dem Noah für alle Menschen gegeben hat. Sie werden im Talmud aufgezählt (Sanhedrin 56): 1) Du sollst Dir kein Gottesbild machen. 2) Du sollst nicht töten. 3) Du sollst nicht stehlen. 4) Du sollst nicht die Ehe brechen. 5) Du sollst Gott nicht lästern. 6) Du sollst nicht das Fleisch eines lebenden Tieres essen. 7) Du sollst Gerichtshöfe einrichten, damit die vorausgehenden sechs Gebote eingehalten werden. Während die 613 Mitzot der schriftlichen Torah und ihre Interpretation in der mündlichen Torah nur die Juden angehen, wenden sich die noachitischen Gesetze an alle Menschen.

22 Die Weisheitsliteratur interessiert sich für die Geschichte nur in dem Maße, als diese bestimmte Konstanten bezüglich des Weges zeigt, der den Menschen zu Gott führt. Die Weisen unterbewerten nicht die Lehren der Geschichte, doch sie haben ein lebendiges Bewusstsein dafür, dass die Verbindungen zwischen den Ereignissen von einer Kohärenz abhängen, die selbst kein historisches Ereignis ist. Um diese Identität mitten in der Wandelbarkeit zu verstehen und auf verantwortliche Weise dementsprechend zu handeln, sucht die Weisheit eher die Prinzipien und die Strukturgesetze als die genauen historischen Perspektiven. Dabei konzentriert die Weisheitsliteratur sich auf die Protologie, d.h. auf die Schöpfung zu Beginn mit dem, was sie umschließt. In der Tat ist die Protologie bestrebt, die Kohärenz zu beschreiben, die sich hinter den historischen Ereignissen findet. Es ist eine Bedingung a priori, die es erlaubt, alle möglichen historischen Ereignisse in eine Ordnung zu bringen. Die Weisheitsliteratur versucht also die Bedingungen zur Geltung zu bringen, die das alltägliche Leben möglich machen. Die Geschichte beschreibt diese Elemente in ihrem Nacheinander, die Weisheit wendet sich über die Geschichte hinaus einer zeitlosen Beschreibung dessen zu, was die Wirklichkeit zur Zeit der Schöpfung ausmacht, „im Anfang“, als die Menschen nach dem Bilde Gottes erschaffen wurden.

23 Vgl. Spr 6,6–9: „Geh zur Ameise, du Fauler, betrachte ihr Verhalten, und werde weise! Sie hat keinen Meister, keinen Aufseher und Gebieter, und doch sorgt sie im Sommer für Futter, sammelt sich zur Erntezeit Vorrat. Wie lang, du Fauler, willst du noch daliegen, wann willst du aufstehen von deinem Schlaf?“

24 Vgl. auch Lk 6,31: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen”.

25 Vgl. Bonaventura, Commentarius in Evangelium Lucae, c. 6, Nr. 76: „In hoc mandato [Lk 6,31] est consummatio legis naturalis, cuius una pars negativa ponitur Tobiae quarto et implicatur hic: ‚Quod ab alio oderis tibi fieri, vide ne tu aliquando alteri facias’“ (Opera omnia VII, ed. Quaracchi, 156); (Pseudo-) Bonaventura, Expositio in Psalterium, Ps 57,2: „Duo sunt mandata naturalia: unum prohibitivum, unde hoc ‚Quod tibi non vis fieri, alteri ne feceris’; aliud affirmativum, unde in Evangelio ‚Omnia quaecumque vultis ut faciant vobis homines, eadem facite illis’. Primum de malis removendis, secundum de bonis adipiscendis” (Opera omnia, IX, ed. Vivès, 227).

26  Vgl. I. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Dei Filius, Kap. 2; vgl. auch Apg 14,16–17: „Er ließ in den vergangenen Zeiten alle Völker ihre Wege gehen. Und doch hat er sich nicht unbezeugt gelassen: Er tat Gutes, gab euch vom Himmel her Regen und fruchtbare Zeiten; mit Nahrung und mit Freude erfüllte er euer Herz“.

27 Man findet bei Philo von Alexandrien den Gedanken, dass Abraham, ohne das geschriebene Gesetz, „von Natur aus“ ein dem Gesetz entsprechendes Leben geführt habe. Vgl. Philo von Alexandrien, De Abrahamo, § 275–276: „Moses sagt: ‚Dieser Mensch [= Abraham] erfüllt das göttliche Gesetz und alle göttlichen Ordnungen’ (Gen 26,5). Und er hatte keine Unterweisung in geschriebenen Texten erhalten. Doch angetrieben von der – nicht geschriebenen – Natur, wendete er seinen Eifer auf, um eng den gesunden und fehlerlosen Antrieben zu folgen” (französische Übersetzung bei: J. Gorez, Les œuvres de Philon d’Alexandrie, 20, Paris 1966, 132–135).

28  Vgl. Röm 7,22–23: „In meinem Innern freue ich mich am Gesetz Gottes, ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das mit dem Gesetz meiner Vernunft (tô nomô tou noos mou) im Streit liegt und mich gefangenhält im Gesetz der Sünde, von dem meine Glieder beherrscht werden.”

