The Holy See
back up
Search
riga

Internationale Theologische Kommission

MENSCHLICHES WOHL UND CHRISTLICHES HEIL

(1976)

 

Einleitung

Überall in der Welt gewinnt die Frage nach dem Verhältnis von menschlichem Wohl und christlichem Heil eine große Bedeutung. Dies gilt besonders seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in dem sich die Kirche intensiver den Problemen der Weltgestaltung aus christlicher Verantwortung zuwandte. Innerhalb und außerhalb Lateinamerikas haben dabei vor allem die verschiedenen Theologien der Befreiung eine wachsende Aufmerksamkeit gefunden. Die Internationale Theologische Kommission hat sich in ihrer Herbstsitzung des Jahres 1976 (4.–9. Oktober) weniger mit den einzelnen Entwürfen und Tendenzen als vielmehr mit den Grundfragen um das Verhältnis von menschlichem Fortschritt und christlichem Heil beschäftigt. Auf diese Weise hat sie ein seit langem bestehendes Anliegen verwirklicht: die von Gaudium et spes eingeleiteten Forschungsbemühungen fortzusetzen.

Der folgende Bericht versucht eine erste Synthese der wichtigsten Ergebnisse. Die Form dieses Schlussberichtes nimmt Rücksicht auf die Schwierigkeiten der untersuchten Sachfragen sowie auf den gegenwärtigen Stand der theologischen Diskussion und Forschung. Die genannten theologischen Strömungen sind vielfältig und in einem starken Wandel begriffen, sie korrigieren sich selbst immer wieder und sind überdies sehr eng mit der sozio-ökonomischen Situation sowie den politischen Bedingungen der Welt und verschiedener einzelner Regionen verbunden. Schließlich darf die Kritik dieser theologischen Entwürfe nicht übersehen werden, die von verschiedenen Seiten wegen der Gefahr einer „Politisierung“ und eines Schadens für die Einheit der Kirche vorgetragen wird. In dieser Situation möchte die Internationale Theologische Kommission jedenfalls einen Gesprächsbeitrag leisten im Hinblick auf eine kritische Prüfung der Chancen und Gefahren der fraglichen Strömungen.

Karl Lehmann
Präsident der Unterkommission
30. Juni 1977

 

HAUPTTEIL

1. Armut und Ungerechtigkeit in der Welt als Ursprung und Wurzel einer theologischen Bewegung

Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Kirche an ihre ständige Pflicht erinnert, „die Zeichen der Zeit zu erforschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“ (GS 4). In der Verwirklichung dieses Auftrags gingen besondere Impulse von Dokumenten aus, welche die Zweite Generalkonferenz des Lateinamerikanischen Episkopats im Jahre 1968 in Medellín (Kolumbien) beschloss: Die Kirche hört die Schreie der armen Völker und macht sich zum Sprecher ihrer Nöte. Wie sehr diese Herausforderung durch Unterdrückung und Hunger eine Sorge der Kirche aller Kontinente wurde, zeigen nicht nur die päpstlichen Verlautbarungen Mater et magistra, Pacem in terris, Populorum progressio und Octogesima adveniens, sondern auch die Römischen Bischofssynoden von 1971 (De iustitia in mundo) und 1974. Papst Paul VI. hat diesen Auftrag der Kirche zuletzt nochmals unterstrichen in seinem Apostolischen Schreiben Über die Evangelisierung in der Welt von heute vom 8. Dezember 1975.[1]

Dieser Hintergrund ist wichtig, um die zahlreichen theologischen Entwürfe zu verstehen, die in den letzten Jahren über diese Fragen veröffentlicht wurden. Sie sind bei aller Erudition nicht allein das Ergebnis theoretisch-wissenschaftlicher Bemühungen. Sie wollen überhaupt nicht zuerst „geschriebene“ Theologie sein, sondern den engen Zusammenhang mit dem täglichen Leben der bedrängten Menschen und dem konkreten Auftrag der Kirche in diesen Situationen nicht verlieren. Sie wollen den Schrei des armen und leidenden Bruders öffentlich zur Sprache bringen: den Hunger, die Krankheiten, die ungerechte Ausbeutung zu Gewinnzwecken, das erzwungene Exil und die Unterdrückung. Darüber hinaus müssen die unmenschlichen Lebensbedingungen all jener genannt werden, die nichts als das besitzen, was sie am Leib tragen, buchstäblich nachts auf der Straße schlafen, dort leben und sterben, sowie nicht einmal die elementarste medizinische Versorgung erhalten. Der Christ sieht in diesen „Zeichen der Zeit“ im Lichte des Evangeliums eine elementare Herausforderung, um im Namen des christlichen Glaubens alles zu tun, um diese Brüder aus ihren unmenschlichen Lebensbedingungen zu befreien. Diese Option für die Armen und die Solidarität mit allen Unterdrückten gewinnen eine besondere Leuchtkraft und Verdichtung in einigen Schlüssel­worten, die der biblischen Sprache angehören: Gerechtigkeit, Befreiung, Hoffnung, Friede.

Dieses vom Evangelium Jesu Christi genährte Zeugnis des Einsatzes für die Not der Armen (Lk 4,18ff.) ist in allen theologischen Entwürfen das durchgängige spirituelle Ferment. Es inspiriert offensichtlich die theologischen Reflexionen und die politischen Optionen. Die spirituelle Erfahrung mobilisiert die geistigen Kräfte, um die Impulse der christlichen Liebe mit Hilfe des menschlichen Denkens und der sogenannten wissenschaftlichen Analyse in handlungswirksame Imperative umzusetzen. Beide, die spirituelle Grunderfahrung und die theologisch-wissenschaftliche Reflexion, ergänzen sich und bilden darum auch eine lebendige Einheit. Sie dürfen jedoch nicht miteinander vermischt werden. So kann niemand die verschiedenen theologischen Systeme, welche diese Impulse aufnehmen, kritisieren, ohne zugleich den Schrei der Armen im Ohr zu behalten und nach besseren Wegen zu suchen. Andererseits muss gefragt werden, ob die vorherrschenden theologischen Entwürfe in ihrer konkreten Ausgestaltung wirklich der einzige Weg sind, um dem Verlangen nach einer menschlicheren und brüderlicheren Welt auf die geeignetste Weise entsprechen zu können. Da jede Theologie eine dienende Funktion ausübt, muss sie eventuell notwendige Wandlungen und Korrekturen vollziehen, wenn sie dadurch ihrem Grundauftrag besser gerecht werden will.