29 Klemens von Alexandrien, Stromata I, c. 29, 182, 1.

30 Augustinus, Contra Faustum, XXII, c. 27: „Lex vero aeterna est ratio divina vel voluntas Dei, ordinem naturalem conservari iubens, perturbare vetans“. Augustinus verwirft zum Beispiel die Lüge, weil sie direkt gegen die Natur der Sprache verstößt und gegen deren Berufung, Zeichen des Gedankens zu sein. Vgl. Enchiridion VII, 22 (CCSL 46, 62): „Das Wort ist den Menschen nicht gegeben worden, um sich gegenseitig zu täuschen, sondern um ihre Gedanken dem anderen zur Kenntnis zu geben. Sich des Wortes zu bedienen, um zu täuschen, und nicht dazu, wozu sie eingesetzt worden sind, ist daher eine Sünde“ („Et utique verba propterea sunt instituta non per quae invicem se homines fallant sed per quae in alterius quisque notitiam cogitationes suas perferat. Verbis ergo uti ad fallaciam, non ad quod instituta sunt, peccatum est“).

31 Augustinus, De Trinitate, XIV, 15, 21: „Wo sind diese Regeln denn geschrieben? Woher erkennt sogar der Ungerechte, was gerecht ist? Woran sieht er, was es zu haben gilt und was er selbst nicht hat? Wo also sind diese Regeln eingeschrieben, wenn nicht in dem Buch dieses Lichtes, das man die Wahrheit nennt? Dort ist jedes gerechte Gesetz beschrieben und wird in das Herz des Menschen übertragen, der die Gerechtigkeit tut, nicht indem sie in ihn hinüberwandert, sondern indem sie dort ihre Spur hinterlässt wie ein Siegel, das vom Ring in das Wachs übergeht und doch den Ring nicht verlässt“ („Utinam sunt istae regulae scriptae, ubi quid sit iustum et iniustus agnoscit, ubi cernit habendum esse quod ipse non habet? Ubi ergo scriptae sunt, nisi in libro lucis illius quae veritas dicitur? unde omnis lex iusta describitur, et in cor hominis qui operatur iustitiam, non migrando, sed tamquam imprimendo transfertur; sicut imago ex anulo et in ceram transit, et anulum non relinquit?“: CCSL 50A, 451).

32 Vgl. Gaius, Institutiones, 1.1. (2. Jh. n. Chr.): „Quod vero naturalis ratio inter omnes homines constituit, id apud omnes populos peraeque custoditur vocaturque ‚ius gentium’, quasi quo iure omnes gentes utuntur. Populus itaque Romanus partim suo proprio, partim communi omnium hominum iure utitur“ (französische Übersetzung hg. v. J. Reinach, Collection des universités de France, Paris 1950, 1).

33 Thomas von Aquin unterscheidet klar die natürliche politische Ordnung, die in der Vernunft gründet, und die übernatürliche religiöse Ordnung, die in der Gnade der Offenbarung gründet. Er widersetzt sich den muslimischen und jüdischen Philosophen, die der prophetischen Offenbarung eine wesentlich politische Rolle zusprachen. Vgl. Quaestiones disputatae de veritate, q. 12, a. 3, ad 11: „Die Gesellschaft der Menschen, insofern sie auf das Ziel des ewigen Lebens hingeordnet ist, kann sich nur durch die Gerechtigkeit des Glaubens, deren Prinzip die Prophetie ist, erhalten [...] Da dieses Ziel jedoch übernatürlich ist, sind auch die Gerechtigkeit, die auf dieses Ziel hingeordnet ist, sowie die Prophetie, die deren Prinzip darstellt, übernatürlich. Die Gerechtigkeit hingegen, durch die die menschliche Gesellschaft im Hinblick auf das Gemeinwohl regiert wird, kann hinreichend erlangt werden durch die Prinzipien des Naturrechts, die dem Menschen innewohnen“ („societas hominum secundum quod ordinatur ad finem vitae aeternae, non potest conservari nisi per iustitiam fidei, cuius principium est prophetia [...] Sed cum hic finis sit supernaturalis, et iustitia ad hunc finem ordinata, et prophetia, quae est eius principium, erit supernaturalis. Iustitia vero per quam gubernatur societas humana in ordine ad bonum civile, sufficienter potest haberi per principia iuris naturalis homini indita“).

34 Vgl. Benedikt XVI., Ansprache in Regensburg am 12. September 2006 beim Treffen mit Vertretern der Wissenschaft: „Im Spätmittelalter entwickelten sich Tendenzen der Theologie, die diese Synthese von Griechischem und Christlichem aufsprengen. Gegenüber dem sogenannten augustinischen und thomistischen Intellektualismus beginnt bei Duns Scotus eine Position des Voluntarismus, die schließlich in den weiteren Entwicklungen dahin führte zu sagen, wir kennten von Gott nur seine voluntas ordinata. Jenseits davon gebe es die Freiheit Gottes, kraft derer er auch das Gegenteil von allem, was er getan hat, hätte machen und tun können. Hier zeichnen sich Positionen ab, die [...] auf das Bild eines Willkür-Gottes zulaufen könnten, der auch nicht an die Wahrheit und an das Gute gebunden ist. Die Transzendenz und die Andersheit Gottes werden so weit übersteigert, dass auch unsere Vernunft, unser Sinn für das Wahre und Gute kein wirklicher Spiegel Gottes mehr sind, dessen abgründige Möglichkeiten hinter seinen tatsächlichen Entscheiden für uns ewig unzugänglich und verborgen bleiben”: AAS 98 (2006) 733.