2. Eine neue Gestalt von Theologie und ihre Schwierigkeiten

A) Die verschiedenen theologischen Entwürfe setzen bei den Bedingungen an, in denen Menschen unterdrückt werden, von anderen in ökonomischer, sozialer und politischer Hinsicht abhängig sind und sich nach Befreiung sehnen. Diese konkrete Geschichte der Menschen wird nicht wie ein unabänderliches Schicksal hingenommen, sondern als „schöpferischer“ Prozess verstanden, um in allen Lebensbereichen größere Freiheit zu erreichen und schließlich den „neuen Menschen“ entstehen zu lassen. Die Änderung unmenschlicher Zustände wird als Forderung und Wille Gottes erfahren: Jesus Christus, der durch die Erlösung den Menschen von der Sünde in allen ihren Gestalten befreite, gewährt der menschlichen Brüderlichkeit eine neue Grundlage.

Dieser Ansatz, aus dem solche theologischen Entwürfe entspringen, verleiht ihnen eine eigene und in gewisser Weise neue Gestalt. Gott offenbart sein Geheimnis in den konkreten geschichtlichen Ereignissen selbst. Je mehr der Christ sich auf die konkreten Situationen und ihre geschichtliche Entwicklung einlässt, umso besser entspricht er dem Wort Gottes. Darum sieht man zwischen der göttlichen Heilsgeschichte, die durch Jesus Christus verwirklicht worden ist, und den Anstrengungen für das Wohl und die Rechte der Menschen eine tiefe Einheit. Auch wenn man Profangeschichte und Heilsgeschichte nicht einfachhin identifiziert, so wird ihr Verhältnis doch vorwiegend als Einheit begriffen. Die Unterscheidung zwischen beiden darf auf keinen Fall zu einem Dualismus werden, in dem Geschichte und Heil einander indifferent gegenüberstehen würden. Vielmehr erhält der menschliche Einsatz in der Geschichte eine ganz neue theologische Würde, insofern er eine menschlichere Gesellschaft aufbaut. Die Schaffung einer gerechten Gesellschaft ist in gewisser Weise eine antizipative Verwirklichung des Reiches Gottes.[2] Darum versteht sich der christliche Glaube auch primär als geschichtliche Praxis im Sinne einer Umgestaltung und Erneuerung der sozial-politischen Verhältnisse.

In dieser Konzeption leben viele wertvolle Elemente. In der Tat muss der Christ besser die integrale Einheit seiner Heilsberufung erkennen [3]. Es besteht auch kein Zweifel, dass der Glaube im biblischen Sinne erst durch die Taten seine Fruchtbarkeit und seine Fülle erlangt. Auch das Zweite Vatikanische Konzil ruft in Erinnerung[4], dass der Heilige Geist in der Geschichte der Welt am Werk ist und auch außerhalb der sichtbaren Kirche die Voraussetzungen des Glaubens (praeambula fidei) bis zu einem gewissen Grad zu finden sind, d.h. die Wahrheiten und Normen, die Gott und das Gemeinwohl betreffen, die der gesunden Vernunft zugänglich sind und gleichsam das Fundament der christlichen Religion darstellt.[5]

Es gibt jedoch in einigen theologischen Bewegungen Deutungen dieser Grundelemente, die einseitig sind und darum Einwände hervorrufen. Die Einheit von Welt- und Heilsgeschichte darf nicht so verstanden werden, dass das Evangelium Jesu Christi, das als übernatürliches Geheimnis schlechthin einzigartig ist und das Erkenntnisvermögen des menschlichen Geistes in jeder Hinsicht übersteigt [6], in der Profangeschichte aufzugehen droht und die Grenzen zwischen Kirche und Welt ganz aufgehoben werden. Diese geschichtliche Welt ist ja ganz und gar der Ort, wo sich das Heilswerk Gottes entfaltet, jedoch erschöpft sich die Stärke und dynamische Kraft des Wortes Gottes nicht in der Funktion eines Stimulans zu sozial-politischen Veränderungen. Die Praxis des Glaubens darf darum nicht auf die revolutionäre Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse eingeengt werden. Denn neben dem Aufdecken der Ungerechtigkeit gehören zu ihr z.B. auch die Gewissensbildung, die Bekehrung der innersten Einstellungen sowie – im Unterschied zu allen Formen des Götzendienstes – die Anbetung des wahren Gottes und Erlösers Jesus Christus. „Glaube als Praxis“ darf nicht so verstanden werden, dass das politische Engagement in totalitärer und „radikaler“ Weise alle Bestrebungen des Menschen umgreift und leitet.

B) Zwei Punkte sind hier zu präzisieren:

1. Die politische Konfrontation, die mit Konflikten einherzugehen pflegt, darf nicht dazu führen, dass Frieden und Versöhnung als Ziel und Frucht des christlichen Handelns verdunkelt oder gar entleert werden und stattdessen die Verstärkung der Gegensätze oder gar gewalttätige Aktionen die Oberhand gewinnen.

2. Immer muss deutlich bleiben, dass die Politik für den Christen keine letzte Instanz der Sinngebung des ganzen Lebens sein kann, dass sie im christlichen Äon kein Absolutum mehr darstellt und darum immer als Mittel in Dienst genommen wird. Wird dies nicht beachtet, dann lastet auf der Freiheit des Menschen die Gefahr von Bewegungen, die eine diktatorische Herrschaft begünstigen. Auch wenn die Theologie auf die Praxis hingeordnet ist, so geht es ihr doch in erster Linie um ein tieferes Verständnis des Wortes Gottes: Sie braucht bei allem, dem sie sich zuwendet, die Fähigkeit, von der konkreten Situation mit ihrem meist vielfachen Druck und ihren Handlungszwängen Abstand zu gewinnen. Aus den Grundsätzen der katholischen Lehre über den Glauben und das sittliche Handeln kann der Mensch das Licht schöpfen, durch das er zu einem gültigen Urteil über jene praktischen Aufgaben befähigt wird, die auf das ewige Heil hingeordnet sind, ohne in Gefahr zu geraten, die Freiheit der Kinder Gottes zu verlieren. Nur unter diesen Bedingungen unterwirft sich die Theologie der Wahrheit und wahrt die souveräne Autorität und den einzigartigen Charakter des Wortes Gottes. So ist eine besondere Wachsamkeit notwendig, damit man nicht einer eindimensionalen Sicht des Christentums verfällt, die ihre Folgen für die Christologie, die Ekklesiologie, das Heilsverständnis, die christliche Existenz und auch für die eigene Aufgabe der Theologie hätte.

C) Die prophetischen Anklagen der Ungerechtigkeit und die Aufrufe zur Solidarität mit den Armen beziehen sich auf sehr komplexe, historisch gewachsene und sozial-politisch bedingte Fakten. Auch eine prophetische Beurteilung der gegenwärtigen Situation kann nicht ohne methodische Anwendung sicherer Kriterien formuliert werden. Darum beschäftigen sich die verschiedenen theologischen Entwürfe einer Befreiung notwendig auch mit sozialwissenschaftlichen Theorien, welche den „Schrei der Völker“ objektiv zu analysieren versuchen. Die Theologie kann ja allein aus theologischen Prinzipien keine konkreten politischen Maximen ableiten. Der Theologe kann darum auch mit seinen Mitteln keine tiefgreifenden sozialwissenschaftlichen Kontroversen entscheiden. Die theologischen Entwürfe, welche sich um den Aufbau einer menschlicheren Gesellschaft mühen, müssen sich beim Gebrauch sozialwissenschaftlicher Theorien der damit verbundenen Gefahren bewusst bleiben. Diese müssen jeweils auf ihren Gewissheitsgrad überprüft werden. Oft sind es nämlich nur Hypothesen, nicht selten enthalten sie explizite oder implizite ideologische Elemente, die auf umstrittenen philosophischen Voraussetzungen oder auch auf einem falschen Menschenbild beruhen. Dies gilt z.B. für wichtige Teile marxistisch-leninistisch orientierter Gesellschaftsanalysen. Man muss sich beim Gebrauch solcher Theorien und Analysen bewusst bleiben, dass diese keinen höheren Wahrheitswert erhalten, weil die Theologie sie in ihre Aussagen einfügt. Ja, die Theologie muss ihrerseits den Pluralismus wissenschaftlicher Interpretationen in der Gesellschaft anerkennen und darf sich nicht einfach an eine der konkreten soziologischen Analysen binden.

3. Biblisch-theologische Aspekte

Die genannten theologischen Entwürfe berufen sich nicht zuletzt auf die Heilige Schrift. Darum muss genauer gefragt werden, was das Alte und das Neue Testament zum Verhältnis zwischen dem Heil und dem Wohl und Recht des Menschen sagen. Selbstverständlich kann es sich dabei nur um eine fragmentarische Betrachtung handeln. Außerdem dürfen nicht in anachronistischer Weise heutige Ideen in die Bibel zurückprojiziert werden.

a) Altes Testament

Zur Bestimmung der Verhältnisse von göttlichem Heil und menschlichem Wohl nimmt man heute fast überall auf das Exodus-Motiv Bezug. Der Auszug aus Ägypten (Ex 1–24) ist in der Tat ein wahrhaft zentrales Heilsereignis des Alten Bundes, nämlich Befreiung von Fremdherrschaft und Zwangsarbeit. „Befreiung“ erschöpft sich für das Alte Testament jedoch nicht in der Herausführung aus Ägypten und in der Heimführung aus dem Exil. Denn die „Befreiung“ zielt auf die Feier des Bundes, die auf dem Berg Sinai begangen wurde (Ex 24); ohne diese Hinordnung auf den Gottesdienst würde das Befreiungsmotiv seine besondere Bedeutung verlieren. Die Psalmen bieten außerdem im Zusammenhang von Not und Klage, Hilfe und Dank Gebetstexte, in denen Rettung und „Befreiung“ zur Sprache kommen (z.B. Ps 18). Not ist dabei nicht nur soziales Elend, sondern auch Feindschaft, Ungerechtigkeit, Schuld sowie die Bedrohung durch den Tod und das in ihm offenbar werdende Nichts. Worin jeweils die Not besteht, ist offensichtlich nicht so entscheidend, wichtiger ist die Erfahrung, dass nur Gott selbst Heil und Rettung bringen kann. Man kann nicht über diese befreiende Dimension im Blick auf das Wohl des Menschen sprechen, ohne zugleich die volle theologische Begründung zur Geltung zu brin­gen: Jahwe ist es, der die Veränderungen schafft, und nicht der Mensch. Im Übrigen sorgte Gott während des gesamten Exodus, in der Wüste, insbesondere für die geistliche Befreiung und Reinigung seines Volkes.

Ein eindrucksvolles Beispiel für einen von der Offenbarung Gottes inspirierten Einsatz für bessere menschliche Lebensbedingungen ist die Sozialkritik der Propheten, vor allem des Amos (2,6f.; 3,10; 5,11; 6,4f.; 8,4ff.). Die späteren Propheten nehmen die Ansätze des Amos auf und bauen sie aus, z.B. in dem Wehe über die Großgrundbesitzer (Jes 5,8f.; Mi 2). Hosea rügt energisch den Mangel an Solidarität (4,1f.; 6,4.6; 10,12). Jesaja nennt in dem Kreis der zu schützenden Personen ausdrücklich die Witwen und Waisen (1,17.23; 10,1f.). Er droht, Gott werde „Stütze und Stab“ von Jerusalem nehmen, d.h. die Gesellschaft tragenden Ämter (3,1ff.; 1,21ff.; 10,1ff.), und beklagt die Kumulation des Landbesitzes in den Händen einiger weniger (5,8), oder allgemeiner die Unterdrückung der Armen durch die Reichen (1,21ff.; 3,14f.). Ein Aufruf zum Aufstand gegen die Unterdrücker, wie er sich durchaus in Erzählungen des Alten Testamentes findet (Ri 9,22f. und 1 Kön 12), ist ihm offensichtlich fremd. Die Ahnung kommenden Unheils lässt kein „Programm“ einer gerechteren Gesellschaft aufkommen (vgl. Ansätze bei Joël 3,1f.). Für die Propheten gibt es angesichts der sozialen Not sehr verschiedene Mittel der Hilfe und Heilung. Statt eines geschichtstheologischen Optimismus herrscht eher tiefe Skepsis, ob denn der Mensch die Welt wirklich anders gestalten könne. Voraussetzung dafür ist jedenfalls ein Ethos der inneren Umkehr und der Gerechtigkeit. „Lasst ab von eurem üblen Treiben! Hört auf, vor meinen Augen Böses zu tun! Lernt, Gutes zu tun! Sorgt für das Recht! Helft den Unterdrückten! Verschafft den Waisen Recht, tretet ein für die Witwen!“ (Jes 1,16f.). Gott selbst muss den Menschen dazu befähigen, mehr Gerechtigkeit und Treue im sozialen Bereich zu verwirklichen. Jahwe selbst kann schließlich allein für das wahre Wohl der Menschen, gerade auch der Unterdrückten, wirksam sorgen (Jes 1,24ff.; Ex 3,7–9; Ps 103,6; 72,12ff.; Dtn 10,17ff.). Gott verwirklicht das Wohl über die guten und falschen Absichten der Menschen hinaus.