35  Thomas Hobbes, Leviathan, 2. Teil, Kap. 26: „In einem Staate hängt die Auslegung der natürlichen Gesetze nicht von den Lehrern und Schriftstellern der Moralphilosophie, sondern von dem Staat selbst ab. Jene Lehren sind vielleicht wahr; aber nicht durch Wahrheit, sondern durch öffentliche Bestätigung wird etwas zum Gesetz“; ; der Text findet sich in der lateinischen Fassung von 1668.

36 Die Haltung der Reformatoren zum natürlichen Sittengesetz ist nicht monolithisch. Mehr als Martin Luther erkannte Johannes Calvin, gestützt auf den hl. Paulus, die Existenz des natürlichen Sittengesetzes als ethischer Norm an, selbst wenn es radikal unfähig ist, den Menschen zu rechtfertigen: „So ist es auch zu der außerordentlich verbreiteten Auffassung gekommen, durch das ‚natürliche Gesetz’ (lex naturalis), das der Apostel hier meint, sei der Mensch in ausreichendem Maß gerüstet, den rechten Weg zu finden [...] Der Zweck des natürlichen Gesetzes (lex naturalis) ist also der, dass der Mensch unentschuldbar werde. Deshalb wird es (das natürliche Gesetz) auch nicht übel beschrieben, wenn man sagt, es sei die Erkenntnis des Gewissens, das zwischen Gerecht und Ungerecht ausreichend klar unterscheidet; es hat also danach die Aufgabe, dem Menschen jeden Vorwand der Unkenntnis zu nehmen“ (Institutio christiana, Buch II, Kap. 2, 22). Während der drei Jahrhunderte, die auf die Reformation folgten, diente das natürliche Sittengesetz als Grundlage für die Rechtsprechung bei den Protestanten. Erst mit der Säkularisierung des natürlichen Sittengesetzes distanzierte sich die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert von dieser Lehre. Erst von dieser Zeit an zeigt sich ein Gegensatz zwischen der katholischen und der protestantischen Ansicht über das natürliche Sittengesetz. Doch in unserer Zeit bekundet die protestantische Ethik offenbar ein neues Interesse diesen Begriff.

37 Dieser Ausdruck hat seinen Ursprung bei Hugo Grotius, De juri belli et pacis, Prolegomena: „Haec quidem quae iam diximus locum aliquem haberent, etsi daremus, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum”.

38 Gratian, Concordantia discordantium canonum, pars I, dist. 1: „Humanum genus duobus regitur, naturali videlicet jure et moribus. Jus naturale est quod in lege et Evangelio continetur, quo quisque jubetur alii facere quod sibi vult fieri, et prohibetur alii inferre quod sibi nolit fieri. [...] Omnes leges aut divinae sunt aut humanae. Divinae natura, humanae moribus constant, ideoque hae discrepant, quoniam aliae aliis gentibus placent” (PL 187, Sp. 29).

39 Vgl. Paul VI., Enzyklika Humanae vitae, Nr. 4: AAS 60 (1968) 483.

40 Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1954–1960; Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor, Nr. 40–53.

41 Benedikt XVI., Ansprache am 12. Februar 2007 auf dem Internationalen Kongress über das natürliche Sittengesetz, veranstaltet von der Päpstlichen Lateran-Universität: AAS 99 (2007) 243.

42 Benedikt XVI., Ansprache am 18. April 2008 vor der Vollversammlung der UNO: „Diese Rechte haben ihre Grundlage im Naturrecht, das in das Herz des Menschen einge­schrieben und in den verschiedenen Kulturen und Zivilisationen gegenwärtig ist. Die Menschenrechte aus diesem Kontext herauszulösen, würde bedeuten, ihre Reichweite zu begrenzen und einer relativistischen Auffassung nachzugeben, für welche die Bedeutung und Interpretation dieser Rechte variieren könnten und derzufolge ihre Universalität im Namen kultureller, politischer, sozialer und sogar religiöser Vorstellungen verneint werden könnte“.

43 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae, Nr. 73–74.

44 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor, Nr. 44: „Die Kirche hat sich oft auf die thomistische Lehre vom Naturrecht berufen und diese in ihre Moralverkündigung aufgenommen.“

45 Thomas von Aquin, Summa theologiae I-II, q. 94, a. 2: „Dies ist also das erste Gebot des Gesetzes: Das Gute ist zu tun und zu erstreben, das Böse ist zu meiden. Und darauf gründen alle anderen Gebote des natürlichen Sittengesetzes; d.h. all das gehört als zu tun oder zu lassen zu den Geboten des natürlichen Sittengesetzes, was die praktische Vernunft von Natur aus als menschliche Güter erkennt“ („Hoc est [...] primum praeceptum legis, quod bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum. Et super hoc fundantur omnia alia praecepta legis naturae, ut scilicet omnia illa facienda vel vitanda pertineant ad praecepta legis naturae, quae ratio practica naturaliter apprehendit esse bona humana“).

46 Vgl. Summa theologiae I, q. 79, a. 12; Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1780.

47 Vgl. Romano Guardini, Freiheit, Gnade, Schicksal. Drei Kapitel zur Deutung des Daseins, München 61979, 55: „Insofern bedeutet, das Gute zu tun, soviel wie auch das zu tun, was das Dasein fruchtbar und reich macht. So ist das Gute das, was das Leben bewahrt und zur Erfüllung bringt; jedoch nur dann, wenn es um seiner selbst willen getan wird“.

48 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I-II, q. 91, a. 2: „Unter den anderen Geschöpfen unterliegt nun das vernunftbegabte Geschöpf in einer ausgezeichneteren Weise der göttlichen Vorsehung, insofern es auch selber an der Vorsehung teilnimmt, da es für sich und andere Vorsorge trifft. Deswegen findet sich in ihm auch eine Teilnahme an der ewigen Vernunft, durch die es eine natürliche Neigung zu dem gebotenen Handeln und Ziel besitzt. Und diese Teilnahme am ewigen Gesetz im vernunftbegabten Geschöpf wird natürliches Gesetz genannt” („Inter cetera autem rationalis creatura excellentiori quodam modo divinae providentiae subiacet, inquantum et ipsa fit providentiae particeps, sibi ipsi et aliis providens. Unde et in ipsa participatur ratio aeterna, per quam habet naturalem inclinationem ad debitum actum et finem. Et talis participatio legis aeternae in rationali creatura lex naturalis dicitur“). Dieser Text wird zitiert bei Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor, Nr. 43. Vgl. auch II. Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, Nr. 3: „die höchste Norm des mensch­lichen Lebens ist das göttliche Gesetz selber, das ewige, objektive und universale, durch das Gott nach dem Ratschluss seiner Weisheit und Liebe die ganze Welt und die Wege der Menschengemeinschaft ordnet, leitet und regiert. Gott macht den Menschen seines Gesetzes teilhaftig, so dass der Mensch unter der sanften Führung der göttlichen Vorsehung die unveränderliche Wahrheit mehr und mehr zu erkennen vermag“.

49 II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Nr. 36.

50 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, I-II, q. 94, a. 2.

51 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, I-II, q. 94, a. 6.

52 Vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 3, 5, 17, 22.

53 Vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 16.

54 Vgl. Aristoteles, Politik, I, 2 (1253 a 2–3); II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Nr. 12, § 4.

55 Hieronymus, Epistolae 121, 8: PL 22, 1024.

56 Thomas von Aquin, Summa theologiae, I-II, q. 94, a. 6 : „Hinsichtlich der anderen nachgeordneten Gebote indes kann das natürliche Sittengesetz aus den Herzen der Menschen getilgt werden, sei es infolge schlechter Überzeugungen, so wie es auch im spekulativen Denken zu Irrtümern hinsichtlich notwendiger Folgesätze kommen kann; sei es infolge übler Gewohnheiten und verderbter Haltungen, so wie nach dem Zeugnis des Apostels Röm 1 mancherorts Raub oder naturwidrige Laster nicht als Sünde galten” („Quantum vero ad alia praecepta secundaria, potest lex naturalis deleri de cordibus hominum, vel propter malas persuasiones, eo modo quo etiam in speculativis errores contingunt circa conclusiones necessarias; vel etiam propter pravas consuetudines et habitus corruptos; sicut apud quosdam non reputabantur latrocinia peccata, vel etiam vitia contra naturam, ut etiam apostolus dicit, ad Rom. I.“)

57 Thomas von Aquin, Summa theologiae I-II, q. 94, a. 4 : „Ratio practica negotiatur circa contingentia, in quibus sunt operationes humanae, et ideo, etsi in communibus sit aliqua necessitas, quanto magis ad propria descenditur, tanto magis invenitur defectus […]. In operativis autem non est eadem veritas vel rectituto practica apud omnes quantum ad propria, sed solum quantum ad communia, et apud illos apud quos est eadem rectitudo in propriis, non est aequaliter omnibus nota [...] Et hoc tanto magis invenitur deficere, quanto magis ad particularia descenditur“.

58 Vgl. Thomas von Aquin, Sententia libri Ethicorum, Lib. VI, 6 (Editio Leonina XLVII, 353–354): „Die Klugheit bedenkt nicht nur das Universale, in dem es keine Handlung gibt. Sie muss auch das Einzelne kennen, denn sie ist aktiv, d.h. Prinzip des Handelns. Die Handlung aber bezieht sich auf das Einzelne. Von daher kommt es, dass bestimmte Personen, die die Kenntnis des Universalen nicht besitzen, aktiver sind im Bezug auf verstimmte einzelne Wirklichkeiten als diejenigen, die über eine universale Kenntnis verfügen, weil sie die Erfahrung der Einzelwirklichkeiten haben [...] Weil also die Klugheit eine aktive Vernunft ist, muss der Kluge Kenntnis von beidem haben, d.h. vom Universalen und vom Einzelnen. Oder aber, wenn es geschehen sollte, dass er nur eine habe, dann soll er eher diese haben, d.h. die Kenntnis der einzelnen Dinge, die der Handlung am nächsten sind” („Prudentia enim non considerat solum universalia, in quibus non est actio ; sed oportet quod cognoscat singularia, eo quod est activa, idest principium agendi. Actio autem est circa singularia. Et inde est, quod quidam non habentes scientiam universalium sunt magis activi circa aliqua particularia, quam illi qui habent universalem scientiam, eo quod sunt in aliis particularibus experti. [...]. Quia igitur prudentia est ratio activa, oportet quod prudens habeat utramque notitiam, scilicet et universalium et particularium ; vel, si alteram solum contingat ipsum habere, magis debet habere hanc, scilicet notitiam particularium, quae sunt propinquiora operationi“).