Die Propheten kennen dabei durchaus so etwas wie ein „böses System“, doch wäre es für sie eine unerlaubte Reduktion, das Böse nur zum Reflex ungerechter Gesellschafts­strukturen zu erklären oder die Beseitigung des Missbrauchs von der bloßen Aufhebung bestehender Besitzverhältnisse zu erwarten. Außerdem muss man sich das personale Element vergegenwärtigen, das im Alten Testament den Vorgang der „Befreiung“ bestimmt. Am meisten wird dies erläutert und bestätigt durch den Grundsatz individueller Verantwortung (Ez 18; Jer 31,29ff.).

An einigen wichtigen Stellen findet man im Alten Testament Fragmente von Visionen einer neuen Gesellschaft, die nicht mehr den jetzt überall geltenden Strukturen unterliegt (z.B. Jes 55,3–5; Ez 34; 40–48; Jer 31,31ff.). Viele Psalmen nennen Gott ausdrücklich den Befreier der Unterdrückten und den Schützer der Armen (Ps 9; 10; 40; 72; 76; 146; Jdt 9,11). Da Gott das Volk Israel von der Unterdrückung befreit, fordert er von ihm, jede Unterdrückung von Menschen zu unterlassen (Ex 22,10; Lev 19,13.18.33; Dtn 10,18; 24,14; Ps 82,2–4). Die endgültige Herrschaft Gottes ist die Aufhebung jeglicher Art Herrschaft von Menschen über Menschen. Das Alte Testament hebt diese Hoffnung lange Zeit nicht deutlich von der konkreten Geschichte ab, sie wird nicht in den Bereich transzendenter Wirklichkeit gerückt, welcher die konkrete Geschichte übersteigt. Bis heute erwarten nicht wenige säkularisierte Heilsideologien die Einlösung dieser göttlichen Verheißungen innerhalb der Geschichte und allein durch die Macht des Menschen. Dies ist jedoch, wie wir gesehen haben, nicht die Antwort des Alten Bundes. Schließlich sei daran erinnert, dass die Jenseitshoffnung und die Geschichtstheologie der Apokalyptik in der Spätzeit des Alten Testamentes in extremer Weise die Erfahrung der Ohnmacht des Menschen und der Allmacht Gottes proklamieren.

b) Das Neue Testament

Das Neue Testament nimmt wichtige Elemente des Alten Bundes auf (vgl. z.B. die Rolle von Jes 61,1f. in Lk 4,16ff.) oder setzt sie voraus (Mk 12,29ff.; Lev 19,18). Alttestamentliche Forderungen der Umkehr und Erneuerung des menschlichen Herzens werden, wie vor allem die Bergpredigt mit ihren Seligpreisungen zeigt (Mt 5,1–7,29; bes. 5,3–12), verschärft und im Neuen Bund durch die Kraft des Geistes erst voll realisierbar. Dennoch bleibt der oft artikulierte Eindruck, das Neue Testament zeige ein zu geringes soziales und gesellschaftliches Engagement. Die unerhörte Neuheit der christlichen Botschaft mag zunächst auch eine Zurückhaltung gegenüber den Fragen der Weltverantwortung der Christen ausgelöst haben: Die Zuwendung der personalen Liebe des menschgewordenen Gottes zu seinem neuen Volk war so groß, dass die Probleme der zeitlichen Existenz nicht den ersten Rang einnahmen (vgl. die Nähe des Reiches Gottes); die menschlichen Nöte konnten im Lichte des Geheimnisses unseres leidenden und von den Toten auferweckten Herrn „relativiert“ werden; die politischen Verhältnisse des römischen Imperiums verhinderten eine umfassende Weltzuwendung. Es braucht hier nicht ausführlicher gezeigt zu werden, wie die Verkündigung Jesu und die neutestamentliche Ethik dennoch viele Weisungen und Verhaltensmodelle ausbildeten, welche im Sinne „gesellschaftskritischer“ Impulse wirkten. Man denke nur an das Gebot der Nächsten- und Feindesliebe (Lk 6,35f.; Mt 25,31–46), an die Mahn- und Drohrede gegen die Reichen und Satten (z.B. Lk 6,24ff.; Mt 6,24; 1 Kor 11,20ff.; Lk 12,16ff.; Jak 2,1ff.; 5,1ff.), an die Parteinahme für die Armen und Schwachen (Lk 6,20; 1 Kor 12,22ff.), an die Aufforderung an alle zur Hilfe (Mk 10,21; Lk 12,33) und an den Aufruf zur Vermeidung einer Herrschaft von Menschen über Menschen (Mk 10,42–45; Mt 20,25–28; Lk 22,25–27), weil alle Brüder sind (Mt 23,8; 25,41ff.). Das Neue Testament bezeugt auch durchaus eine gewisse Offenheit für institutionelle Formen der christlichen Liebe, wie etwa die Kollekte für Jerusalem (2 Kor 8,1ff.) und die Ausbildung diakonisch-karitativer Dienste (1 Kor 12,28; 16,15; Röm 12,7; 16,1; Phil 1,1; 1 Tim 3,8.12) erweisen. Es ist begreiflich, dass diese institutionellen Hilfen sich zunächst auf der Gemeindeebene bewegen und noch wenig ausgebildet sind.