59 Die Experimentalpsychologie unterstreicht z.B. die Bedeutung der aktiven Anwesenheit der Elternteile beider Geschlechter für die harmonische Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes oder auch die entscheidende Rolle der elterlichen Autorität für die Bildung seiner Identität. Die politische Geschichte legt nahe, dass die Teilnahme aller an den Entscheidungen, die die gesamte Gemeinschaft betreffen, im allgemeinen ein Faktor des sozialen Friedens und der politischen Stabilität ist.

60 Auf der ersten Ebene sieht der Ausdruck des natürlichen Sittengesetzes manchmal von einem ausdrücklichen Bezug zu Gott ab. Sicherlich ist die Öffnung für die Transzendenz Teil der tugendhaften Verhaltensweisen, die man mit Recht vom einem vollendeten Menschen erwartet, doch Gott ist noch nicht notwendigerweise als Fundament und Quelle des natürlichen Sittengesetzes anerkannt und auch nicht als letztes Ziel, das die verschiedenen tugendhaften Verhaltensweisen in Bewegung setzt und in eine Rangordnung bringt. Dieses Fehlen einer ausdrücklichen Anerkennung Gottes als letzter sittlicher Norm scheint dem „empirischen” Zugang zum natürlichen Sittengesetz zu verbieten, sich als im eigentlichen Sinne sittliche Lehre zu konstituieren.

61 Bonaventura, Commentarius in Ecclesiasten, cap. 1: „Verbum divinum est omnis creatura, quia Deum loquitur”: Opera omnia VI, ed. Quaracchi, 1893, 16.

62 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I-II, q. 91, a. 1: „Gesetz ist nichts anderes als eine Weisung der praktischen Vernunft im Herrscher, der irgendeine vollkommene Gemeinschaft leitet. Vorausgesetzt, dass die Welt durch die göttliche Vorsehung gelenkt wird [...], ist nun offenkundig, dass die ganze Gemeinschaft des Alls geleitet wird durch die göttliche Vernunft. Und deshalb hat die Regierung der Dinge, die in Gott als Herrschaft der Gesamtheit von allem existiert, die Gestalt des Gesetzes. Und weil die göttliche Vernunft nichts aus der Zeit empfängt, sondern ein ewiges Erfassen hat [...], muss man dieses Gesetz ein ewiges nennen“ („Nihil est aliud lex quam quoddam dictamen practicae rationis in principe qui gubernat aliquam communitatem perfectam. Manifestum est autem, supposito quod mundus divina providentia regatur [...], quod tota communitas universi gubernatur ratione divina. Et ideo ipsa ratio gubernationis rerum in Deo sicut in principe universitatis existens, legis habet rationem. Et quia divina ratio nihil concipit ex tempore, sed habet aeternum conceptum [...], inde est quod huiusmodi legem oportet dicere aeternam“).

63 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I-II, q. 91, a. 2: „Unde patet quod lex naturalis nihil aliud est quam participatio legis aeternae in rationali creatura“.

64 Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor, Nr. 41.– Die Lehre über das natürliche Sittengesetz als Grundlage der Ethik ist als solche der natürlichen Vernunft zugänglich. Die Geschichte bestätigt das. Doch de facto hat diese Lehre ihre volle Reife nur unter dem Einfluss der christlichen Offenbarung erreicht. Dies gilt vor allem, weil das Verständnis des natürlichen Sittengesetzes als Teilhabe am ewigen Gesetz eng mit einer Metaphysik der Schöpfung verbunden ist. Obwohl diese nun von sich aus der philosophischen Vernunft zugänglich ist, wurde sie erst unter dem Einfluss des biblischen Monotheismus wirklich an den Tag gebracht und erläutert. Ein weiterer Grund liegt darin, dass die Offenbarung, beispielsweise durch den Dialog, die grundlegenden Prinzipien des natürlichen Sittengesetzes erläutert, bestätigt, reinigt und vollendet.

65 Stellt die Evolutionslehre, die die Art auf ein ungewisses und vorläufiges Gleichgewicht im Fluss des Werdens reduzieren will, nicht den Naturbegriff radikal in Frage? Der Begriff Art – wie es auch mit seiner Bedeutung auf der Ebene der empirischen biologischen Beschreibung bestellt sein mag – antwortet in der Tat auf einen ständigen philosophischen Erklärungsbedarf für das Lebendige. Nur der Rückgriff auf eine formelle spezifische Besonderheit, die nicht auf die Summe materieller Eigenschaften zurückgeführt werden kann, ermöglicht es, den Grund für die Erkennbarkeit der internen Funktionsweise eines lebendigen Organismus, der als ein Ganzes betrachtet wird, anzugeben.

66 Die theologische Lehre von der Erbsünde unterstreicht sehr stark die reale Einheit der menschlichen Natur. Diese kann nicht auf eine bloße Abstraktion oder eine Summe individueller Realitäten reduziert werden. Sie bezeichnet vielmehr eine Gesamtheit, die alle Menschen umfasst, die dieselbe Bestimmung teilen. Die einfache Tatsache, geboren zu sein (nasci), stellt uns in dauerhafte Beziehungen der Solidarität mit allen anderen Menschen.

67 Boethius, Contra Eutychen et Nestorium, c. 9: „Persona est rationalis naturae individua substantia“: PL 64, col. 1344). Vgl. Bonaventura, Commentaria in librum I Sententiarum, d. 25, a. 1, q. 2; Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 29, a. 1.

68 Benedikt XVI., Enzyklika Spe salvi, Nr. 5.

69 Vgl. Athanasius, Traktat gegen die Heiden, 42: „Wie ein Musiker, der seine Leier stimmt und die tiefen Töne mit den hohen und die mittleren mit den anderen virtuos verbindet und dadurch eine Melodie zum Vortrag bringt, so weiß auch die Weisheit Gottes, die das Weltall wie eine Leier hält und die Dinge in der Luft mit denen auf der Erde und die im Himmel mit denen in der Luft verbindet, das Ganze zu den Teilen fügt und sie nach seinem Wink und Willen lenkt, eine Welt und Weltordnung in harmonischer Schönheit zu schaffen”.

70 Indem die physis der antiken Denker die Existenz eines gewissen Nicht-Seins (Materie) dokumentiert, wahrte sie die Kontingenz der irdischen Wirklichkeiten und widerstand den Ambitionen der menschlichen Vernunft, der Gesamtheit der Wirklichkeit eine rein rationale deterministische Ordnung aufzuerlegen. Genau dadurch ließ der Begriff die Möglichkeit eines wirksamen Handelns aus menschlicher Freiheit in der Welt offen.

71 Vgl. Johannes Paul II., Brief an die Familien (2. Februar 1994), Nr. 19: „Der Philosoph, der das Prinzip des ‚cogito ergo sum’, ‚ich denke, also bin ich’, aufgestellt hat, hat auch der modernen Konzeption des Menschen den dualistischen Charakter eingeprägt, der diese Konzeption kennzeichnet. Es ist dem Rationalismus eigen, im Menschen auf radikale Weise den Geist dem Körper entgegenzusetzen und den Körper dem Geist. Im Gegensatz dazu ist der Mensch eine Person in der Einheit seines Leibes und seines Geistes. Der Leib kann nie auf reine Materie reduziert werden: er ist ein ‚vergeistigter’ Körper, wie auch der Geist so tief mit dem Leib verbunden ist, dass er als ‚inkarnierter’ Geist qualifiziert werden kann“.

72  Die Gender-Theorie, die jede anthropologische und sittliche Bedeutung des natürlichen Unterschieds der Geschlechter leugnet, schreibt sich in diese Perspektive ein. Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Brief an die Bischöfe der Katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt (31. Mai 2004), Nr. 2: „Um jede Überlegenheit des einen Geschlechts über das andere zu vermeiden, versucht man ihre Unterschiede einzuebnen und sie als einfache Auswirkungen einer historischen und kulturellen Bedingtheit zu betrachten. In dieser Nivellierung wird die leibliche Differenz, ‚Geschlecht’ genannt, minimalisiert, während die rein kulturelle Dimension, ‚Gender’ genannt, aufs höchste betont und als vorrangig betrachtet wird. [...] Die unmittelbare Wurzel dieser Tendenz findet sich im Rahmen der Frage nach der Frau, ihr tiefster Beweggrund muss aber in dem Bestreben der menschlichen Person gesucht werden, sich von ihren biologischen Bedingtheiten zu befreien. In dieser anthropologischen Perspektive hätte die menschliche Natur in sich selbst keine Merkmale, die sich auf absolute Weise aufdrängen würden: jede Person könnte und müsste sich selbst bestimmen nach eigenem Gutdünken, weil sie von nun an frei wäre von jeder Vorbestimmung, die an ihre wesensmäßige Konstitution gebunden wäre.“

73 Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor, Nr. 50.

74 Die Pflicht, die Natur im Menschen zu humanisieren, ist untrennbar von der Pflicht, die äußere Natur zu humanisieren. Diese Pflicht rechtfertigt sittlich die enorme Anstrengung, die Menschen vollbringen, um sich von den Zwängen der physischen Natur zu befreien, insofern diese die Entwicklung wahrhaft menschlicher Werte behindern. Der Kampf gegen die Krankheiten, die Verhütung von bedrohlichen Naturphänomenen, die Verbesserung der Lebensbedingungen sind in sich Werke, die Zeugnis geben von der Größe des Menschen, der berufen ist, die Erde zu erfüllen und sie zu kultivieren (vgl. Gen 1,28). Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Nr. 57.

75 Als Reaktion auf die Gefahr des Physizismus und im berechtigten Bestehen auf der entscheidenden Rolle der Vernunft in der Ausarbeitung des natürlichen Sittengesetzes haben bestimmte zeitgenössische Theorien des natürlichen Sittengesetzes die sittliche Bedeutung der vorrationalen naturgegebenen Antriebe vernachlässigt, oder gar abgelehnt. Das natürliche Sittengesetz werde „natürlich“ genannt nur in Bezug auf die Vernunft, die die gesamte Natur des Menschen definiere. Dem natürlichen Sittengesetz zu folgen, würde sich folglich darauf reduzieren, vernünftig zu handeln, d.h. ein univokes Vernunftideal, das von der praktischen Vernunft allein hervorgebracht wurde, auf die Gesamtheit der Verhaltensweisen anzuwenden. Darin liegt eine falsche Identifikation der Rationalität des natürlichen Sittengesetzes mit der Rationalität der menschlichen Vernunft, ohne die immanente Rationalität der Natur zu berücksichtigen.

76 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae II-II, q. 154, a. 11. Die ethische Bewertung der Sünden wider die Natur muss nicht nur deren objektives Ausmaß berücksichtigen, sondern auch die oft mildernden subjektiven Bedingungen derer, die sie begehen.