So gibt es auch im Neuen Testament das wichtige Motiv der „Befreiung“, jedoch muss man besonders aufmerksam prüfen, in welchem Sinne davon gesprochen wird. Die Rede von der neuen Freiheit ist nämlich bei Paulus eng mit der Rechtfertigungsbotschaft verbunden. „Befreiung“ als solche ist kein isoliertes Thema. Die Erlösungstat Jesu Christi hat gerade auch die Abgründe des menschlichen Herzens offenbar gemacht. Darum täuscht der Mensch sich leicht darüber, wo seine wahre Unfreiheit und seine wirkliche Knechtschaft liegen. Die Rechtfertigungsbotschaft bringt mit letzter Klarheit das Ausgeliefertsein des Menschen an böse Mächte in den Blick. Wahre und volle Freiheit gibt es nur als Befreiung (Röm 5–7) vom Tod und von der Vergänglichkeit (sarx), von der Macht der Sünde und vom Gesetz (vgl. auch die Bedeutung der „Elemente dieser Welt“). „Durch die Freiheit hat Christus uns befreit“ (Gal 5,1). Die Befreiung von diesen Mächten ermöglicht nun eine neue Freiheit zu einem Handeln, das dem Geist Jesu Christi entspringt und sich in Liebe sowie als Dienst an den Brüdern vollzieht (Gal 5,6.13). Darin erfolgt eine Antizipation dessen, was Gott als seine Gabe für die Gerechten beim Gericht über die Weltgeschichte vollenden wird. Die Gerechtigkeit Gottes erschließt durch den Geist und in seinem Wirken ein befreiendes Tun des Guten, welches in der Liebe zur höchsten Erfüllung kommt. Die neutestamentliche Rede von der „Befreiung zur Freiheit“ (Gal 5,1) als Gnade, sittlicher Anruf und eschatologische Verheißung ist also in die Rechtfertigungsbotschaft eingezeichnet und behält nur auf diesem Fundament volle Gültigkeit. Erst von dieser Tiefe aus können die wahren Impulse des Neuen Testamentes für ein befreiendes Tun des Christen verstanden und verwirklicht werden.

Im Lichte des Neuen Bundes gibt es keine wahre gesellschaftliche Veränderung ohne die Versöhnung des Menschen mit Gott und untereinander. Eine Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse gelingt erst dann zureichend und nachhaltig, wenn die Menschen durch Umkehr und Gerechtigkeit eine „neue Schöpfung“ werden. So liegen das Wohl des Menschen und seine Befreiung nicht nur in der Dimension des „Habens“, sondern zuerst im Bereich des „Seins“, dann allerdings mit Konsequenzen für die Gestaltung aller menschlichen Lebensbedingungen.

4. Systematisch-theologische Überlegungen

a) Gott als Befreier und das befreiende Tun des Menschen

Es ist deutlich geworden, dass nicht alle alttestamentlichen Aussagen über die Befreiung ungebrochen in die neutestamentliche Situation hinein verlängert werden dürfen. Die Kontinuität der Heilsgeschichte ist durch die Offenbarung in Jesus Christus in eine Zeit der Verheißung und in eine Zeit der Erfüllung gegliedert. Was beide Testamente verbindet, ist die Überzeugung, dass Gott allein in seiner freien Souveränität sich um das wirkliche Wohl des Menschen sorgt. Er ist der einzig wahrhafte Befreier. Dies wird erst evident, wenn die Not des Menschen nicht nur auf seine ökonomisch-materiellen Bedürfnisse reduziert wird, sondern das ganze Ausmaß seiner menschlichen Gefährdung und Verlorenheit in den Blick kommt. Die Überzeugung, dass allein Gott wirklich befreit, darf jedoch nicht als eine Art Mythos (Deus ex machina) verstanden werden, die die Passivität und Lethargie bedrängter Menschen eher verstärkt. Der wahre Glaube beschönigt und rechtfertigt nicht unmenschliche Lebensverhältnisse. Gott kommt jedoch nicht im lauten Sturm der Revolution, sondern er befähigt durch seine Gnade den Geist und das Herz der Menschen, damit diese ihr Gewissen schärfen und aus lebendigem Glauben eine gerechtere Welt aufbauen. Dabei muss der ganze Mensch von allen Mächten des Bösen befreit werden. Darum gehören radikale Sinnesänderung (metanoia) und eine erneuerte Gottes- und Nächstenliebe zum Befreiungsgeschehen. Die volle Befreiung erfolgt allerdings nach christlichem Glauben nicht im Verlauf der irdischen Ereignisse, d.h. nicht innerhalb der Geschichte. Denn die Geschichte führt zu einer „neuen Erde“ und zur „Stadt Gottes“. Folglich hat bis zu dieser Vollendung alles befreiende Tun eine vorläufige Gestalt und wird beim Jüngsten Gericht (Mt 25) einer letzten Prüfung unterzogen.

Diese Gesichtspunkte dürfen nicht als Beschränkung auf eine Reform nur der Gesinnung oder als Aufruf zu nur individuellen Hilfeleistungen verstanden werden. Es gibt ja tatsächlich so etwas wie „institutionalisiertes Unrecht“, wo die Zustände selbst nach mehr Gerechtigkeit rufen und eine Reform verlangen. Viele Menschen haben heute nicht mehr die Überzeugung, dass die sozialen Strukturen einfach naturhaft vorgegeben und damit „gottgewollt“ sind. Sie sind auch nicht einfach das Ergebnis irgendwelcher anonymer Entwicklungsgesetze. Gerade der Christ wird immer wieder darauf hinweisen, dass die gesellschaftlichen Institutionen auch das Ergebnis des sozialen Bewusstseins und Gegenstand sittlicher Verantwortung sind. Es ist vielleicht problematisch, von einer „institutionalisierten Sünde“ oder von „sündigen Strukturen“ zu sprechen, da das biblische Wort „Sünde“ ursprünglich in den Zusammenhang einer ausdrücklichen personalen Freiheitsentscheidung gehört. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass durch die Macht der Sünde Unrecht und Ungerechtigkeit in die sozio-ökonomischen und in die politischen Institutionen eindringen können. Darum muss es, wie schon angedeutet, auch eine Reform ungerechter Zustände und Strukturen geben. Dies sind Zusammenhänge, die früher nicht so deutlich gesehen werden konnten. Gerechtigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang einen grundlegenden Respekt vor der gleichen Würde aller Menschen, Durchsetzung und Sicherung der elementaren Menschenrechte[7] und eine gewisse Gleichheit in der Verteilung der fundamentalen Lebenschancen [8].

b) Die konkrete Verhältnisbestimmung zwischen menschlichem Wohl und göttlichem Heil

Diese Überlegungen über die Beziehung zwischen der Rettung durch Gott und dem befreienden Tun des Menschen verlangen eine genauere Verhältnisbestimmung zwischen menschlichem Wohl bzw. Fortschritt und göttlichem Heil, Weltgestaltung und eschatologischer Vollendung. Humane Aktivität und christliche Hoffnung lassen sich, wie aus den bisherigen Argumenten hervorgeht, weder im Sinne einer völligen Trennung (mit einem reinen „Diesseits“ und einem ebenso abgeschlossenen „Jenseits“) noch als evolutionärer Optimismus begreifen, der Gottesherrschaft und menschliche Weltgestaltung in ihrem faktischen Verlauf einfach zur Deckung bringt.