77 Vgl. Gen 2,15.

78 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution Gaudium et spes, Nr. 73–74. Der Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1882, präzisiert, dass „manche Gesellschaften, so die Familie und der Staat, unmittelbar der Natur des Menschen entsprechen”.

79 Vgl. Johannes XXIII., Enzyklika Mater et Magistra, Nr. 65; II. Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution Gaudium et spes, Nr. 26, § 1; Erklärung Dignitatis humanae, Nr. 6.

80 Vgl. Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris (1963), Nr. 55.

81 Vgl. Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris (1963), Nr. 37; Päpstlicher Rat Iustitia et Pax, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr. 192–203.

82 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I-II, q. 95, a. 2.

83 Augustinus, De libero arbitrio I, 5, 11: „Nam mihi lex esse non videtur, quae iusta non fuerit“ (CCSL 29, 217); Thomas von Aquin, Summa theologiae I-II, q. 93, a. 3, ad 2: „Das menschliche Gesetz hat insoweit den Charakter des Gesetzes, als es der rechten Vernunft entspricht, und dementsprechend ist offenkundig, dass es sich vom ewigen Gesetz herleitet. Insofern es jedoch von der Vernunft abweicht, heißt es ungerechtes Gesetz, und so hat es nicht den Charakter des Gesetzes, sondern vielmehr einer Art Gewaltanwendung“ („lex humana intantum habet rationem legis, inquantum est secundum rationem rectam, et secundum hoc manifestum est quod a lege aeterna derivatur. Inquantum vero a ratione recedit, sic dicitur lex iniqua, et sic non habet rationem legis, sed magis violentiae cuiusdam“); I-II, q. 95, a. 2: „Somit hat jedes vom Menschen erlassene Gesetz soweit den Charakter des Gesetzes, als es sich vom natürlichen Sittengesetz herleitet. Wenn es hingegen irgendwo vom natürlichen Sittengesetz abweicht, ist es nicht mehr Gesetz, sondern eine Zerstörung des Gesetzes“ („Unde omnis lex humanitus posita intantum habet de ratione legis, inquantum a lege naturae derivatur. Si vero in aliquo a lege naturali discordet, iam non erit lex sed legis corruptio“).

84 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I-II, q. 97, a. 1.

85 Für den hl. Augustinus muss der Gesetzgeber, um ein Werk gut zu tun, das ewige Gesetz konsultieren; vgl. Augustinus, De vera religione, I, XXXI, 58: „Der Urheber der zeitlichen Gesetze, wenn er ein guter Mensch ist und weise, konsultiert er jenes ewige Gesetz selbst, über das keiner Seele zu richten gegeben ist, damit er nach dessen unwandelbaren Regeln entscheide, was für die Zeit anzuordnen und zu verbieten ist“ („Conditor tamen legum temporalium, si vir bonus est et sapiens, illam ipsam consulit aeternam, de qua nulli animae iudicare datum est ; ut secundum eius incommutabiles regulas, quid sit pro tempore iubendum vetandumque discernat“: CCSL 32, 225). In einer säkularisierten Gesellschaft, in der nicht alle die Spur dieses ewigen Gesetze erkennen, garantieren die Suche, die Bewahrung und der Ausdruck des Naturrechts durch das positive Gesetz die die Legitimität dieses Gesetzes.

86 Vgl. Augustinus, De Civitate Dei, I, 35 (CCSL 47, 34–35).

87  Vgl. Pius XII., Ansprache am 23. März 1958: AAS 25 (1958) 220.

88  Vgl. Pius XI., Enzyklika Quadragesimo anno, Nr. 79–80.

89 Vgl. auch Joh 1,3–4; 1 Kor 8,6; Hebr 1,2–3.

90 Vgl. Joh 3,19–20; Röm 1,24–25.

91 II. Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution Gaudium et spes, Nr. 22. Vgl. Irenäus von Lyon, Adversus haereses V, 16, 2: „In den vergangenen Zeiten sagte man nämlich, der Mensch sei nach dem Bild Gottes gemacht, aber gezeigt wurde das nicht: Denn das Wort war bis dahin unsichtbar, nach dessen Bild der Mensch gemacht worden war; deswegen hat er aber auch so leicht die Ähnlichkeit verloren. Als aber das Wort Gottes Fleisch geworden war, bestätigte es beides: Es zeigte nämlich das wahre Bild, indem es selbst das wurde, was sein Bild war, und es stellte die Ähnlichkeit sicher, indem es den Menschen dem unsichtbaren Vater durch das sichtbare Wort ähnlich machte“.

92 Vgl. Augustinus, Enarrationes in Psalmos, LVII, 1: „Durch die Hand unseres Schöpfers schrieb die Wahrheit in unseren Herzen: Was du nicht willst, dass man es dir tut, das füge keinem anderen zu. Das durfte niemand ignorieren, auch bevor das Gesetz gegeben wurde, denn es musste etwas geben, wonach auch die gerichtet würden, denen das Gesetz nicht gegeben wurde. Doch damit die Menschen sich nicht beschwerten, ihnen habe etwas gefehlt, steht auch auf Tafeln geschrieben, was sie in den Herzen nicht lasen. Es stimmt nämlich nicht, dass sie nichts Geschriebenes besaßen, sie verstanden nur nicht zu lesen. Man stellte ihnen also vor Augen, was sie in ihrem Gewissen zu sehen genötigt sein sollten; und gleichsam aufgrund der äußeren Mahnung durch die Stimme Gottes wurde der Mensch genötigt, in sein Inneres einzutreten“ („Quandoquidem manu formatoris nostri in ipsis cordibus nostris veritas scripsit: Quod tibi non vis fieri, ne facias alteri. Hoc et antequam Lex daretur nemo ignorare permissus est, ut esset unde iudicarentur et quibus Lex non esset data. Sed ne sibi homines aliquid defuisse quaererentur, scriptum est et in tabulis quod in cordibus non legebant. Non enim scriptum non habebant, sed legere nolebant. Oppositum est oculis eorum quod in conscientia videre cogerentur; et quasi forinsecus admota voce Dei, ad interiora sua homo compulsus est“: CCSL 39, 708); vgl. Thomas von Aquin, In III Sent., d. 37, q. 1, a. 1: „Necessarium fuit ea quae naturalis ratio dictat, quae dicuntur ad legem naturae pertinere, populo in praeceptum dari, et in scriptum redigi [...] quia per contrariam consuetudinem, qua multi in peccato praecipitabantur, iam apud multos ratio naturalis, in qua scripta erant, obtenebrata erat“; Summa theologiae I-II, q. 98, a. 6.

93 Vgl. Sir 24,23 (Vulgata: 24,32–33).

94 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I-II, q. 100.

95 Die byzantinische Liturgie des hl. Johannes Chrysostomus bringt gut die christliche Überzeugung zum Ausdruck, wenn sie den Priester sagen lässt, der in der Danksagung nach der Kommunion den Diakon segnet: „Christus, unser Gott, der Du selbst die Erfüllung des Gesetzes und der Propheten bist und der Du die ganze vom Vater empfangene Sendung erfüllt hast: Erfülle unsere Herzen mit Freude und Jubel, zu aller Zeit, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.”

96 Vgl. Gal 3,24–26: „So hat das Gesetz uns in Zucht gehalten bis zum Kommen Christi, damit wir durch den Glauben gerecht gemacht werden. Nachdem aber der Glaube gekommen ist, stehen wir nicht mehr unter dieser Zucht. Ihr seid alle durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus.” Zum theologischen Begriff der Erfüllung vgl. Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seinen Heiligen Schriften in der christlichen Bibel (24. Mai 2001), besonders Nr. 21.

97  Vgl. Mt 22,37–40; Mk 12,29–31; Lk 10,27.

98  Vgl. Lk 6,27–36.

99  Vgl. Lk 10,25–37.

100  Vgl. Joh 15,13.

101 Vgl. Jer 31,33–34.

102  Thomas von Aquin, Summa theologiae I-II, q. 106, a. 1: „Das Vorzüglichste aber im Gesetz des Neuen Bundes, das, was seine ganze Kraft ausmacht, ist die Gnade des Heiligen Geistes, die durch den Glauben an Christus verliehen wird. Und so ist das Neue Gesetz hauptsächlich die Gnade des Heiligen Geistes selbst, die den Christgläubigen gegeben wird“ („Id autem quod est potissimum in lege novi testamenti, et in quo tota virtus eius consistit, est gratia Spiritus Sancti, quae datur per fidem Christi. Et ideo principaliter lex nova est ipsa gratia Spiritus Sancti, quae datur Christi fidelibus“).

103 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I-II, q. 108, a. 1, ad 2: „Weil nun die Gnade des Heiligen Geistes wie eine innere, uns eingegossene Haltung ist, lässt sie uns frei das tun, was der Gnade entspricht, und das meiden, was der Gnade widerstreitet. So nennt man das Neue Gesetz aus doppeltem Grunde ‚Gesetz der Freiheit’: Einmal, weil es uns nur zum Tun oder Meiden von Dingen verpflichtet, die für das Heil notwendig oder dem Heile widerstreitend sind und darum unter das Gebot oder Verbot des Gesetzes fallen. Zweitens, weil es uns auch diesen Geboten und Verboten frei nachkommen lässt, da wir sie aus dem inneren Antrieb der Gnade erfüllen. Aus diesen beiden Gründen also heißt das Neue Gesetz ‚Gesetz der vollkommenen Freiheit’ (Jak 1)” („Quia igitur gratia Spiritus sancti est sicut interior habitus nobis infusus inclinans nos ad recte operandum, facit nos libere operari ea quae conveniunt gratiae, et vitare ea quae gratiae repugnant. Sic igitur lex nova dicitur lex libertatis dupliciter. Uno modo, quia non arctat nos ad facienda vel vitanda aliqua, nisi quae de se sunt vel necessaria vel repugnantia saluti, quae cadunt sub praecepto vel prohibitione legis. Secundo, quia huiusmodi etiam praecepta vel prohibitiones facit nos libere implere, inquantum ex interiori instcinctu gratiae ea implemus. Et propter haec duo lex nova dicitur lex perfectae libertatis, Iac. I“).

104 Thomas von Aquin, Quodlibeta IV, q. 8, a. 2: „Das neue Gesetz, das ein Gesetz der Freiheit ist [...], umfasst in sich die sittlichen Vorschriften des natürlichen Sittengesetzes, die Glaubensartikel und die Sakramente der Gnade“ („Lex nova, quae est lex libertatis […] est contenta praeceptis moralibus naturalis legis, et articulis fidei, et sacramentis gratiae“).

105 Johannes Paul II., Audienz für die Teilnehmer an der Vollversammlung der Kongregation für die Glaubenslehre, 18. Januar 2002: AAS 94 (2002) 334.

 

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