So unterscheidet auch die Pastoralkonstitution Gaudium et spes zwischen dem Wachsen des Reiches Gottes und dem menschlichen Fortschritt wie zwischen dem Werk der Vergöttlichung und dem Werk der Vermenschlichung, wie zwischen der Ordnung der göttlichen Gnade und der Ordnung des menschlichen Wirkens[9]. Zuerst ist von der Nähe beider zueinander die Rede: Der irdische Dienst an den Menschen bereitet die „Materie des Reiches Gottes“ (GS 38). Wir werden die Ergebnisse unserer Bemühungen – gereinigt von jedem Makel, lichtvoll und verklärt – im Reiche Gottes wiederfinden, so dass nicht nur die Liebe bleibt (1 Kor 13,8), sondern auch ihr „Werk“ (GS 39). Die eschatologische Hoffnung muss darum den Strukturen des „weltlichen Lebens“ (vita saecularis) eingeprägt werden (LG 35). So ist nicht nur vom Abbruch dieser Welt die Rede, sondern von ihrer Transformation (GS 38; 39). Zwischen der irdischen und der himmlischen Stadt muss es eine gegenseitige Durchdringung geben, die vom Glauben geleitet wird und zugleich Unterscheidung sowie Harmonie darstellt (LG 36). Eine gewisse Zusammenfassung findet sich im Dekret über das Laienapostolat Apostolicam actuositatem: „Das Erlösungswerk Christi zielt an sich auf das Heil der Menschen, es umfasst aber auch den Aufbau der gesamten zeitlichen Ordnung. Darum besteht die Sendung der Kirche nicht nur darin, die Botschaft und Gnade Christi den Menschen nahe zu bringen, sondern auch darin, die zeitliche Ordnung mit dem Geist des Evangeliums zu durchdringen und zu vervollkommnen. [...] Beide Ordnungen [die geistliche und die zeitliche], die man gewiss unterscheiden muss, sind in dem einzigen Plan Gottes so verbunden, dass Gott selbst in Christus die ganze Welt als neue Schöpfung wiederaufnehmen will im Keim hier auf Erden, voll­endet am Ende der Tage“ (AA 5, vgl. auch 7).

Von diesen Texten her legt es sich nahe, den Einsatz für die Gerechtigkeit und die Teilnahme am Transformationsprozess der Welt „gewissermaßen eine ‚ratio constitutiva‘ der Verkündi­gung des Evangeliums“ zu nennen[10]. Dieser Ausdruck ratio constitutiva ist bis heute umstritten, wobei sein genauerer Sinn wohl eher in der Richtung eines „integrierenden Bestandteils“ (pars integrans) anstatt eines im strengen Sinne wesenskonstitutiven Elementes (pars essentialis) zu liegen scheint. Man hat die zitierten Stellen des Zweiten Vatikanischen Konzils ohnehin zumeist in ihrer Tendenz zur „Harmonie“ zwischen menschlicher Weltgestaltung und eschatologischem Heil gelesen. So ist es an der Zeit, innerhalb der Zusammengehörigkeit beider wieder entschiedener ihre Differenz zur Geltung zu bringen. Der Widerstand der irdischen Verhältnisse gegen eine positive und gute Veränderung, die Macht der Sünde und vieldeutige Wirkungen des menschlichen Fortschritts (AA 7) lehren bei aller heilsgeschichtlichen Einheit deutlicher auch den bleibenden Unterschied zwischen dem Reich Gottes und dem menschlichen Fortschritt zu sehen sowie das Geheimnis des Kreuzes, ohne das kein wahrhaft heilbringendes Wirken geschieht (GS 22; 78). Das Hervorheben der Differenz innerhalb der Zusammen­gehörigkeit hat jedoch nichts mit „Dualismus“ zu tun. Vielmehr hilft diese vertiefte Sicht, den Einsatz für das Gute und für die Gerechtigkeit mit größerer Geduld, Beharrlichkeit und Zuversicht zu bestehen, ohne an manchem vergeblichen Tun irre zu werden.

Diese Einheit der Zusammengehörigkeit und Differenz im Verhältnis von menschlichem Wohl und christlichem Heil muss in ihrer konkreten Form sicher noch genauer durchdacht werden, was zweifellos zu den wichtigsten Aufgaben der heutigen Theologie gehört. Die grundsätzliche Struktur dieser Einheit kann jedoch nicht überholt werden, da sie im Zentrum der Sache selbst begründet ist. Einerseits ist nämlich die konkrete Geschichte in gewissem Sinne der Ort, wo die Welt so von innen her und radikal transformiert wird, dass sie bis in das Geheimnis Gottes selbst hineinreicht. Darum bleiben auch die Liebe und ihre Früchte. Nicht zuletzt dadurch wird das Moment der Zusammengehörigkeit von Wohl und Recht mit dem Heil ermöglicht. Aber es gibt keine volle Zusammengehörigkeit, weil die eschatologische Vollendung die konkrete Geschichte auch „aufhebt“. Andererseits kommt das Reich Gottes, welches die Geschichte führt und alle innergeschichtlichen Vollendungsmöglichkeiten absolut überschreitet, als Tat Gottes selbst. Dies schafft einen Bruch zu unserer Welt – auch wenn sie noch so vollkommen wäre. Diese Diskontinuität wird in der individuellen Geschichte als Tod erfahren, sie betrifft aber als „Verwandlung“ die ganze Geschichte, nämlich in dem, was man „Untergang“ der Welt nennt. Die „Dialektik“, die in diesen beiden nicht aufeinander zurückführbaren Grundsätzen zum Ausdruck kommt, kann und darf auf der Ebene der Geschichte nicht aufgehoben oder beseitigt werden. Vor allem die noch ausstehende eschatologische Vollendung („eschatologischer Vorbehalt“) ist der Grund, warum das Verhältnis zwischen dem Reich Gottes und der Geschichte weder als Monismus noch als Dualismus beschrieben werden kann. So muss diese Verhältnisbestimmung von ihrem Wesen her in einer gewissen Schwebe bleiben. Der Bezug der eschatologischen Heilsbotschaft zur Gestaltung der geschichtlichen Zukunft kann nicht eindeutig und einlinig, d.h. entweder nur von der Harmonie oder nur von der Differenz her, bestimmt werden. Vielleicht lässt sich auch so das Wort des Herrn bei Lukas deuten: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es an äußeren Zeichen erkennen könnte. Man kann auch nicht sagen: Seht! Hier ist es! Oder: Dort ist es! Denn das Reich Gottes ist schon mitten unter euch“ (Lk 17,21f.). Die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute weist auf eine weitere Konsequenz dieses Grundverhältnisses zwischen Geschichte und Heil hin: „Den Zeitpunkt der Vollendung der Erde und der Menschheit kennen wir nicht, und auch die Weise wissen wir nicht, wie das Universum umgestaltet werden soll“ (GS 39).

Dies ist eine formale Lösung unseres Problems, die sich durch die Grunddaten der Offenbarung nahelegt. In der konkreten Verwirklichung dieses Verhältnisses lassen sich jedoch verschiedene Ausgestaltungen dieser Beziehung feststellen, die schwerpunktartige Lösungsmodelle mit sich bringen. In der Entscheidung über die geschichtlich bedingte Ausbalancierung dieser Verhältnisbestimmung wird es z.B. heute in den Ländern der Ersten, Zweiten und Dritten Welt verschiedene Akzente geben können und müssen. Was für die hochindustrialisierten Länder Europas und Nordamerikas gilt, kann nicht dieselbe Bedeutung haben für Kontinente und Gegenden, deren Bevölkerung zum größten Teil unterernährt ist. Bei allen verschiedenen Akzentsetzungen darf das aufgezeigte Grundverhältnis zwischen Wohl und Heil jedoch nicht prinzipiell verletzt werden. Dafür gibt es unmissverständliche Kriterien. Wenn z.B. die gesellschaftlich-politische Befreiungspraxis so dominiert, dass der Kult und das Gebet, die Eucharistie und die übrigen Sakramente, die Individualethik und alle Fragen nach der letzten Bestimmung des Menschen (Tod, ewiges Leben) und das dramatische Ringen in der Geschichte gegen die Mächte der Finsternis (GS 13) in Verkündigung und Theologie übergebührlich in den Hinter­grund geraten, dann ist das aufgezeigte Grundverhältnis gestört. In einer Situation der Armut und Ungerechtigkeit müssen diese Wahrheiten des christlichen Glaubens jedoch so verkündigt und gelebt werden, dass sie nicht den oft erhobenen Einwand bestätigen, die Kirche verdecke das Elend der Menschen und beschwichtige die Armen in ihrer realen Not. Wahrer Trost und schlechte Vertröstung, die nur stumpf macht, sind zwei ganz ver­schiedene Dinge.

c) Das Verhältnis von Wohl und Heil und die Sendung der Kirche

Die Hervorhebung der Bedeutung der Kirche für die Welt von heute hat auch das Bewusstsein geschärft, dass die kirchliche Gemeinschaft immer in einer konkreten Situation lebt, in der politische Optionen vorgegeben sind. Auch wenn die Kirche eine Gemeinschaftsbildung eigener Art ist, darf sie nicht vergessen, dass sie ständig im Spannungsbereich von politischen Herrschaftsansprüchen, konkreter Machtausübung und der dazugehörigen Ideologien lebt. Die Kirche, die „an keine Rasse oder Nation, an keine besondere Art der Sitte, an keinen alten oder neuen Brauch ausschließlich und unlösbar gebunden“ ist (GS 58, vgl. LG 9; GS 42), darf aufgrund ihres Ursprungs, ihres übernatürlichen Wesens, ihrer religiösen Sendung und ihrer eschatologischen Hoffnung mit keinem gesellschaftlich-politischen System verwechselt und auch nicht mit einem solchen notwendig und endgültig identifiziert werden. So wenig die Kirche sich in das Netzwerk politischer Machtansprüche verstricken darf, so wenig darf sie sich einem reinen Neutralismus und Indifferentismus überlassen und sich in einen völlig apolitischen Bereich zurückziehen. In nicht wenigen Ländern der Welt wird die Kirche heute allerdings in ihren Wirkmöglichkeiten stark eingeschränkt, so dass sie ihr Glaubenszeugnis oft in anderen Formen – sicher nicht weniger prophetisch! – leistet; unter ihnen ragen das Leiden in der Nachfolge unseres Herrn und das durch Gewalt erzwungene Schweigen besonders hervor. Die Kirche darf nicht dem Kalkül der politischen Mächte verfallen, aber sie muss das Bewusstsein für die politischen Folgen ihrer eigenen Aktivitäten und ihrer Unterlassungen wach halten. Sie kann sich auch mitschuldig machen, wenn die Situation der Armen, Unterdrückten und unter Ungerechtigkeit Leidenden nicht aufgedeckt, viel­mehr verschleiert wird und unverändert bleibt. So muss die Kirche am Beispiel der alttestamentlichen Propheten ihr Gewissen für eine Sozialkritik aus dem Glauben neu schärfen. Sie muss solidarisch mit den Armen in allen Bedeutungen dieses Wortes sein. Darin eingeschlossen sind z.B. alle, die sich in einer geistigen, psychischen und materiellen Notlage befinden. Die wirksame Hilfe für diese Armen zu sichern, gehört von alters her zu den vornehmsten Aufgaben der Kirche und aller ihrer Mitglieder. Heute ist dieser Einsatz zu einem hervorragenden Zeugnis des gelebten Glaubens und für viele außerhalb der Kirche auch zu einem kaum überschätzbaren Kriterium der Glaubwürdigkeit der Kirche geworden.

Der Aufbau und die Gestaltung der gesellschaftlich-politischen Ordnung ist in besonderer Weise den Laien aufgetragen[11]. Die ganze Kirche – in besonderer Weise vertreten durch die Dienstämter des Papstes, der Bischöfe, Priester und Diakone – darf jedoch in jenen politischen Situationen nicht schweigen, in denen die Menschenwürde und elementare Menschenrechte grundsätzlich mit Füssen getreten werden. Unter diesen Voraussetzungen kann es für die ganze Kirche durchaus die Pflicht zu dezidierter und entschiedener Stellungnahme geben. In vielen konkreten Einzelfragen besteht jedoch unter den Christen die Möglichkeit, in freier Wahl zwischen verschiedenen Wegen zum gemeinsamen Ziel zu entscheiden (vgl. ausführlicher GS 43). Darum lassen sich unter den Christen verschiedene Konflikte im Bereich sozial-politischer Probleme nicht vollständig vermeiden. „Entscheiden Christen sich für verschiedene Wege und erscheinen daher auf den ersten Blick als Gegner, so erwartet die Kirche von ihnen, dass sie sich mit gutem Willen und in gegenseitiger Achtung um Verständnis für die Meinung des anderen und die von ihm dafür geltend gemachten Gründe bemühen“[12]. Ohne unterschiedliche Standorte zu verwischen, darf es niemand unterlassen, sich durch Überzeugung und Ermahnung um das gemeinsame Ziel zu mühen. Bei allen Meinungs­verschiedenheiten dürfen die Christen eine wichtige Maxime des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht vergessen: „Was die Glaubenden eint, ist stärker als das, was sie trennt“ (GS 92).

Eine schwere Gefährdung der Einheit der Kirche ergibt sich vor allem, wenn bestehende Klassenunterschiede zu einem prinzipiellen System des Klassenkampfes fixiert werden. Wo Klassengegensätze existieren, lassen sich Konflikte kaum vermeiden. Der Christ wird vor allem daran erkannt, wie er solche Konflikte löst, indem er nicht Gewalt durch Gewalt zu beseitigen propagiert, sondern z.B. durch Bewusstseinsbildung, Argumentation und gewaltfreie Aktionen eine Veränderung zu erzielen sucht. (Hier können selbstverständlich weitere Einzelfragen über Gewalt und Gewaltanwendung nicht ausführlicher behandelt werden.) Christen können auf das entscheidende Ziel der Versöhnung nicht verzichten. Die sozial-politischen Gegensätze dürfen keinen absoluten Rang einnehmen, so dass z.B. Christen unterschiedlicher Position grundsätzlich nicht mehr miteinander Eucharistie feiern oder sich gegenseitig von der Eucharistie ausschließen. Die politische Option darf nicht so militant werden, dass sie die Universalität der christlichen Heilsbotschaft verletzt, die allen Menschen verkündet werden soll, auch den Reichen und den Unterdrückern. Die Kirche darf keinen Menschen von ihrer Liebe ausschließen. Gerade sie muss immer wieder den Prozess der Entabsolutisierung des Politischen in Erinnerung rufen und fördern. Eine exklusive politische Option, die keine andere Wahl duldet, wird totalitär und zerstört auch das Wesen des Politischen. Es gehört zur unverzichtbaren Pflicht der Kirche, dass sie einem totalitären Anspruch des Staates auf die ausschließliche Gestaltung aller Lebensbereiche allein durch ihn widerspricht. Sie kann sich in solchen Situationen manchmal nur schwer oder gar nicht öffentlich äußern. Sie erfüllt ihre Aufgabe jedoch auf eine hervorragende Weise, wenn sie in der Nachfolge ihres Herrn eine solche Situation in mutigem Protest und in stummem Leiden und vielleicht sogar in den vielfältigen Formen des Martyriums auf sich nimmt. Die christliche Befreiung zur Freiheit kann auch in so bedrückenden Situationen nicht vollständig verhindert werden. Dies ist unser größter Trost und unsere stärkste Zuversicht.

SCHLUSS

Bei der Behandlung dieser Fragen wird die unterschiedliche Situation der Ortskirchen innerhalb der katholischen Kirche besonders auffällig und bedrängend. Das Gewicht der sozialen, kulturellen und politischen Unterschiede kann manchmal so groß werden, dass die uns im Glauben gemeinsame Einheit und Mitte die Zerreißproben nicht mehr zu bestehen scheint. Auch wir haben die unterschiedliche Situation der Völker in unseren Gesprächen deutlich gespürt. Keiner spricht jedoch in der Kirche für sich allein. Darum müssen alle die Schreie unserer ungerecht behandelten und leidenden, armen und hungernden Brüder auf der ganzen Welt hören. Wir müssen auch darin voneinander lernen, dass wir jene irrigen Lösungen, die in der Geschichte der Kirche und der menschlichen Gesellschaften schon schmerzlich erlitten worden sind, nicht an anderer Stelle nochmals wiederholen (z.B. eine Divinisierung des Politischen). Der Geist Jesu Christi hält uns in diesem Bemühen zusammen. Die Einheit und Katholizität der Kirche in der Vielfalt ihrer Völker und Kulturen ist uns dabei Gabe und Forderung zugleich. Was mühsam erworben worden ist, darf nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Dies gilt besonders für alle Fragen des Verhältnisses zwischen menschlichem Wohl bzw. Fortschritt und christlichem Heil.



[1] Vgl. Paul VI., Evangelii nuntiandi 30–38.

[2] Vgl. auch GS 39.

[3] Vgl. GS 10; 11; 57; 59; 61; AG 8; vgl. auch Paul VI., Populorum progressio 15–16.

[4] Vgl. GS 22; 26; 38; 41; 57; DH 12.

[5] Vgl. auch I. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Dei Filius (DH 3005).

[6] Vgl. I. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Dei Filius (DH 3005).

[7] Vgl. das Arbeitspapier der Päpstlichen Kommission „Justitia et Pax“: The Church and Human Rights, Vatican City 1975; deutsche Übersetzung: Die Kirche und die Menschenrechte (= Entwicklung und Frieden. Dokumente, Berichte, Meinungen, Band 5), München-Mainz 1976.

[8] Vgl. Paul VI., Populorum progressio 21.

[9] Vgl. GS 36; 38; 39; 40; 42; 43; 58; AA 7.

[10] Vgl. das Dokument De iustitia in mundo, Synodus episcoporum 1971, Typis Polyglottis Vaticanis 1971, Prooemium, 5: „tamquam ratio constitutiva praedicationis Evangelii“; deutsche Ausgabe: Römische Bischofssynode 1971, Der priesterliche Dienst. Gerechtigkeit in der Welt, hg. v. der Deutschen Bischofskonferenz, Trier: Paulinus-Verlag 1972, 86.

[11] Vgl. AA 7; LG 31; 37; GS 43.

[12] Paul VI., Octogesima adveniens 50.

 

top